Afghanistan vor neuem Stellvertreterkrieg?

Am Flughafen von Kabul (hier noch von einem US-Soldaten bewacht) soll künftig die Türkei für Sicherheit sorgen – nur einer der Reibungspunkte, an denen sich der Krieg in Afghanistan weiter ausdehnen könnte. (© imago images/photothek)
Am Flughafen von Kabul (hier noch von einem US-Soldaten bewacht) soll künftig die Türkei für Sicherheit sorgen – nur einer der Reibungspunkte, an denen sich der Krieg in Afghanistan weiter ausdehnen könnte. (© imago images/photothek)

Seit dem Beginn des Abzugs der USA und ihrer NATO-Verbündeten aus Afghanistan versuchen der Iran und die Türkei, das in dem asiatischen Land entstandene Vakuum zu füllen. Da sie aber unterschiedliche Interessen verfolgen, droht ein neuer Konflikt zwischen den beiden Ländern – der sogar in einen Stellvertreterkrieg münden könnte.

Die Vereinigten Staaten beschleunigen ihren Rückzug aus Afghanistan, der bis zum 11. September abgeschlossen sein soll, nachdem Verbündete wie Deutschland ihren Rückzug bereits beendet haben. Auf dem Schlachtfeld scheinen die Taliban unterdessen weitgehend ungehindert vorzudringen und erobern eine Provinzhauptstadt nach der anderen.

Angesichts dieser sich verschlechternden Sicherheitslage vereinbarten Washington und die Türkei, dass Ankara nach dem Abzug der USA die Sicherheitsverantwortung in Afghanistan und insbesondere die Sicherung des Flughafens von Kabul übernehmen würde.

Die Türken sehen diese Mission als Chance, die zur Verbesserung des spannungsgeladenen Verhältnisses mit Washington beitragen und ein Standbein für den türkischen Einfluss in Zentralasien beitragen kann.

In vielen Medienberichten wird davon ausgegangen, dass das Trio Pakistan, Iran und Türkei nach dem Abzug der Amerikaner in Afghanistan die Oberhand haben wird, einerseits aufgrund der geografischen Lage und der gemeinsamen Grenzen zwischen Afghanistan und Pakistan bzw. dem Iran, andererseits wegen der militärischen Präsenz der Türkei im Land.

Afghanistan ist für die Türkei von einiger strategischer Bedeutung, doch bringt es auch eine Reihe von Herausforderungen mit sich – darunter nicht zuletzt der Umgang mit dem Iran. Auch wenn sich Teheran bisher nicht zur türkischen Präsenz in Afghanistan geäußert hat, heißt das nicht, dass sie diese befürwortet oder auch nur akzeptiert. Beobachtern zufolge betrachtet der Iran die Existenz türkischer Truppen an seinen Grenzen vielmehr mit wachsender Sorge.

Vorbild Irak

Während die Türkei versucht, sich durch eine offizielle Militärpräsenz und ein Abkommen mit den Vereinigten Staaten Einfluss in Afghanistan zu sichern, greift der Iran in dem Bemühen, in seinem östlichen Nachbarland Fuß zu fassen, auf ein gleichermaßen bekanntes wie bewährtes Drehbuch zurück.

Vor einigen Wochen berichtete die iranische Zeitung Jomhouri Eslami, die zum Hardliner-Flügel des iranischen Regimes gehört, über das Entstehen einer bewaffneten Gruppe in Afghanistan, die von Teheran unterstützt wird. Etwas Ähnliches hatte im Irak stattgefunden, nachdem der Islamische Staat 2014 große Teile des Landes unter seine Kontrolle gebracht hatte.

Die iranische Zeitung berichtete, dass die von Iran unterstützte Miliz namens „Schiitische Mobilisierung“ in Kabul aufgetaucht sei und sich auf den Kampf gegen die sunnitische Taliban-Bewegung vorbereite. Die Miliz sei ein Ableger der vom Iran unterstützten Fatemiyoun-Brigade, die seit 2013 in Syrien kämpft und aus schiitischen Flüchtlingen sowie Angehörigen der schiitischen Minderheit der Hazara in Afghanistan rekrutiert wird.

Beim Anführer dieser neuen Miliz soll es sich um Hassan al-Haidari handeln, der in der Vergangenheit auch bewaffnete Gruppen im Irak angeführt hat.

Beobachter der Entwicklung in Afghanistan befürchten, dass der Iran Tausende von Kämpfern der Fatimiyoun nach Afghanistan schicken wird, um sich in den afghanischen Krieg einzumischen, insbesondere in den konfessionell gemischten Gebieten des Landes.

Laut dem Forscher Jawhar Talbi, der afghanischen Entscheidungsträgern im Sicherheits- und Militärbereich nahesteht, befürchten die afghanischen Behörden, dass dies nur der erste Schritt des iranischen Versuchs sei, auf afghanischem Boden schiitische Milizen zu organisieren.

Er erklärt: „Befürchtet wird, dass der Iran die Gebiete, in denen sich Schiiten in Afghanistan aufhalten, in unter seiner Kontrolle stehende territoriale Einheiten zu verwandeln versucht, wie es die Hisbollah im Libanon oder die Huthis im Jemen getan haben. Besonders besorgt ist man um die Hauptstadt Kabul und die Provinz Bamiyan.“

Die afghanische Regierung lehnt das Vorgehen des Irans auf ihrem Boden ab, wie der Leiter des afghanischen Geheimdienstministeriums, Qassem Wafaizadeh, kürzlich in Presseerklärungen sagte: „Mit diesen Aktionen verleiht das iranische Regime dem Afghanistankrieg eine größere Dimension, dessen Feuer sich ausweiten und bis in das iranische Hoheitsgebiet hineinwirken kann.“

Generell sieht der Iran das von Washington hinterlassene Vakuum in Afghanistan als Chance und Herausforderung zugleich und versucht, seinen eigenen Einfluss zu stärken und sicherzustellen, dass Kabul nicht zu einer Quelle der Bedrohung für das iranische Territorium wird. Ein Zusammenstoß mit den Interessen der Türkei, die ihrerseits Einfluss im Land am Hindukusch geltend machen will, ist alles andere als ausgeschlossen.

Ein Stellvertreterkrieg?

Der Nahost-Forscher Mustafa Salah erklärt gegenüber Mena-Watch, dass Afghanistan aufgrund seiner großen Bedeutung als Ausgangspunkt für den Einfluss in der zentralasiatischen Region eines der Schlüsselländer für die Gestaltung der türkisch-iranischen Beziehungen sei.

„Nachdem die Vereinigten Staaten den Abzug angekündigt haben, sind die Möglichkeiten für ein türkisches und iranisches Engagement in Afghanistan gestiegen“. Er fügt hinzu: „Seit der Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken hat die Türkei versucht, ihre Beziehungen zu diesen zu stärken. Der Ausbau des türkischen Einflusses in Afghanistan ist Teil dieser regionalen Strategie.

Obwohl die Türkei keine geografischen Grenzen zu Afghanistan hat, kann sie aus mehreren Gründen Einfluss auf dieses Land nehmen: Sie das einzige islamische Land ist, das Mitglied der NATO ist; sie hat ethnische und kulturelle Beziehungen zu den Usbeken, die eine der wichtigsten Ethnien Afghanistans sind, und es ist der von einer islamistischen Partei regierten Türkei bemerkenswert gut gelungen, enge Beziehungen sowohl zur Regierung, als auch zur Opposition aufzubauen – einschließlich der Taliban.“

Allerdings betrachten die Taliban die türkische Militärpräsenz in Afghanistan als einen Verstoß gegen das Doha-Abkommen von 2020, demzufolge sich die türkischen Streitkräfte als Teil der NATO-Truppen vollständig zurückzuziehen hätten.

Die Taliban lehnen auch das Angebot der Türkei zur Bewachung des Flughafens von Kabul ab und weisen darauf hin, dass die Sicherheit des Flughafens in die Zuständigkeit der Afghanen falle. Türkische Soldaten könnten zum Ziel von Angriffen der Taliban werden, was Salah zufolge zu noch größerem Chaos und größerer Instabilität führen würde.

Salah zufolge steigt die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes zwischen der Türkei und dem Iran, und das wäre womöglich nur die erste Stufe einer weiteren Eskalation. Denn sollte die Türkei wirklich mit den Taliban zusammenkrachen, könnte das auch zu einem Konflikt mit Pakistan führen, das vom Anbeginn an die Taliban unterstützte und die Islamisten bis heute fördert.

Am Ende einer solchen Entwicklung könnte die Aufteilung Afghanistans stehen, wobei die Taliban nur einen Teil des Landes kontrollieren würden, während andere Gebiete unter dem Einfluss ausländischer Mächte stünden.

Das vom westlichen Abzug geschaffene Sicherheitsvakuum in Afghanistan könnte so dazu führen, dass das Land sogar in noch größerem Ausmaß als bisher zum Schauplatz regionaler Konflikte wird – inklusive möglicher neuer Stellvertreterkriege, wie sie in den vergangenen Jahren schon andere Länder im Nahen Osten erschüttert haben.

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