Erweiterte Suche

Was die Protestbewegung im Irak bis jetzt erreicht hat

Demonstrantinnen im Irak, hier bei einer Kundgebung gegen Gewalt gegen Frauen in Bagdad (imago images/Xinhua)
Demonstrantinnen im Irak, hier bei einer Kundgebung gegen Gewalt gegen Frauen in Bagdad (imago images/Xinhua)

Den Demonstranten im Irak ist es nicht gelungen, ein neues politisches System zu schaffen, aber sie haben auf der sozialen Ebene enorm viel erreicht.

Sich über Kleriker lustig machen, sich bei Kundgebungen verlieben und eine zerbrochene Gesellschaft reparieren: Auch wenn es den jungen Demonstranten im Irak nicht gelungen ist, etablierte Politiker zu stürzen, so haben sie doch jahrzehntelange Tabus zerschlagen.

Seit Oktober wird das 40-Millionen-Land von einer historisch beispiellosen Basisbewegung erschüttert, die sich große Ziele gesetzt hat: der Korruption, den niemandem Rechenschaft gebenden sektiererischen Parteien und der Vormachtstellung des benachbarten Iran ein Ende zu setzen. (…)

Was sie bisher politisch nicht erreichen konnten, haben die Demonstranten durch sozialen Wandel wettgemacht. „Wir haben ein Ziel erreicht, indem wir die Regierung gestürzt haben, aber sozial haben wir viel mehr erreicht“, sagte Ali Khraybit, 28.

Sein bester Freund hat gerade einem Mädchen einen Heiratsantrag gemacht, das er auf dem Tahrir-Platz in Bagdad, dem Epizentrum der Anti-Regierungsbewegung, kennengelernt hat. Wie andere Plätze im überwiegend schiitischen Süden des Irak, ist der Tahrir zu einem sozialen Experiment geworden, zu einem Freiraum, in dem konservative Normen gestürzt wurden. Die Jugend singt gegen eine einst unantastbare Gruppe von Politikern und paramilitärischen Befehlshabern an, und Frauen verbringen die Nächte in Zelten neben erwachsenen Männern. Studenten widersetzen sich dem Befehl, in die Hörsäle zurückzukehren, und in Vierteln, die einst als gefährlich galten, wimmelt es nur so von Menschen, die auf dem Weg zu den Demonstrationen sind. (…)

Hiyyam Shayea, eine 50-jährige Lehrerin in der von Protesten heimgesuchten Provinz Diwaniyah, kann dies bezeugen. „Es gab einige große, überraschende Veränderungen in vielen sozialen Bereichen“, sagte Shayea, die bei einer Kundgebung in ihrer Heimatstadt eine traditionelle schwarze Robe trug.

Das ist im Süden, wo Stammesbräuche über dem staatlichen Gesetz stehen und die öffentliche Rolle der Frauen einschränken, lange unvorstellbar gewesen.

Aber die Veränderungen fordern einen hohen Preis. Rund 550 Menschen wurden bei Gewalt im Zusammenhang mit den Protesten getötet und 30.000 verwundet. „Das war alles für ein Heimatland – eines, das zivilisiert und bürgerlich ist, nicht rückständig und veraltet“, sagte Shayea. (…)

Nur wenige der derzeitigen Demonstranten sind alt genug, um sich an Saddam zu erinnern – 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt – und machen die Älteren dafür verantwortlich, ihnen den Irak mit einem zerbrochenen politischen System hinterlassen zu haben.

Die Kundgebungen offenbarten „eine riesige Kluft“ zwischen den beiden Generationen, sagte der irakische Forscher Khaled Hamza gegenüber der AFP. „Wir befinden uns mitten in einer spontanen Bewegung von Jugendlichen, von denen nicht erwartet wurde, dass sie dafür verantwortlich fühlen, das zu erreichen, was unsere Generation nicht erreichen konnte“, sagte Hamza, der in seinen 60ern ist.

Die Demonstranten sehen das ähnlich. In Bagdad trug eine Frau mit einem rosa Kopftuch ein Schild mit der Aufschrift: „Letzten Endes habe ich eine Revolution gemacht. Was haben Sie getan?“

AFP: Iraqis wanted to topple the system, but taboos fell instead

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren sowie ein Editorial des Herausgebers.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir sprechen Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie einen unabhängigen Blickzu den Geschehnissen im Nahen Osten.
Bonus: Wöchentliches Editorial unseres Herausgebers!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!