Was ist der Anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages wert, wenn auf der mit öffentlichen Mitteln finanzierten Documenta israelfeindliche Künstler schalten und walten können? Denen geht es schließlich nicht um Kritik an israelischer Regierungspolitik, sie zielen vielmehr auf die Existenz des jüdischen Staates. Für vermeintlich Weltoffene ist das ein Ausdruck von Kunstfreiheit und Vielfalt.
Die Diskussion über antisemitische Tendenzen im Kontext der internationalen Kunstschau Documenta, die ab Mitte Juni zum 15. Mal in Kassel zu sehen sein wird, findet eine rege Fortsetzung.
Ausgelöst wurde sie durch eine umfängliche Recherche des Bündnisses gegen Antisemitismus (BGA) in dieser Stadt, bei der es insbesondere um die Beteiligung von Künstlern, Künstlergruppen und Verantwortlichen geht, die die gegen Israel gerichtete, antisemitische Boykottbewegung BDS unterstützen.
Dazu gehören unter anderem zwei Aktivisten des indonesischen Kollektivs Ruangrupa, das mit der künstlerischen Leitung der Documenta beauftragt ist, zwei Mitglieder des Documenta-Beirats und die Sprecher einer eingeladenen palästinensischen Künstlergruppe, die wiederum einem Kulturzentrum entstammt, dessen Namensgeber ein Anhänger des Nationalsozialismus und glühender Antisemit war.
Die Documenta selbst hat inzwischen mit einer Stellungnahme reagiert, deren Tenor lautet: Die Welt ist kompliziert, wir stehen zur besonderen deutschen Verantwortung, die sich aus der Geschichte ergibt, und sind gegen Rassismus und Antisemitismus. Vor allem aber wollen wir eine uneingeschränkte Meinungs- und Kunstfreiheit, alles Weitere besprechen wir auf einem Expertenforum.
Auch der Vorstand des Documenta Forum Kassel, das ist der Freundeskreis der Documenta, hat sich geäußert: Er bezieht sich explizit positiv auf die »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«, die sich bekanntlich gegen den Anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2019 richtet, weil sie glaubt, dieser führe zu Ausgrenzung und gefährde die Freiheit von Kunst und Wissenschaft.
In keinem der beiden Statements wird auch nur andeutungsweise geäußert, dass zur besonderen Verantwortung die Verteidigung des Existenzrechts Israels gehört und dass man einen Boykott des jüdischen Staates ablehnt. Mit Blick auf die Erklärung des Documenta-Freundeskreises konstatiert Julia Encke in der FAZ deshalb zu Recht:
»Damit haben die Verfasser der Presseerklärung eine eindeutige Positionierung unternommen: Niemand, auch wenn er BDS unterstützt, darf unter Druck gesetzt oder gar ausgeladen werden.«
Was ist der Anti-BDS-Beschluss des Bundestages wert?
Das aber tangiert den Bundestagsbeschluss, in dem klar festgehalten worden ist, dass die Äußerungen und Aktivitäten der BDS-Kampagne keine Kritik am israelischen Regierungshandeln sind, sondern schlicht Antisemitismus. Wer sich zu den Zielen von BDS bekennt, soll nach diesem Beschluss nicht mit öffentlichen Geldern gefördert werden.
Die Documenta aber wird aus öffentlichen Mitteln finanziert. Nun ist der Beschluss des Bundestages zwar kein Gesetz, sondern nur eine Handlungsempfehlung; gleichwohl beeinflusst er in konkreten Fällen die Vergabe staatlicher Zuwendungen.
»Nimmt man ihn ernst, müsste Kulturstaatsministerin Claudia Roth alle Künstler, die sich zum BDS bekennen, ausladen lassen«, schlussfolgert Niklas Maak in der FAZ. »Ignorierte sie den Beschluss, wäre er faktisch aufgehoben.« Seine Kollegin Encke ist der gleichen Ansicht und gibt zu bedenken: »Das würde viel darüber aussagen, wie ernst es Deutschland und der neuen Regierung mit den Bekenntnissen zum Antisemitismus ist.«
Roth, die den Bundestagsbeschluss seinerzeit abgelehnt hat, sagte nach einer Beratung mit den Trägern der Documenta, dem Bundesland Hessen und der Stadt Kassel lediglich, sie begrüße den Vorschlag für ein internationales Forum.
Letztlich setzt die Diskussion über BDS-Sympathien und (israelbezogenen) Antisemitismus bei der Documenta die Debatte über den Postkolonialismus fort, wie sie nicht zuletzt entlang der äußerst kritikwürdigen Positionen des kamerunischen Philosophen und Historikers Achille Mbembe zum jüdischen Staat, zur Shoa, zur BDS-Bewegung und zur Apartheid geführt wurde.
Mbembe war es auch, der als Einziger in der Erklärung der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« als Beispiel für »wichtige lokale und internationale Stimmen« genannt wurde, die angeblich »aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen«. Dabei kamen sowohl Mbembe selbst als auch seine Verteidiger in der vor allem im Frühjahr und Sommer 2020 geführten Diskussion ausführlich zu Wort, auch in großen Medien.
Es geht nicht um Kritik, sondern um die Existenz Israels
Schon damals machten jene, die sich für Mbembe und seine Einladung als Redner auf dem – schließlich wegen der Corona-Pandemie abgesagten – Kulturfestival Ruhrtriennale einsetzten, geltend, dass Menschen aus dem globalen Süden und dem Nahen Osten nun mal anders über Israel dächten, als das in Deutschland der Fall sei.
Auch jetzt, anlässlich der Documenta, heißt es wieder, wer mit diesen Menschen ins Gespräch kommen wolle, müsse nun mal hinnehmen, dass sie »kritischer« gegenüber Israel seien. So hat es etwa Elke Buhr, die Chefredakteurin der Zeitschrift Monopol – Magazin für Kunst und Leben, in der Fernsehsendung Kulturzeit formuliert. Draufhin fragte Ulrich Gutmair in der taz.
»Ach so: Es gibt gar keinen Unterschied zwischen Kritik an israelischer Politik und der Agenda, den jüdischen Staat zu zerstören?«
Zu Recht, denn ein Aktivist wie Yazan Khalili, einer der Sprecher der nach Kassel eingeladenen palästinensischen Künstlergruppe The Question of Funding, fordert beispielsweise in seinem Text »The Utopian Conflict«, die Existenz des jüdischen Staates zu beenden. Erst dann sei die BDS-Bewegung am Ziel, außerdem diene das auch der »jüdischen Emanzipation«.
Solche Forderungen und Positionen sind keine Kritik an irgendeiner israelischen Politik, sondern ein Aufruf zur Zerstörung Israels.
Soll das auch ein Ausdruck von »kultureller Vielfalt«, der »Anerkennung von Differenz« und von »aus der nichteuropäischen Welt vorgetragenen gesellschaftlichen Visionen« sein, wie sie die »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« in ihrer Erklärung beschworen hat, der sich der Vorstand des Documenta Forum Kassel nun ausdrücklich angeschlossen hat?
Soll das eine »kritische Reflexion der gesellschaftlichen Ordnungen« darstellen und für eine »Öffnung für alternative Weltentwürfe« sprechen, auch wenn ein jüdischer Staat in einem solchen Weltentwurf keinen Platz hat? Ist es das, was man in solchen Kreisen für Weltoffenheit hält?
»Israel ist für Juden eine Lebensversicherung«
Die Initiative dieses Namens hat sich seinerzeit, also Ende des Jahres 2020, bei Andreas Görgen »für fachlichen Rat und Diskussionsbeiträge« bedankt. Görgen war damals Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, nun ist er der Amtsleiter von Claudia Roth.
Auch angesichts dieser personellen Konstellation ist nicht ernsthaft zu erwarten, dass vonseiten der neuen Bundesregierung so etwas wie Druck auf die Verantwortlichen der Documenta ausgeübt wird. Tatsächlich wäre damit der Bundestagsbeschluss zur BDS-Bewegung kaum noch das Papier wert, auf dem er steht.
Ohnehin wird er zunehmend ausgehöhlt, zuletzt durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, das besagt, dass die Stadt München der BDS-Bewegung im Jahr 2018 einen städtischen Saal für eine Podiumsdiskussion hätte vermieten müssen. Die Stadt München hatte das unter Berufung auf einen Beschluss des Stadtrats zur BDS-Bewegung abgelehnt.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland kritisierte das Urteil und argumentierte, das Gericht habe zu wenig berücksichtigt, dass die BDS-Bewegung antisemitische Züge trage und Antisemitismus schüre. Der Präsident des Zentralrats, Josef Schuster, sagte nun anlässlich des Shoa-Gedenktages:
»Vor allem muss der israelbezogene Antisemitismus stärker als bisher bekämpft werden. Israel ist für Juden eine Lebensversicherung. Daher müssen gesetzliche Möglichkeiten geschaffen werden, um dem BDS-Beschluss des Bundestags Rechnung zu tragen.«
Davon ist die Politik jedoch weit entfernt. Von der Solidarität mit dem jüdischen Staat und der Beteuerung, dessen Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson, bleibt oft nicht viel übrig, wenn es um praktische Konsequenzen geht.
Und wenn die Documenta israelische Künstler einlüde?
Dabei müsste Claudia Roth die Documenta noch nicht einmal zur Ausladung von Künstlern oder Künstlergruppen drängen, die sich mit der BDS-Bewegung und deren Forderungen gemein machen. Sie müsste eigentlich nur einen Vorschlag aufgreifen, den Ayala Goldmann in der Jüdischen Allgemeinen unterbreitet hat. Goldmann schreibt:
»Es wäre […] mehr als naheliegend, bei der documenta 15 nicht nur erinnerungspolitisch oder im Rahmen von Foren zu diskutieren, sondern auch israelische Künstler (und zwar keine BDS-Aktivisten) einzuladen – zumal die Auswahl der Teilnehmer nicht abgeschlossen ist.
Dann müssten die Boykott-Fans Farbe bekennen: Weigern sie sich, mit Israelis zusammenzuarbeiten, kann auf ihre Teilnahme an einer mit deutschem Geld finanzierten Ausstellung getrost verzichtet werden.«
Es wäre abzusehen, was nach der Einladung von Israelis, die BDS ablehnen, geschehen würde. Für die Ruangrupa kam und kommt das vermutlich schon aus diesem Grund nicht in Betracht. Und für Claudia Roth? Sie wollte ja in der Besprechung mit den Documenta-Verantwortlichen »das Problembewusstsein schärfen«. Der Vorschlag liegt auf dem Tisch.