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Die Instrumentalisierung des Exodus der arabischen Juden

Aktivisten in Amsterdam sammeln Unterschriften gegen die Misshandlung von Juden in arabischen Ländern
Aktivisten in Amsterdam sammeln Unterschriften gegen die Misshandlung von Juden in arabischen Ländern (© Imago Images / piemags)

Die Geschichte und die Erinnerung an die aus den arabischen Ländern vertriebenen Juden wurden unterdrückt, um den Zionismus zu dämonisieren.

Lyn Julius

Vor sechzig Jahren erklärte Algerien nach einem blutigen Krieg, der über eine Million Menschenleben gefordert haben soll, seine Unabhängigkeit von Frankreich. Im Zuge der Befreiung vom französischen Kolonialjoch trennte sich Algerien von 800.000 »weißen Siedlern«. Doch mit den Siedlern gingen auch 130.000 einheimische algerische Juden.

Dafür gab es einen konkreten Grund: Bereits ein Jahr nach der Unabhängigkeit war klar, dass es im neuen Algerien keinen Platz für Nicht-Muslime geben würde. In der Tat sah die Verfassung des Landes vor, dass nur Personen mit einem muslimischen Vater oder Großvater die algerische Staatsbürgerschaft erwerben konnten.

Die jüdischen Flüchtlinge, welche die französische Staatsbürgerschaft besaßen, wurden hingegen nach Frankreich »repatriiert«, wo sie nie gelebt hatten. Einer von ihnen war Shmuel Trigano, damals 14 Jahre alt. Innerhalb von zwei Tagen und mit zwei Koffern in der Hand änderte sich sein Leben für immer. Entwurzelt aus dem einzigen Zuhause, das er je gekannt hatte, blieb er für immer gezeichnet.

Doch erst vor Kurzem, als er sah, wie Palästinenser die Schlüssel zu ihren Häusern, die sie 1948 verlassen hatten, in die Höhe reckten, wurde Trigano klar, dass sein Trauma auch eine politische Dimension hatte. »Wir hatten auch Schlüssel«, sagt er über die 900.000 Juden, die aus den arabischen Ländern fliehen mussten, »aber wir waren zu bescheiden. Wir haben keine Forderungen gestellt. Und weil wir geschwiegen haben, haben wir zugelassen, dass ein falsches Narrativ das Vakuum füllt.«

Um dem entgegenzuwirken, was er als massive Verzerrung der Fakten bezeichnet, wandte Trigano sein Handwerkszeug als Professor für Soziologie an. Er konstruierte einen konzeptionellen Rahmen, um den jüdischen Exodus aus zehn arabischen Ländern nach 1940 über einen Zeitraum von dreißig Jahren zu verstehen.

Trigano weist darauf hin, dass es den Begriffen, die wir zur Beschreibung dieses Ereignisses verwenden, an Strenge mangelt. Der Ausdruck »vergessener Exodus« wird zum Beispiel oft verwendet, um diese katastrophale Vertreibung zu beschreiben. Aber von wem vergessen? Sicherlich nicht von jenen Menschen, die vertrieben wurden. »Liquidierung« oder »ethnische Säuberung« sind zutreffender als der passive Begriff »Exodus«, schlägt Trigano vor.

Die Geschichte dieses Zeitraums ist noch immer nicht richtig geschrieben worden, aber Trigano hat mit seinem Buch La fin du Judaïsme en terres d’Islam einen Anfang gemacht, in dem die Daten von zehn spezialisierten Historikern zusammengetragen wurden.

Jahrhundertelang waren die Juden gemeinsam mit den Armeniern und Griechen ein unterworfenes Volk zweiter Klasse, das unter muslimischer Herrschaft lebte, vor allem im Osmanischen Reich. Doch nach der arabischen Niederlage im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 ging diese Unterdrückung in eine regelrechte ethnische Säuberung über, die zwei Formen annahm: Ausgrenzung, eine »sanftere« Form der Unterdrückung in Ländern wie Marokko, Tunesien und Libanon, und Vertreibung aus Ländern wie Ägypten, Irak und Libyen.

Unterdrückung und Ausgrenzung

Trigano nennt mehrere Faktoren, von denen alle diese jüdischen Gemeinschaften zu verschiedenen Zeiten betroffen waren:

  • Denationalisierung (Verweigerung oder Entzug der Staatsbürgerschaft),
  • Isolierung (Verweigerung von Pässen und Reiseverbote),,
  • rechtliche Diskriminierung (Arabisierung, staatliche Übernahme jüdischer Gemeindeeinrichtungen),
  • sozioökonomische Diskriminierung (erzwungene Geschäftspartnerschaften mit Muslimen und Boykotte),
  • Enteignung (Erpressung, Einfrieren von Bankkonten, Lösegelder,Beschlagnahmung von Eigentum)
  • und Gewalt (Unruhen und Verhaftungen aus fadenscheinigen Gründen).

All diese Maßnahmen erinnerten an das »Statut des juifs«, eine Reihe diskriminierender Gesetze, die das nazifreundliche Vichy-Regime in Nordafrika während des Zweiten Weltkriegs erlassen hatte.

Der antisemitische Charakter der von den arabischen Staaten ergriffenen Maßnahmen ist unübersehbar: Unabhängig von ihrer politischen Meinung wurden alle Juden für das »Verbrechen« des Zionismus bestraft. Diese kollektive Bestrafung, so Trigano, leite sich aus dem antisemitischen Mythos des einzelnen Juden ab, der sich hinter seiner eigenen Emanzipation versteckt, um heimlich Macht und Kontrolle auszuüben.

Obwohl die Juden im damaligen Palästina unter den vom palästinensischen Mufti Haj Amin al-Husseini angezettelten Pogromen zu leiden hatten und im Krieg von 1948 gezielt angegriffen wurden – mit dem proklamierten Ziel ihren Staat zu vernichten und sie ins Meer zu treiben -, wurden die Tatsachen auf den Kopf gestellt, um zu suggerieren, dass die siegreiche israelische Seite für die ethnische Säuberung verantwortlich war.

Laut Trigano besteht das Problem darin, dass Israel es versäumt habe, die Wahrheit stark zu machen, und dadurch der Geschichtsverdrehung und Propaganda freien Lauf gelassen hat, sodass im französischen Parlament eine geradezu perverse Resolution eingebracht wurde, in der Israel als »Apartheidstaat« verurteilt wird.

Der Zionismus wird für die Notlage der Juden verantwortlich gemacht, und zu viele Menschen glauben an den Mythos der friedlichen Koexistenz zwischen Juden und Arabern vor der Gründung Israels. Leider gibt es auch unter Juden die Tendenz, unbequeme Fakten oder die Geschichte der Beziehungen zwischen den beiden Gruppen zu beschönigen. Haben die Abraham-Abkommen die Situation verändert? Das Abkommen muss gefeiert werden, sagt Trigano, aber nicht auf Kosten der Geschichte und der Erinnerung.

Lyn Julius ist Autorin von Uprooted: How 3,000 Years of Jewish Civilization in the Arab World Vanished Overnight, Vallentine Mitchell, 2018. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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