Nach 51 Tagen in Geiselhaft der Hamas steht Chen Goldstein-Almog vor dem Verlust ihrer Tochter Yam und ihres Ehemanns Nadav, die vor ihren Augen ermordet wurden.
Bat-Chen Epstein Elias
Die Begegnung mit ehemaligen Geiseln, die beim Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 entführt wurden, ruft ein tiefes Gefühl des Respekts hervor. Es gibt einen unausgesprochenen Kodex, was man fragen darf und was nicht. Man möchte sie umarmen, sie mit Fürsorge umgeben und gleichzeitig ihre Privatsphäre respektieren. Man umarmt sie aus jedem Blickwinkel, denn es gibt keine richtige Art, mit jemandem in Beziehung zu treten, der sich in einem Moment in einem sicheren Raum und im nächsten in einem Tunnel mit Terroristen befand.
Manche ziehen es vor, nicht zu reden und behalten ihre Erfahrungen für sich, für ihre Familien oder in geschlossenen Notizbüchern. Andere haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihre Geschichten zu erzählen. Chen Goldstein-Almog, die mit drei ihrer Kinder aus dem Kibbuz Kfar Aza entführt und im November nach 51 Tagen des Schreckens freigelassen wurde, ist eine von ihnen.
Goldstein-Almog hat in früheren Interviews die Gefühle an diesem schrecklichen Samstag beschrieben. Das Gefühl des puren Schreckens, als bewaffnete Männer ihren Ehemann Nadav und ihre Tochter Yam ermordeten und sie selbst sowie ihre drei überlebenden Kinder unter dem ständigen Ausstoßen von Drohungen entführten.
»Ich bin damit beschäftigt, unsere Geschichte zu erzählen«, sagt sie selbstbewusst in die Kamera. Ihr Haar ist zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Ihre Haltung ist aufrecht und gefasst, als würde sie versuchen, die Scherben in ihrem Inneren zusammenzuhalten. »Ich verstehe, dass das Erzählen unserer Geschichte ein Teil der Reise ist und es hilft mir auch, Dinge zu verarbeiten. Wir haben in kurzer Zeit so viel durchgemacht und ich muss es mir mehrmals pro Woche vor Augen führen, um es zu begreifen und zu verdauen. Es ist anstrengend, unsere Geschichte zu erzählen, aber es ist mir sehr wichtig.«
Auf einer Zeitachse
»Heute? Heute geht es uns gut«, sagt sie und atmet tief durch, als sie die einfache Frage »Wie geht es Ihnen?« gestellt bekommt. »Wir arbeiten daran, zu leben. Die Trauer und der Schmerz sind immer bei uns. Wir müssen sie ertragen. Und wir müssen hart arbeiten, um gut zu leben. Ich muss unser Leben als Familie aufbauen – eine erschöpfte Familie, aber eine Familie, die lebt und hofft, das bestmögliche Leben zu führen. Wir werden uns nicht vom 7. Oktober definieren lassen.«
Ob es einen Unterschied mache, dass die Zeit vergeht, frage ich frage vorsichtig, und Chen antwortet bestimmt: »Absolut. Ich gehe eine Art Zeitachse entlang. Einerseits ist es noch nicht lange her, dass wir eine ganze, starke Familie waren. Andererseits ist viel Zeit vergangen. Das erste Jahr ist vorbei und wir leiden immer noch, sind immer noch mitten im Geschehen. Wir versuchen immer noch, mit dem, was wir durchgemacht haben, und der Tatsache, dass wir immer noch lebende und tote Geiseln zurückbringen müssen, zurechtzukommen. Man befindet sich ständig in diesem Strudel – ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück.«
Die Liebesgeschichte von Chen, die diesen Monat ihren fünfzigsten Geburtstag feiert, und ihrem von der Hamas ermordeten Mann Nadav begann in der Highschool. Nadav war ein bekannter Triathlet und Vizepräsident für Geschäftsentwicklung in der Kunststofffabrik Kafrit Industries in Kfar Aza. Im Laufe der Jahre bauten sie ihr Haus im Kibbuz, wo sie ihre vier Kinder großzogen: Yam (20), die brutal ermordet wurde, Agam (18), Gal (12) und Tal (9).
Am frühen Morgen des 7. Oktobers, als Terroristen den Kibbuz nahe der Grenze zum Gazastreifen überrannten, schlossen sich Goldstein-Almog und ihre Familie im Schutzraum ein. Danach wurden sie und ihre Kinder 51 Tage von der Hamas festgehalten. Am dritten Tag des Geiselaustauschs im November wurden sie befreit.
Jetzt beginnen die vier ein neues Leben. Wenn Goldstein-Almog über die ermordeten Yam und Nadav spricht, erlaubt sie sich, den Tränen nachzugeben. Die beiden sind überall zu finden, drinnen und draußen. Ihre lächelnden Gesichter begrüßen die Besucher am Eingang des provisorischen Hauses, in dem sie jetzt leben.
Es sei ein anderes Zuhause, aber es fühle sich geborgen an, sagt Goldstein-Almog, die den Ort geheim hält, da sie die Angst vor der Drohung der Mörder, beim nächsten Mal zu Tausenden zurückzukehren, nicht abschütteln kann. »Ich lebe immer noch mit der Abwesenheit von Nadav und Yam und dem Verlust unseres Zuhauses. Ich muss mit dieser Abwesenheit, diesem Nichts, diesem Verlust fertig werden.«
Aktuell müsse die Familie zum Beispiel entscheiden, ob sie in den Süden zurückkehren will oder nicht. »Solche Entscheidungen habe ich immer zusammen mit Nadav getroffen. Jetzt vertraue ich den Kindern und wir werden gemeinsam die richtige Entscheidung treffen. Nadav war die Liebe meines Lebens, mein Anker. 34 Jahre lang habe ich ihn bewundert. Das war Teil seines Wesens – seine Hingabe an den Sport und seine Arbeit. Er war Mentor für Schüler, die nach Kafrit kamen. Er war ein Vater im wahrsten Sinne des Wortes.«
Sie streicht mit den Fingern über ein Foto von Yam auf ihrem Handy. »Yam hat mich zur Mutter gemacht«, sagt sie leise. »Es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Sie war ein erstaunliches Baby. Sie entwickelte sich zu einem energiegeladenen Kind, voller Selbstvertrauen, dann zu einem Teenager und mit zwanzig zu einer Frau.«
Was würde sie jetzt sagen, frage ich. Goldstein-Amog hält inne. »Wenn sie hier wäre und Nadav nicht? Wir würden gemeinsam um Nadav trauern, der nicht hier ist. Nadav wurde einige Monate vor dem 7. Oktober bei einem Fahrradunfall schwer verletzt und sie kümmerte sich auf inspirierende Weise um ihn. Sie ließ sich von der Armee beurlauben, um sich um ihn zu kümmern, und wir hatten das Glück, dass sie in dieser Zeit bei uns war.«
Es tue gut, über ihre Tochter zu sprechen, wischt sie sich die Tränen aus den Augen. »Und sie wird so vermisst. Yam war so dominant, laut. Sie hat so viel Stille hinterlassen.« Stille. Das Wort liegt in der Luft. Ein Wort, das in vielen Geschichten von Müttern wiederholt wird, die mit ihren Kindern entführt oder gefangen gehalten wurden. Ein Wort, das Goldstein-Almog an die dunkelsten Tage erinnert.
Zum Schweigen gebracht
»In Gaza wurden viele zum Schweigen gebracht, vor allem die Kinder. Die Leute fragen immer wieder, ob wir ausgebeutet oder missbraucht wurden. Nein, sie haben mich nicht geschlagen oder sexuell missbraucht. Aber sie haben vor allem die Kinder zum Schweigen gebracht. Und das sind Kinder – sie sind von Natur aus laut, verspielt, gesprächig und streitsüchtig.
Es sei hart gewesen. Sie erinnere sich, dass sie sich »in den ersten Tagen in Gaza zwang, den Anblick von Yam nicht zu vergessen – sie war von Kugeln durchsiebt. Es war so schrecklich. Ich sah sie nur für Sekunden, bevor ich mich den Kindern zuwandte. Ich rannte. In Gedanken verstand ich, dass Menschen im Haus starben, und ich lief nach draußen zu den Lebenden. Es war ein schrecklicher Anblick. Und ich erinnere mich, dass ich mich zwang, dieses Bild nicht zu vergessen.«
Es sei »eine Art Selbstgeißelung« gewesen, immerzu an Yam zu denken: »Du wirst das nicht vergessen, und du wirst damit fertig werden und stark sein. Glücklicherweise verblasst es mit der Zeit und ich erinnere mich jetzt an sie als schön, glücklich, lachend und voller Leben.«
Als wir nach draußen gehen, um Fotos zu machen, treffen wir Gal, der schüchtern lächelt. Der zwölfjährige Junge, der das Schlimmste miterlebt hat, kann immer noch lächeln. »Die Kinder haben gesehen, wie ihr Vater erschossen wurde. Es ist hart, aber sie sind sehr starke Kinder und ihr Urvertrauen ist nicht erschüttert. Sie geben von sich selbst und öffnen sich.«
Die Kinder werden in der Schule von einem multidisziplinären Team aus Psychologen und Beratern unterstützt, erzählt Almog-Goldstein, wofür sie sehr dankbar sei. »Das ist entscheidend für unsere Fähigkeit, all diese Herausforderungen zu bewältigen. Ich stütze mich auch auf Menschen. Ich bin von einem Team umgeben, das mir nicht nur therapeutische Unterstützung bietet, sondern mich auch berät. Ich lerne zuzuhören und Entscheidungen zu treffen. Ich fülle meinen Tag mit Sport und sorge dafür, dass mein Tag ausgefüllt ist. Und wenn nicht, arbeite ich daran, ihn zu füllen.«
Chen Goldstein-Almog und ihre achtzehnjährige Tochter Agam, die vor Kurzem ein Programm für die Vorbereitung auf die Armee begonnen hat, sprechen ständig über das, was sie durchgemacht haben. Sie leiden gemeinsam. Sie erinnern sich gegenseitig an die Abwesenheit. Und manchmal lachen sie. »Es ist Teil unseres Kampfes, manchmal glücklich zu sein. Die Jungen reden nicht viel mit mir, aber ich höre von anderen in unserer Umgebung, dass sie sich ihnen öffnen.«
Und es gibt Dinge, an die sie sich aus der Gefangenschaft erinnern. Der neunjährige Tal etwa erinnert sich, dass die Terroristen ihn bei einem der Transfers ein Stofftier nicht mitnehmen ließen, das er in einer der Wohnungen gefunden hatte, in der die Familie gefangen gehalten worden war. »Er fing an zu weinen und ein junger Mann steckte das Spielzeug in eine Tasche, wobei der Kopf herausschaute. Tal ging durch halb Gaza, während der Kopf dieses rosafarbenen Spielzeugs herausschaute.«
Auch erinnere er sich daran, dass die Terroristen ein Feuerzeug mitbrachten, um Dinge zu verbrennen, die die Kinder gemalt oder geschrieben hatten. »Sie durften nicht auf Hebräisch schreiben, nur auf Englisch, und auch nicht malen. In einem der Häuser, in dem wir fünf Wochen lang blieben, malte Tal Bilder von Kämpfen und Krieg. Er und Gal versuchten, die Zeichnungen in ihre Taschen zu schmuggeln, aber sie wurden entdeckt.«
Sie danke Gott ständig dafür, »dass wir hier sind, dass wir es aus dieser Hölle herausgeschafft haben«, sagt Chen Goldstein-Almog abschließend. »Wir haben den 7. Oktober überlebt. Wir haben die Gefangenschaft überlebt. Und wir sind am Leben. Wenn ich den Geiseln, die noch dort sind, etwas sagen kann, dann ist es wichtig, dass sie wissen, dass ihre Familien wie Löwen für sie kämpfen. Sie verlieren die Hoffnung nicht. Wir werden uns nicht von diesem Ereignis erholen können, wenn wir sie nicht zurückbringen.«
Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)