Von Ingo Elbe
Benno Schirrmeister hat in der taz einen bemerkenswerten Artikel gegen Hermann Kuhns Kritik an der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Etienne Balibar veröffentlicht. Während Kuhn den Zusammenhang mit dem 9. November nicht herstellt, titelt die taz: „Missbrauchtes Gedenken“. Es stellt sich daher die Frage, wer hier mit Unterstellungen arbeitet und wer das Gedenken missbraucht. Das Vorgehen Schirrmeisters jedenfalls erinnert an die nicht unübliche Praxis, den 9. November als Tag der Solidarität mit toten Juden zu missbrauchen, um Kritik an den Bedrohungen für heute lebende Juden zurückzuweisen.
Rätselhaft auch die These, Kuhn unterstelle „ohne jeden Beleg Balibar die Autorschaft des Aufrufs“, in dem Israels Niederlage in einem Krieg gegen die Hamas herbeigesehnt wird („Israel must lose“). Wenn jemand einen solchen Aufruf unterschreibt, dann wird man ihm dessen Inhalt wohl zurechnen dürfen, egal, ob er sich den Unfug darin ausgedacht hat oder ihn nur unterstützenswert findet.
Die Behauptung, dass Hermann Kuhn den Inhalt des Appells entstellt, fällt zudem auf Schirrmeister zurück. Man reibt sich verwundert die Augen: Hat Schirrmeister den Aufruf gelesen? In diesem wird ein typisches Zerrbild des arabisch-israelischen Konflikts gezeichnet, indem Israels „sechzigjähriger Krieg“ gegen die Palästinenser halluziniert wird und behauptet wird, Israel wolle die Palästinenser als „politische Kraft aus[.]merzen“, ohne einen einzigen Hinweis auf die permanenten arabischen Versuche einer Vernichtung des jüdischen Staates zu geben, ohne auf die Charta der Hamas und der PLO hinzuweisen, die für einen Staat Israel keinen Platz lassen. Israel erscheint vielmehr als grundloser, kolonialer Aggressor.
Erklärungen, in denen die gesamte israelische Bevölkerung dämonisiert wird und mindestens Analogien zum rassistischen Apartheid-Regime hergestellt werden, hat Balibar übrigens häufiger unterzeichnet. So wird die israelische Schutzanlage gegen palästinensischen Terror (dieser Terror wird in der Erklärung ebenso in Anführungszeichen geschrieben wie ‚defense forces‘, wenn es um die IDF geht) in einer von Balibar unterzeichneten Erklärung aus dem Jahr 2003 wie folgt kommentiert: „Sie transformiert auch die ‚Verteidigungskräfte‘ und die israelische Bevölkerung selbst in ein Volk von Lagerwärtern.” Ein Volk von Lagerwärtern also… Wenn Balibar ein derart differenziertes Bild vom arabisch-israelischen Konflikt hat, wie Schirrmeister behauptet, warum setzt er dann immer wieder seinen Namen unter solche demagogischen und undifferenzierten Pamphlete?
Befremdlich ist auch Schirrmeisters Leugnung von Balibars BDS-Unterstützung. Sowohl in der 2009er-Erklärung als auch in einer ebenfalls von Balibar unterzeichneten Erklärung im Jahr 2014, die Schirrmeister verschweigt, werden explizite Aufrufe zum Boykott getätigt. „Wir rufen die britische Regierung und die britische Bevölkerung auf, alle durchführbaren Schritte zu setzen, um Israel zu zwingen, diesen Forderungen nachzukommen; beginnend mit einem Programm von Boykott, Deinvestition und Sanktionen.“ (2009) „Wir rufen die UNO und die Regierungen weltweit auf, umgehend Schritte zu unternehmen, um ein umfassendes und rechtlich bindendes Militärembargo gegen Israel zu erlassen, ähnlich jenem, das während der Apartheid gegen Südafrika erlassen wurde.” (2014)
Dass Balibar möglicherweise nicht alle Ziele von BDS teilt und seinen Gesinnungsgenossen bisweilen nicht konsequent genug ist, ändert nichts daran, dass er im Umfeld dieser Kampagne agiert und es offenbar für vertretbar hielt oder hält, oben genannte Aufrufe zu unterzeichnen. Solche Aktionen sind, auch wenn seine wissenschaftliche Praxis differenzierter sein sollte, ein klares öffentliches Signal im Sinne einer einseitigen, alle Standards politischer Fairness außer Acht lassenden antiisraelischen Intervention. Dass Balibar den palästinensischen Terror nicht legitimiere, wie im taz-Artikel behauptet, ist ebenfalls eine Frage, über die man streiten kann. Jedenfalls ist seine Behauptung, dieser Terror sei von Israel provoziert und befeuert, eine äußerst fragwürdige These, die eindeutige Kausalrelationen herstellt und erneut von den ideologischen Programmatiken der palästinensischen Antizionisten absieht.
Apropos wissenschaftliche Praxis: Dass Balibar auch noch eine in wissenschaftlicher Hinsicht nur absurd zu nennende Gleichsetzung von Judenfeindschaft und „Araberhass“ bzw. „Islamfeindlichkeit“ aufmacht, die er nun beide ‚Antisemitismus‘ nennen will, sollte nicht unter den Tisch fallen. Denn solche notorischen Antisemitismusverharmlosungen und die Parallelisierung der Politik von „zionistischen Lobbys“ in den USA und islamistischen Weltherrschaftsplänen sowie der terroristischen Praxis von Al Qaida („In beiden Fällen [von ‚antisemitischen‘ Verschwörungstheorien] gibt es Tatsachen: Der Einfluss der zionistischen Lobby in den USA, die Unternehmungen [sic!] der Al Qaida oder dessen, was man sich unter diesem Namen vorstellt …“) sind noch mehr dazu angetan, in verwirrten Köpfen Schaden anzurichten. Unbedingt preisverdächtig sind sie auf jeden Fall. Balibar steht damit in einer ehrwürdigen Tradition von Hannah Arendt-Preisträgern – man denke nur an Tony Judt und vor allem Gianni Vattimo.
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