Matthias Schmale, der Gazadirektor des umstrittenen Palästinenserhilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA), musste nach Drohungen gegen ihn sein Amt aufgeben und aus dem Gazastreifen fliehen – weil er in einem Interview gesagt hatte, dass die israelischen Luftangriffe auf die Hamas „sehr präzise“ seien.
Daraufhin hatte die Hamas Schmale und seinen Stellvertreter David de Bold zu „unerwünschten Personen“ erklärt. Schon 2018, als es einen Konflikt um die Gehälter von UNRWA-Mitarbeitern gab, hatten Schmale und seine Mitarbeiter aus Angst um ihre Sicherheit zeitweilig aus Gaza fliehen müssen.
Was bedeutet die Terrorherrschaft der Hamas für die Funktionsweise der UNRWA? Stefan Frank sprach darüber für Mena-Watch mit David Bedein, dem Direktor des Bedein Center für Nahostpolitik-Forschung, das seit 1987 Recherchen über die UNRWA betreibt, um die Öffentlichkeit zu informieren.
Mena-Watch (MW): Hatte es bis zu Schmales Flucht aus Gaza irgendetwas in seiner Amtszeit gegeben, das dem Beobachter einen Hinweis darauf hätte geben können, dass er eines Tages bei der Hamas in Missgunst fallen könnte – oder kam das aus heiterem Himmel?
David Bedein (DB): Das kam völlig aus heiterem Himmel. Jeder Mensch hat einmal einen Augenblick der Integrität, egal, mit wem er zusammenarbeitet. Schmale hatte diesen Augenblick der Integrität im Mai, als er im Fernsehen gefragt wurde: Was ist mit den israelischen Gegenangriffen? Er antwortete: Sie sind präzise, so präzise wie möglich.
Das widersprach der Propaganda, laut der Israel unterschiedslos Zivilisten bombardiere. Dieser Moment der Integrität hat ihn in Schwierigkeiten gebracht.
MW: Und war er bis zu diesem Moment in irgendeiner Weise anders gewesen als seine Vorgänger an der Spitze der UNRWA-Verwaltung?
DB: Ich beschäftige mich mit der UNRWA seit 33 Jahren. Es gibt keinen Unterschied zwischen Schmale und irgendeinem anderen.
Die eigentliche Übernahme der UNRWA durch Terroristen ereignete sich 1988. Das traf mit dem Beginn der ersten Intifada zusammen. Die Intifada begann im Wesentlichen in den Flüchtlingslagern. Und die Leute, die die UNRWA betrieben, wurden auf einmal alle durch Terroristen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ersetzt.
Statt sich bei der Auswahl der UNRWA-Mitarbeiter nach sozialen Kriterien zu richten, wurde es zum einzigen Kriterium, ob sie den Leitlinien der PLO – und später der Hamas – gehorchten oder nicht. Seit 1988 agiert die UNRWA im Wesentlichen gemäß den revolutionären Leitlinien der PLO. Das gilt für alle UNRWA-Operationen, ob in Gaza, der West Bank oder Jerusalem.
MW: Was steckt dahinter? Machen die örtlichen Angestellten diese Politik oder wird sie zentral von der UNO in New York beschlossen? Oder ist sie vielleicht Folge des Drucks von außen?
DB: Es ist viel einfacher. Seit 1988 herrscht die PLO über die arabische Bevölkerung in Judäa und Samaria und Gaza und Jerusalem. Es ist eine totalitäre Herrschaft, eine Diktatur, und jeder beugt sich ihr, vor allem UN-Agenturen.
MW: Wenn Sie von Schmales „Augenblick der Integrität“ sprechen, was genau meinen Sie damit? War es ein Erwachen des Gewissens, ein Moment moralischer Klarheit, oder eher ein Missgeschick, eine Art Versprecher?
DB: Er hatte einen Augenblick der Ehrlichkeit. Er sagte einfach nur, dass er keine übertriebenen Angriffe sehe und dass Israel sich große Mühe gebe, Verluste in der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Das ist nicht die Aussage, die die PLO und die Hamas hören wollen. Sie verbreiten die Vorstellung, dass Israel eine Entität sei, die Kriegsverbrechen und Morde verüben will.
Schmale hatte sicherlich nicht die Absicht, ein Held zu sein, jemand der Courage zeigt – er benannte einfach die Tatsachen. Es war ihm in dem Augenblick überhaupt nicht klar, dass er eine folgenschwere Aussage macht.
MW: Und nachdem Schmale die Wahrheit gesagt hatte, musste die stellvertretende UNRWA-Präsidentin Lenny Stenseth bei der Hamas gut Wetter machen und sich für Schmales Äußerung entschuldigen.
Stenseth dankte der Hamas sogar für deren „positive Einstellung“ und ihren „Wunsch, die Zusammenarbeit fortzusetzen, indem sie die Arbeit der Agentur im Gazastreifen weiterhin ermöglicht“. Nun leitet sie die Geschäfte der UNRWA in Gaza.
DB: Ja. Jeder, der in diesem System arbeitet, hat Angst davor, umgebracht zu werden, weil es in Gaza und Judäa und Samaria so viele Schusswaffen gibt. Und dennoch schicken westliche Länder weiterhin Geld.
Österreich hat seine Zahlungen an die UNRWA letztes Jahr fast vervierfacht, auf acht Millionen US-Dollar. Ich vermute, dass ein großer Teil dieses Geldes Bargeld ist, dessen Weg sich nicht verfolgen lässt. Niemand weiß, ob es in die Hände des organisierten Verbrechens oder von Terroristen gelangt.
MW: Ist Ihnen selbst irgendetwas über die Kanäle bekannt, durch die die UNRWA-Gelder fließen?
DB: Niemand bekommt auf diese Frage von der UNRWA eine klare Antwort, niemand. Und kaum jemand stellt diese Frage überhaupt. Ich kenne keinen einzigen Diplomaten, der jemals gefragt hätte, wie das Geld in Gehälter verwandelt wird und wie es zu den Terroristen gelangt. Kein einziger Diplomat stellt diese Frage.
MW: Obwohl sie doch auf der Hand liegt. Wann immer Geld von außen gesendet wird, um die Gehälter von Lehrern und Krankenschwestern in einem Gebiet zu zahlen, das von einer bewaffneten Bande beherrscht wird – seien es gewöhnliche kriminelle Rackets, sogenannte War Lords, oder eine Terrororganisation…
DB: Sie sind der erste Journalist in Jahren, der den Begriff „Terrororganisation“ benutzt, um die Entität zu beschreiben, die die Palästinensische Autonomiebehörde und die UNRWA regiert. Sie haben völlig Recht. Ups – jeder hatte das vergessen!
Es gibt da ein Buch mit dem Titel „Die doppelte Sicht“ aus dem Jahr 1984. Darin wird von der Einschüchterung jener Reporter im Libanon erzählt, die darüber berichteten, wie der Terror in den 1980er Jahren den Libanon übernommen hat. Der Autor war der Leiter der Presseabteilung der israelischen Regierung. Das Buch beschreibt sehr offen die Morddrohungen gegen Diplomaten und Journalisten.
Heutzutage gibt es Leute, die bedroht werden wollen, und auch sie sind Diplomaten und Journalisten.
MW: Es ist also doch ziemlich klar, dass eine bewaffnete Bande, die ihre Regeln diktiert – etwa in Gaza – auch darüber entscheidet, wer die gut bezahlten Jobs bekommt, die von der UNRWA zur Verfügung gestellt werden. Die Lehrer, Ärzte und Krankenschwestern der UNRWA hätten also ihre Jobs nicht, wenn sie sich nicht der Hamas unterordnen würden oder vielleicht sogar Mitglieder der Hamas sind.
DB: Oder der PLO. PLO und Hamas nutzen eine Good-Cop-Bad-Cop-Taktik. Sie arbeiten gemeinsam mit anderen Terrororganisationen in einer Koalition zusammen. In den palästinensischen Schulbüchern, die von der UNRWA benutzt werden, gibt es ein einziges Thema: Krieg gegen die Juden. Dieses Thema dominiert das gesamte Schulsystem.
Zeigen Sie mir einen Diplomaten, der das anprangert, und ich werde ihn zum Abendessen ins King David Hotel einladen – eine Woche lang.
MW: Haben Sie irgendeine Hoffnung, dass der derzeitige Zustand geändert werden kann? Gibt es Erfolg versprechende Bemühungen, die UNRWA abzuschaffen?
DB: Die UNRWA kann ohne das Einverständnis der Generalversammlung der Vereinten Nationen nicht abgeschafft werden. Jedoch kann man die UNRWA verbessern. Darum haben wir die UNRWA-Reforminitiative gestartet.
MW: Darin fordern Sie u.a. Transparenz bei den UNRWA-Geldern. Sie fordern, den Nachfahren der Flüchtlinge des Kriegs von 1948 eine neue dauerhafte Heimat zu geben. Sie fordern „Friedenserziehung“ in UNRWA-Schulen anstelle von Aufrufen zur Ermordung von Juden, Verherrlichung des „Märtyrer“-Tods und paramilitärischer Ausbildung. Und Sie fordern die Entlassung aller UNRWA-Mitarbeiter, die mit der Hamas in Verbindung stehen. Wie realistisch ist es, dass das umgesetzt wird?
DB: Unsere Agentur hatte sechs Treffen mit Mitarbeitern von UN-Generalsekretär António Guterres – und sie waren für uns sehr ermutigend. Die UNRWA operiert auf eigene Faust, ohne sich um die Richtlinien der Vereinten Nationen zu scheren. Die UNO traut der UNRWA nicht über den Weg. Die UNO bekommt von der UNRWA keine Informationen oder Berichte, worüber sie in großer Sorge ist. Sie unterstützt unsere Arbeit sehr.
MW: Das ist tatsächlich ermutigend.
DB: Die UNRWA macht, was sie will. Wir haben dem UN-Generalsekretär unseren Bericht über die Schulbildung der UNRWA überreicht und wurden königlich empfangen. Wie ich sagte, wir hatten sechs Treffen. Die UNO ist also interessiert.
Ein Wind der Hoffnung kam auch vor zwei Wochen aus den Vereinigten Staaten, als US-außenminister Antony Blinken eine beispiellose Liste von Anforderungen veröffentlichte, die die UNRWA erfüllen müsse. Das ist eine sehr positive Entwicklung, und, das darf ich sagen, unerwartet. Die Biden-Regierung überrascht uns also auf positive Art, indem sie sagt, dass die UNRWA kein Geld bekommt, solange sie ihre Buchhaltung nicht in Ordnung bringt. Das ist etwas Neues.