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Documenta: Antisemitismus differenziert betrachten

Die Verantwotlichen der Documenta gehen jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit Antisemitismus aus dem Weg
Die Verantwotlichen der Documenta gehen jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit Antisemitismus aus dem Weg (© Imago Images / serienlicht)

Der Documenta-Berater Anselm Franke wirft im Monopol-Magazin ein paar Nebelkerzen, um die wohl antisemitischste Kunstschau auf deutschem Boden seit 1945 reinzuwaschen.

Bei der documenta fifteen ist man inzwischen ein wenig kleinlauter geworden, tritt vorsichtiger auf und gibt sich reflektiert, was alles kein Wunder ist angesichts der nicht abreißenden Skandale und ihres Missmanagements. Erst jüngst wieder fand darüber Sascha Lobo im Spiegel, der die Kunstausstellung ja schon vor Wochen treffend in »Antisemita« umgetauft hatte, sehr deutliche Worte und forderte: »Macht die documenta fifteen, die wohl antisemitischste Kunstschau auf deutschem Boden seit 1945, zu – sofort.«

Wenn nun also das Monopol Magazin für Kunst und Leben, das bis kurz vor ihrer Eröffnung partout keinerlei Antisemitismus auf der Documenta entdecken wollte, nun einen der Kuratoren interviewt, versucht man doch gemeinsam etwas leiser aufzutreten und das natürlich sehr, sehr differenziert.

So klagt der Kurator Anselm Franke dann auch, kaum kommt das Gespräch auf das leidige Thema zu sprechen, es werde von den anderen »nicht genügend differenziert«. Sicher das Bild von Rariq Padi sei antisemitisch – das mag inzwischen wirklich niemand mehr in Frage stellen – aber eben doch singulär, »andere Verdächtigungen« hätten sich nicht bestätigt. Das Interview erschien wohlgemerkt, NACHDEM Sascha Lobo im Spiegel und Jakob Baier in der taz um nur zwei Beispiele zu nennen, sich mit jenen unseligen Filmen befassten, die schon vor Wochen an dieser Stelle von mir skandalisiert worden waren.

Wenig überzeugend

Unter den tausenden Exponaten in Kassel sind antisemitische zweifelsohne in der absoluten Minderzahl – um einen Einzelfall handelt es sich bei dem Taring-Padi-Bild nun allerdings keineswegs. Wer so etwas als Kurator nach wochenlangen Diskussionen weiter behauptet, sagt also schlicht und auch wider besseres Wissen die Unwahrheit. Und auch Frankes nachfolgenden Differenzierungen sind wenig überzeugend:

»Man kann sich in Deutschland nicht von der eigenen Antisemitismusgeschichte reinwaschen, indem man sie auf andere projiziert, etwa auf die palästinensischen Teilnehmer der Documenta. Das war im Januar bei den anfänglichen Vorwürfen der Fall.

Denn Menschen, die in den israelisch besetzten Gebieten Jahrzehnte unter einer Militärherrschaft leben und denen grundlegende Rechte vorenthalten werden, haben nun mal andere Motive zu einem Boykott aufzurufen als die Nationalsozialisten: Der grundlegende Unterschied ist, dass die paranoiden Wahnprojektionen des alten europäischen und völkischen Antisemitismus nichts mit der Realität zu tun haben. Auf der anderen Seite steht eine gewaltvolle politische Realität.«

Erneut fragt man sich: Stellen sie sich dumm oder sind sie es? Kritik am so genannten israelbezogenem Antisemitismus hat Palästinenserinnen und Palästinensern niemals das Recht abgesprochen, sich gegen israelische Besatzung oder Repression politisch zu engagieren. Auch hat niemand je behauptet, dass eine palästinensische Boykottbewegung gegen israelische Waren aus den gleichen Motiven wie die »Kauft nicht beim Juden«-Kampagne der Nazis gespeist sei. Aber, so suggeriert Herr Franke, Antisemitismus unter Palästinensern habe eben etwas mit ihrer »gewaltvollen politische Realität« zu tun, sei sozusagen Reaktion auf israelische Politik und damit dann auch irgendwie gerechtfertigt.

Das aber heißt doch, dass es zwar einerseits einen wahnhaften Antisemitismus, wie den der Nazis gegeben habe, dann aber heute ein anderer existiere, dem ein gewisser Realitätsbezug nicht abzusprechen und der damit weniger wahnhaft sei. Wer also, so wird suggeriert, palästinensischem Antisemitismus die gleiche Wahnhaftigkeit unterstellt, projiziere, um sich von der »eigenen (also deutschen) Geschichte reinzuwaschen«.

Das wiederum heißt nichts anderes, dass die deutsche Geschichte es gebiete, Antisemitismus, der sich ja in unzähligen Fällen direkt auf den der Nazizeit bezieht, anders zu beurteilen, andere Maßstäbe an ihn anzulegen und ihn in seiner jeweiligen »Realität« zu kontextualisieren – die dann natürlich ganz anders zu bewerten sei, wenn es sich um Palästinenser handelt.

Wie üblich, wird mit keinem Wort erwähnt, dass die »gewaltvolle« Realität der Palästinenser, zu einem Großteil auch darin besteht, dass palästinensische Parteien und Milizen bis an die Zähne bewaffnet Terror gegen Israel ausüben und sich dabei, wie etwa die Hamas in ihrer Charta, nicht nur positiv auf die »Protokolle der Weisen von Zion berufen«, sondern als politisches Ziel die Vernichtung Israels verfolgen und sich dabei massiv etwa vom Iran unterstützen lassen. Ganz im Gegenteil entsteht der Eindruck, als unterdrückten da israelischer Staat und Militär ganz böswillig ein völlig friedfertiges Kollektiv.

Perfide Verschiebung

Statt nun, wie es eigentlich der Ausgangspunkt war, über Antisemitismus auch etwa in Indonesien zu reden und zu erklären, welche Realitäten herrschten, bleibt Franke lieber beim Thema, auf das er so elegant gewechselt ist, und spricht über weiter über den Nahostkonflikt:

»Wenn das Adressieren von Völkerrecht und Besatzungsverhältnissen schon als antisemitisch bezeichnet werden, dann ist das die Erlaubnis, die Realität vor Ort zu negieren. (…) Wie Emily Dische-Becker gegenüber Dirk Peitz von der Wochenzeitung »Die Zeit« angemerkt hat, ist es zunehmend unmöglich, in Deutschland die offizielle bundesdeutsche Zielsetzung der Zwei-Staaten-Lösung oder die Positionen der Vereinten Nationen zu vertreten. Aber kann es deutsche Staatsräson sein, sich im Namen der Vergangenheit mit der radikalen Rechten beziehungsweise der Siedlerbewegung in Israel gemein zu machen?«

Ein aufmerksamer und kritischer Interviewer hätte Franke nun sofort die Frage stellen müssen: »Wann wurde je das Adressieren von Völkerrecht und Besatzung als antisemitisch kritisiert? Könnten Sie uns bitte ein Beispiel nennen?« Denn erneut findet hier ein Trick Anwendung, der sich zunehmend großer Beliebtheit erfreut: Angeblich nutzten irgendwelche, der israelischen Rechten nahestehenden Kreise eine Art Antisemitismuskeule, um jedwede Kritik an Israel mundtot zu machen.

Damit findet eine perfide Verschiebung eines realen Problems statt: Denn es macht einen Unterschied ums Ganze, ob man israelische Politik objektiv kritisiert, so wie die anderer Länder auch; oder ob man selektiv das Völkerrecht und ähnliches in Anschlag bringt, um Israel zu denunzieren und zu delegitimieren. Genau dies aber geschieht zum Beispiel andauernd in den Sitzungen der Vereinten Nationen, in denen Israel in unzähligen Resolutionen verurteilt wird, während andere Staaten, in denen es um Menschenrechte nachweislich ungleich schlechter bestellt steht, keinerlei Erwähnung finden.

Nun gibt es auf der Welt nur einen jüdischen Staat, der deshalb eine ganz besondere Aufmerksamkeit von Antisemiten auf sich zieht. Umso wichtiger wäre es also, immer wieder zu hinterfragen, aus welchen Motiven Israels Politik adressiert oder kritisiert wird.

Genau dies aber geschieht nicht, auch nicht im Monopol-Interview; im Gegenteil: stattdessen jammern Leute wie Anselm Franke, dass Kritik an Israel ja gar nicht mehr zugelassen werde. Wem wird oder wurde je irgendein Problem bereitet, wenn er für eine Zwei-Staaten-Lösung eintrat, so diese zugleich Bestand und Sicherheit Israels gewährleistet? Es ist eine Mär, die sich neuerdings in solchen Kreisen großer Beliebtheit erfreut, dass rechte israelische Parteien und die Siedlerbewegung den Holocaust quasi in Anschlag brächten, um gutwilligen Deutschen den Mund und jedwede Kritik an Israel zu verbieten.

Opfererzählung

Ausgerechnet wer sich, so diese Erzählung, für Frieden und die Rechte der Palästinenser in Deutschland einsetzt, werde zum Opfer, weil gewisse israelische und jüdische Gruppen den Holocaust dafür instrumentalisierten, nicht nur den Palästinenser zu unterdrücken, sondern auch noch die Deutschen, die das kritisieren, mundtot zu machen. Und so geht es immer weiter. Auf die Boykott-Bewegung BDS angesprochen, erklärt Franke, er sei zwar kein Anhänger, ABER (in solchen Fällen kommt immer ein aber):

»Ich halte es für sehr problematisch, wenn man die Bewegung pauschal als antisemitisch bezeichnet, gerade wenn man ihre jüdischen und israelischen Teilnehmer*innen und Sympathisant*innen berücksichtigt, die es ja auch gibt, und die sicherlich nicht das Existenzrecht Israels in Zweifel ziehen. Das ist eine deutsche Abwehrhaltung, in der man es sich als Täternation zu leicht macht.

Die Frage nach dem Rückkehrrecht der Palästinenser*innen können wir in Deutschland ohnehin nicht entscheiden, indem wir Künstler*innen ausschließen, die mal einen offenen Brief unterschrieben haben. Es wird immer wieder argumentiert, das Rückkehrrecht für Palästinenser würde die Existenz des jüdischen Staates Israel gefährden. Aber das kann nicht bedeuten, dass jede alte und neue Form der Vertreibung und Enteignung gerechtfertigt wird, und dass schon ihre Erwähnung anti-israelisch ist. Auf solche deutschen Gleichsetzungen schauen auch israelische Intellektuelle oft mit ungläubigem Staunen.«

Hat Franke allen Ernstes noch nie von Juden oder Israelis gehört, die aus ganz unterschiedlichen Gründen den Staat Israel in Frage stellen? Kennt er nicht die Geschichte jüdischer antizionistischer Gruppen und Organisationen, seien es solche aus der radikalen Linken oder die Position ultraorthodoxer Juden? Ist er wirklich so uninformiert, dass er glaubt, nur weil jemand jüdisch sei, könne er nicht gegen den Staat Israel sein? Oder stellt er sich so dumm?

Nur weil es jüdische Unterstützerinnen und Unterstützer der BDS Bewegung gibt, kann die also gar nicht antisemitisch sein, so sein Argument, ganz so als hätte es nie auch jüdische Antisemiten gegeben. Ob er will oder nicht, erklärt er Jüdisch-Sein damit zu einer Art feststehender Eigenschaft oder Invariante und ja, das erinnert dann doch ein wenig ungut an jene rassisch‹ gedachten Eigenschaften, von denen die Nazis halluzinierten. Weil also Juden, weil sie jüdisch sind, nicht gegen das Existenzrecht Israel sein könnten, sei es eine deutsche Abwehrhaltung die BDS-Bewegung als antisemitisch zu kritisieren…?

Rechtfertigung von Antisemitismus

Zur Erinnerung: Die BDS-Bewegung fordert nicht etwa eine Zwei-Staaten-Lösung, sondern die Zerstörung Israels als jüdischen Staat, den sie zudem als Apartheidsystem bezeichnet. Und deshalb wurde sie in verschiedenen Staaten als antisemitisch eingestuft.

Franke scheint dies auch zu wissen, denn es wird nicht irgendwie »immer wieder argumentiert«, sondern liegt auf der Hand, dass, sollten Millionen von Nachkommen jener Palästinenser, die 1948 aus dem damaligen Mandatsgebiet flohen oder vertrieben wurden, nach Israel »zurück«kehren, so stellten sie die Mehrheit im Lande und damit würde Israel als jüdischer Staat aufhören zu existieren. Und dies ist im Rahmen der BDS-Bewegung auch folgerichtig, geht es ihr doch keineswegs (nur) um Schaffung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels, sondern im Kern um die Schaffung eines palästinensischen und eines zweiten Staates mit dann palästinensischer Mehrheit.

Alle bisherigen israelisch-palästinensischen Verhandlungen scheiterten dann auch an der so genannten Frage dieses angeblichen Rückkehrrechtes, dem keine israelische Regierung, außer sie wollte Selbstmord begehen, je wird zustimmen können. Umso perfider die Behauptung, damit würden neue Enteignungen und Vertreibungen gerechtfertigt. Wenn überhaupt, dann wäre eher das Gegenteil richtig: Weil palästinensische Parteien auf einem »Recht auf Rückkehr« insistieren, müssen weiter unzählige Palästinenserinnen und Palästinenser in Camps im Libanon, in Syrien und anderswo ein elendes Leben führen, da sie angeblich nur temporär dort seien. Weil sie auf diesem Recht bestehen, scheiterten schon unzählige Friedensinitiativen.

Was an diesen Feststellungen ist eine »deutsche Gleichsetzung«? Und welche israelischen Intellektuellen, die als Kronzeugen für noch jeden Unfug immer angeführt werden, schauen mit Staunen auf was? Herr Franke kann gerne nach Israel reisen und sich dort umhören, er wird äußerst wenig Intellektuellen begegnen, die sich mit den Zielen der BDS-Bewegung identifizieren und damit für ein Ende ihres Staates eintreten.

Auch scheint er, der ja Unterstützer dieser pro-BDS Erklärung »GG5.3 Weltoffenheit« ist, nicht einmal zu wissen, was der Bundestag in der entsprechenden Resolution eigentlich entschieden hat, gegen die er sich wendet: Es geht keineswegs darum, »Künstler*innen«, die BDS unterstützen, auszuschließen, es geht nur darum, sie nicht mit Steuergeldern zu finanzieren.

Das ist dann auch der Unterschied zur BDS-Kampagne, die zu einem Boykott jüdisch-israelischer Institutionen aufrufen, was aber immer die Künstler und Wissenschaftler als Einzelpersonen trifft – und, wie ich vor zehn Jahren schon im Zusammenhang mit der skandalösen Entscheidung, Judith Butler mit dem Frankfurter Adorno-Preis zu ehren, schrieb, auch darauf hinausliefe, dass in Deutschland dieser Logik zufolge selbst Nachfahren von Überlebenden des Holocaust boykottiert werden sollen, nur weil ihre Vorfahren sich nach Palästina haben retten können.

So also sieht es also aus, wenn nach wochenlangen »Debatten«, der Einsetzung von Expertengremien und ähnlichem, sich ein Vertreter des Kuratoriums der Documenta ganz differenziert mit dem Vorgefallenen auseinandersetzt: Von Einsicht keine Spur.

Man argumentiert nur etwas vorsichtiger – eben »differenzierter« –, wirft ein paar Nebelkerzen, die bei oberflächlicher Lektüre gut und treffend klingen, sich bei genauerem Hinsehen allerdings lediglich als die inzwischen hinlänglich bekannten Relativierungen, Verdrehungen und Täter-Opfer Umkehrungen entpuppen, die auf eine Inschutznahme nicht nur der Documenta-Verantwortlichen hinauslaufen, sondern auch den dort zu Tage getreten Antisemitismus zu relativieren und rechtfertigen versuchen.

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