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Die Brücke über den Kishon, oder: Wie in Haifa Geschichte gemacht wurde

Blick auf den Hafen von Haifa (Michael Paul Gollmer/CC BY-SA 3.0)

Sharon Oppenheimer

Es hört sich fast wie ein Wunder an: In rund 40 Minuten beendeten zwei Sikh-Bataillone vier Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft.

Haifa ist heute Israels drittgrößte Stadt, hat den größten Hafen des Nahen Ostens und die kürzeste U-Bahn-Linie der Welt, die Karmelit. 2018 wurde mit Einat Kalisch-Rotem zum ersten Mal eine Frau zur Bürgermeisterin gewählt – vor 100 Jahren wäre das undenkbar gewesen. Vor 101 Jahren sah die Welt ganz anders aus: Haifa war eine verschlafene Kleinstadt mit ein paar Tausend Einwohnern, hatte aber immerhin schon eine Bahnstation. Die kleine Küstenstadt war schon multikulturell, lange bevor das in Mode kam, und wurde von Moslems, Christen, Drusen Juden und Bahai bewohnt. Seit 1914 regierte der legendäre Hasan Bey Shukri als Bürgermeister und spielte eine entscheidende Rolle für die zukünftige Entwicklung der Stadt.

Das alternde Fort Burj al-Salam lag am Rande des heutigen Gan Hazikaron (Garten der Erinnerung). Im Süden der Stadt befand sich die deutsche Kolonie, es gab eine Bierbrauerei und eine Seifenfabrik. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 wurden die Mitglieder der Templergesellschaft aus Schwaben (Südwestdeutschland) zu überzeugten Nationalsozialisten und Nazi-Kollaborateuren.

Die weitläufige Villa von Selim Effendi Khuri bezeugte die Anwesenheit lokaler Feudalherren. An der Küste gab es einen eher unbedeutenden Hafen, Badeplätze und eine Zollstation mit Leuchtturm. Auf dem Berg Karmel gab es nur spärliche Vegetation. Selbst der Bahai-Tempel, das Wahrzeichen Haifas, existierte nicht. Noch gab noch eine osmanische Feudalherrschaft, die Jizya (die Kopfsteuer für Nicht-Muslime) und Sklaverei – auch das eine Realität von 1918.

Aber all das sollte sich sehr bald ändern. Der Erste Weltkrieg war der Beginn vom Ende des zerfallenden Osmanischen Reiches. Allenby gelang das, woran Napoleon 120 Jahre zuvor gescheitert war. Bereits im Jahr zuvor, am 9. Dezember 1917, war Jerusalem in britische Hände gefallen. General Allenby mit einem weiteren Vorstoß noch warten: Die Lage an der Westfront war damals so kritisch, dass seine Elitetruppen nach Frankreich abgezogen wurden. Allenby war gezwungen zu warten, bis neue Einheiten aufgestellt und ausgebildet waren.

Während des Sinai-Palästina-Feldzuges dienten mehr als 95.000 indische Kämpfer in der Britisch-Indischen Armee, von denen im Zuge der Kämpfe rund zehn Prozent fielen. Die indischen Soldaten dienten in der Kavallerie, in Kameleinheiten, in der Infanterie und in Logistikeinheiten. Die Elitetruppen bestanden oft aus Sikhs aus dem Punjab im Nordwesten Indiens. Sie galten als beinahe unschlagbar.

Unterwerfung der Sikhs

Die Briten führten zwei grausame Kriege, um die Sikhs zu unterwerfen und das Reich der Sikhs zu zerstören. Nach dem ersten Sikh-Krieg wurde der Punjab annektiert, nach dem zweiten Sikh-Krieg der Staat vollständig in Britisch-Indien eingegliedert. Der letzte kriegerische und gut organisierte indische Staat wurde ausgelöscht, die märchenhaften Schätze der Sikhs wurden geplündert und entführt. So wurde beispielsweise der Koh-i-Noor, einer der größten Diamanten der Welt, Teil der Kronjuwelen der britischen Königsfamilie (und kann jetzt im Tower bewundert werden), der goldene Thron des Herrschers der Sikh wird in London im Victoria and Albert Museum ausgestellt.

Nach dem blutigen zweiten Sikh-Krieg begannen die Briten, die tapferen Sikhs zu rekrutieren. Von nun an kämpften Sikhs auf den Schlachtfeldern des Empires – wie auch im Ersten Weltkrieg. Spärlich mit Speeren und Schwertern oder seltener mit Gewehren bewaffnet, erzielten die Sikh-Soldaten der 15. Kavalleriebrigade aus Jodhpur, Mysore und Hyderabad sowie das Lahore-Infanterieregiment unglaubliche Erfolge gegen die türkische Armee und deren deutsche und österreichische Verbündete, die mit modernster Waffentechnik ausgestattet waren.

Allenbys erfolgreicher Vorstoß nach Norden begann erst Monate später am 18. September 1918. Die Schlacht von Megiddo begann mit einem Infanterieangriff britischer Streitkräfte auf einer fast ununterbrochenen Linie vom Mittelmeer über die Scharon-Ebene bis zu den Ausläufern der judäischen Berge. Sie rückten gegen die türkische Front vor und eroberten das Hauptquartier der osmanischen achten Armee in Tulkarem. Das Desert Mounted Corps kreiste die feindliche Infanterie in den judäischen Bergen ein und eroberte ihre Hauptnachschub-, Kommunikations- und Rückzugslinien. Bis zum 25. September wurde die osmanische Armee ausgelöscht. Zwei verbliebene Einheiten zogen sich nach Norden in Richtung Damaskus zurück. Kurz nach Mitternacht am 21./22. September wurde das 18. King-George-Kavallerieregiment von einem osmanischen Bataillon auf der Straße von Akko nach Haifa angegriffen. Es besiegte das Bataillon in einem kurzen Kampf und nahm mehr als 200 Gefangene.

Die letzte Kavallerieschlacht

Am 22. September berichtete die Luftaufklärung, dass die osmanische Armee aus Haifa abgezogen sei. Dies stellte sich als falsch heraus, als britische Soldaten durch osmanische Artillerie und Maschinengewehrfeuer gestoppt wurden. Türkische, deutsche und österreichische Truppen kontrollierten die Zufahrtsstraße von Osten zwischen dem Berg Karmel und dem Fluss Kishon. Die Stellung konnte nicht eingenommen werden, da der Kishon auf beiden Seiten von Sümpfen begrenzt wurde, was eine Überquerung unmöglich machte. Am 23. September 1918 wurden die Jodhpur-Lanzenreiter beauftragt, diese Stellung einzunehmen, während die Mysore- Lanzenreiter die Stadt von Osten und Norden angriffen. Eine Staffel von Mysore Lancers und eine Staffel der Sherwood Rangers Yeomanry, unterstützt von der B Battery, Honorable Artillery Company, griffen um 14:00 Uhr die österreichische Stellung an den Hängen des Karmel an. Die Staffel der Mysore Lancers stieg einen steilen Pfad hinauf, um die Geschütze zum Schweigen zu bringen. Unterdessen starteten die Jodhpur Lancers und der Rest der Mysore Lancers den Hauptangriff auf die Nachhut deutscher Maschinengewehre, die die Straße blockierten.

Die Jodhpur Lancers griffen die osmanische Position an und überquerten die Eisenbahnlinie von Akko nach Haifa, kamen aber unter Maschinengewehr- und Artilleriefeuer. Die Türken konnten mit ihren Maschinengewehren jeden Zentimeter des Bodens erreichen. Die Sikh-Soldaten wurden von Treibsand am Flussufer behindert, wo sie die unteren Hänge des Karmels umgehen wollten. Das Regiment war ohne Deckung und wurde von Kanonen von vorne und von der Flanke angegriffen. Major Dalpat Singh Shekhawat, der Held von Haifa, wurde von Kugeln getroffen. Das war der kritischste Moment der gesamten Operation. Sofort übernahm der B-Staff-Kommandant, Captain Bahadur Aman Singh Jodah, das Kommando über das Regiment, das ins Maschinengewehrfeuer ritt. Das Regiment sicherte die feindliche Stellung, nahm dreißig Gefangene, erbeutete zwei Maschinengewehre sowie zwei mit Maschinengewehren bestückte Kamele und öffnete eine Zugangsroute nach Haifa. Die Jodhpur Lancers setzten ihren Angriff in die Stadt hinein fort und überraschten die Verteidiger. Die restlichen beiden Staffeln fuhren die Straße hinunter in die Stadt. Der Angriff war so unerwartet und schnell, dass der Feind nicht genug Zeit hatte, um zu reagieren.

Es klingt fast wie ein Wunder: In weniger als einer Stunde beendeten zwei Sikh-Bataillone vier Jahrhunderte osmanischer Herrschaft. Die mit Speeren und Schwertern ausgestatteten Sikhs besiegten die osmanische Armee und ihre mit modernsten Waffen und schweren Geschützen ausgerüsteten deutschen und österreichischen Verbündeten in rund vierzig Minuten.

Es war die letzte Kavallerie-Schlacht des Ersten Weltkriegs, wahrscheinlich die letzte Kavallerie-Schlacht in der Militärgeschichte, aber sie war sicherlich eine der kürzesten und erfolgreichsten. Die beiden Regimenter machten 1.350 deutsche und osmanische Gefangene. Die Sikhs hatten acht Tote zu beklagen, 34 wurden verletzt, dazu kamen 60 getötete und 83 verletzte Pferde.

Dem Vergessen entreißen

Die Asche der gefallenen Soldaten wurde auf dem Friedhof der indischen Soldaten an der Jaffa Road in Haifa begraben. Bis heute gedenkt Haifa der Inder, die ihr Leben verloren haben. Jahrzehnte lang blieben die Details der Befreiung Haifas im Dunkeln. Der Sieg über die Osmanen war nur vom britischen Empire zugerechnet worden. Dank der Initiative einiger Einheimischer, wie z.B. Igal Graiver, wurde die Geschichte Haifas neu geschrieben. Die Freiwilligen der „Haifa History Society“ haben viele bis her nicht bekannte, bis ins kleinste Detail gehende Fakten zusammengetragen. „Haifa“, sagt Igal Graiver, „ist zu einer Art Mekka für Besucher aus Indien geworden.“

Mittlerweile konnten Familien der Befreier von Haifa ausfindig gemacht werden, und sie kamen von weit her, wie der Enkel von Captain Bahadur Aman Singh Jodah. Die Begegnungen waren sowohl für die Inder, also auch für die Bewohner Haifas immer sehr emotional. Im Jahr 2010 beschloss die Stadt Haifa, jährlich eine Zeremonie für die gefallenen indischen Soldaten abzuhalten, für diejenigen, die namentlich bekannt sind und für die vielen Namenlosen.

Dalpat Singh Shekhawat, Captain Bahadur Aman Singh Jodah, Dafadar Jor Singh und Captain Anop Singh, die Mysore Lancers und die Jodhpur Lancers sind die Helden von Haifa, die nicht nur in den Geschichtsbüchern einen festen Platz gefunden haben.

Die Suche nach Spuren war erfolgreich: Einige Schauplätze konnten entdeckt werden, obwohl sich die Stadt in einem Jahrhundert grundlegend verändert hat. Das berühmte Foto der Sikh-Kavallerie, die nach Haifa reitet, zeigt im Hintergrund den „Pariser Platz“, früher „Hamra-Platz“. Eines der Häuser sieht heute immer noch genauso aus wie damals.

Viel schwieriger war es, den Ort zu identifizieren, an dem Captain Bahadur Aman Singh Jodah und seine Kameraden in den Kugelhagel ritten und ihre Feinde überwältigten. Igal Graiver weist auf eine Brücke aus der türkischen Zeit hin, die in der Nähe eines damaligen Kontrollpostens über den Kishon führt. Der Besuch des Ortes verursacht auch heute, nach so langer Zeit, immer noch Gänsehaut und fühlt sich an wie eine Pilgerreise.

Die Schlacht von Haifa gilt als Meilenstein auf dem Weg zur Unabhängigkeit Israels, aber das britische Imperium hatte andere Pläne: Das Bedürfnis nach Erdöl hatte Vorrang. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, aber auch Verlierer wie das Deutsche Reich, begannen im Nahen Osten mit ihren Machenschaften und schufen damit bis heute anhaltende Konflikte – aber das ist eine andere Geschichte.

(Der Text ist unter dem Titel „The Bridge at the Kishon or how Haifa´s history was rewritten“ bei Arutz Sheva erschienen. Übersetzung für Mena Watch von Florian Markl.)

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