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Die Explosion von Beirut als Metapher über den Nahen Osten

In syrischen Idlib malt ein Künstler als Zeichen der Solidarität eine libanesische Flagge auf die Ruinen eine Hauses. (imago images/ZUMA Wire)
In syrischen Idlib malt ein Künstler als Zeichen der Solidarität eine libanesische Flagge auf die Ruinen eine Hauses. (imago images/ZUMA Wire)

Die Katastrophe im Hafen von Beirut ist in vielerlei Hinsicht symbolisch für den Zustand eines großen Teils des Nahen Ostens.

Als Chef einer großen Terrororganisation kennt sich Hassan Nasrallah mit verheerenden Explosionen und mit Ammoniumnitrat aus. Die Chemikalie dient als Basis für Dünger wie für Sprengstoff. In England hatte die Hisbollah 2015 zweieinhalb Tonnen des Stoffs gelagert, in Deutschland immer noch ein paar Hundert Kilogramm. In Beirut sind nun zweieinhalbtausend Tonnen davon explodiert.

Ursprünglich kam die gefährliche Ladung offenbar vor sechs Jahren nach Beirut, an Bord eines ramponierten Frachters, der an der Weiterfahrt gehindert und dann von seinem Besitzer, einem obskuren Russen, aufgegeben wurde. Ob die Hisbollah etwas mit dem Beiruter Depot zu tun hatte, wird sich zeigen, Hassan Nasrallah hat jedenfalls die riesige Explosion vorausgesehen. Er hat nur Beirut mit Haifa verwechselt: Vor vier Jahren drohte der Hisbollahchef aus seinem Bunker den Israelis, ein paar Raketen auf ein paar Düngemittelfabriken in kämen einem Atombombenangriff gleich. Und speziell für Haifa hatte er, inspiriert von den Warnungen eines israelischen Experten, fröhlich glucksend das Horrorszenario parat, die 15.000 Tonnen Ammoniak in einer Fabrik dort könnten den Tod hunderttausender Bewohner verursachen. Und er zitierte bizarrer Weise auch noch den israelischen Experten mit dessen Kritik an der israelischen Regierung, ohne Verlegung der Düngemittelfabriken das Leben Hunderttausender zu gefährden.

Also genau das zu tun, was die von Hassan Nasrallah kontrollierte libanesische Regierung offenbar getan hat: Trotz aller Warnungen über zweieinhalbtausend Tonnen hochexplosives Ammoniumnitrat einfach jahrelang im Innenstadtgebiet einer Metropole zu lagern. Und nun erinnern die Bilder aus Beirut an die vom 11. September 2001 aus New York.

Hassan Nasrallah hält bisher noch den Mund, eine Rede hat er abgesagt, zweifellos muss er noch an der Argumentationskette feilen, die die Katastrophe von Beirut und das unendliche Versagen dieses Staates gegenüber seinen Bewohnern irgendwie Israel in die Schuhe schieben wird. Im Internet sind jedoch längst Memes aufgetaucht, die den Explosionspilz mit Mullahturban zeigen, der twitternde Zeitgeist zieht aus dieser Katastrophe längst seine eignen Schlüsse.

Ein Sinnbild des Nahen Ostens

Wenn man eine Visualisierung der schlimmsten Befürchtungen für die Zukunft des Nahen Osten und speziell des Libanon sucht, dann diese Szenen, die sich nun vielfach im Netz finden: Da explodiert wieder mal etwas am Horizont, vielleicht war es zuerst wirklich ein Lager für Feuerwerkskörper. Die Menschen stellen sich an die Fenster, auf die Balkone, filmen, schauen sich das Spektakel an. An so etwas ist man gewöhnt zwischen Beirut und Bagdad. Und dann plötzlich diese zweite Explosion mit ihrer wie ein Filmtrick aussehenden Druckwelle, die über die Stadt fegt und die Menschen von den Fenstern wegbläst. Auch hier die ikonische Parallele zu 9/11: Es sieht aus wie im Kino. Es sieht aus wie das Armageddon.

Man ist daran gewöhnt, die Dinge für einigermaßen stabil zu halten, solange noch das äußere Gerüst steht. Ab und an eine Explosion irgendwo am Horizont, aber insgesamt geht es doch weiter. So war es mit dem Arabischen Frühling, so blickt man auf Assads Syrien oder die Herrscher in Teheran. Aber dann wird es einmal das alles doch hinwegreißen, auch die letzte Fassade fällt, wenn die richtige Detonation zündet. Ganz unerwartet

Die Nachrichten über die katastrophale Lage im Libanon hatten mit der üblichen Verzögerung schließlich auch die deutschsprachige Presse erreicht. Dabei war schon seit Monaten klar, die Währung bricht zusammen, die politische Klasse ist handlungsunfähig, in den letzten Wochen hat sich die Versorgung als immer schwieriger gestaltet, weite Teile der libanesischen Mittelschicht sind verarmt, die Importe können nicht mehr bezahlt werden, und das in einem Land das praktisch vollständig aufs Importieren angewiesen ist. Die Stromversorgung war am ständigen Zusammenbrechen, Medikamente kaum noch vorhanden, und die nun von der Explosion beschädigten Krankenhäuser waren vorher schon nur noch bedingt einsatzfähig.

Auch in Bezug auf das abgewirtschaftete politische System des Libanon und den Schatten der Islamischen Republik Iran, der über dem Land liegt, kommt die Explosion zu einem hochsymbolischen Zeitpunkt: noch diese Woche hätte das UN-Sondertrubunal sein Urteil wegen des Bombenanschlags von 2005 verkünden sollen, bei dem der damalige libanesische Ministerpräsident Hariri und weitere 21 Menschen getötet wurden. Angeklagt sind vier Mitglieder der Hisbollah. Die Urteilsverkündigung wurde jetzt auf den 17. August verschoben.

Zeichen eines Zerrüttungsprozesses

Seit den Protesten der „Zedern-Revolution“ von 2007 – einer der Voreruptionen des Arabischen Frühlings –, über die Müll-Demonstrationen 2015 bis zu den Protesten des letzen Jahres haben auch die Menschen im Libanon gegen die immer gleiche Misere demonstriert: Die Inkompetenz und Korruption der politischen Klasse, Nachlässigkeit und Verwahrlosung seitens des Staates und der Verwaltung. Und irgendwann liegt der Sprengstoff nur so angehäuft in der Ecke, niemand will zuständig sein, und es braucht nur einen Funken. Im Zweifel war das alles nur die Folge einer ungeheuren Schlamperei, ein Bericht von Reuters legt nahe, dass tatsächlich noch vor einem halben Jahr ein Inspektionsteam vor der ungeheuren Gefahr gewarnt hatte, genauso wie schon in den Jahren zuvor. Aber die Schlamperei und Inkompetenz hat System, vielmehr – sie ist das System. Und damit wollen und können die Menschen nicht mehr leben. Das ist immer noch die banale Wahrheit über den Arabischen Frühling.

Nach den Demonstrationen von 2019, manchmal bereits Arabischer Frühling 2.0 genannt, kam der Ölpreisverfall, kam der Verfall der Währungen im Libanon und in Syrien, kam Corona. Diese Explosion, die Beirut auch ohne Bürgerkrieg zerstört hat, ist ein unglaubliches Ausrufezeichen inmitten eines Zerrüttungsprozesses. Im Libanon lief der Staatsverfall schließlich so eilig und gnadenlos ab, dass die Menschen nicht einmal mehr Demonstrieren gingen. Das Aufatmen der Eliten und der Hisbollah, scheinbar wieder die Kontrolle erlangt zu haben, war jedoch nur eine Illusion.

Die Versorgungschaos

Nachdem sich der orangefarbene Rauch des explodierten Ammoniumnitrats verzogen hat, stellt sich nun unmittelbar die Frage nach der Überlebensfähigkeit des Staates. Rein praktisch ist mit der Zerstörung des Beiruter Hafens die Hauptversorgungsader des Landes durchtrennt. Direkt neben dem explodierten Lagerhaus, an dessen Stelle nun ein Krater klafft, der sich mit Meerwasser gefüllt hat, steht der Hauptgetreidespeicher des Libanon. Vielmehr: stand. Zu sehen sind noch die Außenwände der einen Seite, der Speicher ist aufgerissen und neben der Kraterlagune erheben sich goldene Dünen aus Getreide. Das war die Versorgung des Libanon für die nächsten Monate. Der Speicher war vermutlich nur gering gefüllt, auch das wohl schon eine Folge der Devisenschwierigkeiten der Regierung. Das Hauptproblem ist die Zerstörung der Entladevorrichtung und des Speichers. Der Hafen von Tripolis im Norden wird wohl einen Großteil der Funktionen von Beirut übernehmen können, Getreidesilos im Hafen gibt es dort allerdings nicht.

Zu dem sowieso schon herrschenden Versorgungschaos werden sich nun weitere gravierende Probleme gesellen. Weite Teile der Innenstadt von Beirut sind schwer beschädigt, kaputte Fenster sind das eine, eine ganz andere Frage sind strukturelle Schäden an Gebäuden und Infrastruktur. Woher wird das Geld – werden die Devisen – kommen, um inmitten des Staatskonkurses die notwendigen Maßnahmen und Materialien zu bezahlen? Die Menschen müssen sowieso mit gesperrten Konten leben, von denen nur Kleinstbeträge monatlich abhebbar sind, und die libanesische Lira ist im Sinkflug.

Woher kommt Hilfe?

Nun wird internationale Hilfe kommen. Die direkte Nothilfe ist eines, der Staat braucht darüber hinaus massive Finanzspritzen und langfristige Hilfe, sonst ist der Libanon nicht überlebensfähig. Hier liegt gleichzeitig die große Gefahr, dass das korrupte Establishment die Folgen der Explosion für das eigene Überleben und zur Bereicherung nutzen wird. Die Verhandlungen der libanesischen Regierung mit dem IWF sind gescheitert, weil die libanesische Seite nicht einmal bereit dazu war, einen realistischen Einblick in den Schuldenstand des Staates zu gewähren – zu sehr hätte das die Geschäfte von interessierten libanesischen Politikreisen und der Hisbollah berührt.

Auf die schöne Geschichte von den Chinesen, die angeblich Milliarden und Abermilliarden in den Libanon pumpen wollten, sollte man wiederum nicht allzu viel geben. Auch das bereits kolportierte chinesische Angebot, den Hafen Beiruts umgehend wieder aufzubauen, wird man mit Vorsicht genießen dürfen. So ein Angebot kostet schließlich nichts, der propagandistische Nutzen ist allerdings beachtlich. Einzig von Europa kann sich der Libanon finanzielle Hilfe erhoffen, denn Europa muss den staatlichen Zusammenbruch des Libanon fürchten.

Die Katastrophe kommt hier für manche vielleicht wie gerufen. Schon reist der französische Staatspräsident eilends nach Beirut – vorher waren nicht einmal mehr die Franzosen im Zeichen ehemaliger kolonialer Gloire bereit, den Konkurs des nun von der Hisbollah kontrollierten Libanon zu finanzieren. Es ist dasselbe Problem wie mit Syrien: Humanitäre Hilfe ist notwendig, gleichzeitig alimentiert man damit die Büttel Teherans. Im Libanon kommt noch eine korrupte, verantwortungslose Oberschicht hinzu, die sich auch nur oberflächlichen Reformen verweigert. Wenn die Explosion hilft, ihren Konkurs weiter hinauszuzögern, dann wird das Land wohl wirklich untergehen.

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