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Die arabisch-jüdischen Unruhen in Israel – Versuch einer Einordnung (Teil 3)

Jüdsiche und arabische Israelis demonstrieren in Tel Aviv für friedliche Koexistenz
Jüdische und arabische Israelis demonstrieren in Tel Aviv für friedliche Koexistenz (Quelle: Twitter Mohd Sajid محمد ساجد)

Mit Sicherheit erweckt das bezüglich Lod entworfene Bild den Eindruck, Israel sei der „Wilde Osten“. Nein, das ist es nicht! Dennoch sind keineswegs ausschließlich jüdisch-arabisch gemischte Städte von den – in Teil 2 – nachgezeichneten Bevölkerungsgruppen und den daraus entspringenden Spannungsfeldern gekennzeichnet.

Es gibt Städte, in denen man davon kaum etwas oder gar nichts mitbekommt, während es in anderen Ortschaften manchmal nur in einigen Stadtvierteln spürbar ist, so wie beispielsweise in Be´er Sheva.

Be´er Sheva ist eine knapp 200.000 Einwohner zählende Großstadt, die kaum arabische Einwohner zählt, aber in deren Einzugsgebiet mehr beduinische Bürger leben als die Stadt Einwohner hat. Auf der Hauptpost dieser Stadt trifft man auf alle bislang porträtierten Gruppen, aber im Alltag sind Spannungsfelder manchmal durchaus ganz anders gelagert.

Heimliche Allianzen

Manchmal hört man auf dem genannten Postamt mehr Arabisch und Russisch als Hebräisch. Darunter mischt sich Französisch und Spanisch der Neuweinwanderer, die aufgrund der langen Wartezeiten genervt sind wie alle andere. So auch ein älterer, offensichtlich aus Äthiopien eingewanderter Herr, der gerade wütend wird, weil ihm eine Frau den Sitzplatz weggeschnappt hat. Doch er kommt gar nicht dazu, auf Amharisch sein patriarchales Vorrecht einzuklagen, da ein dem Alter Respekt zollender Beduine ihm sofort seinen Platz anbietet.

Eine Frau in Minirock bemerkt, dass sie unter all den Kopftüchern, Perücken und Schleiern in der Minderheit ist. Ihr ist klar: Viele der anwesenden Männer werfen Blicke und tatsächlich rücken ihr schon bald zwei Jugendliche näher. Das bleibt einer anderen Frau nicht verborgen. Indem sie sich schützend an die Seite der westlich gekleideten Frau setzt, bremst sie die Halbstarken aus. Ihr werden sie keinen Millimeter zu nahe rücken, da kann sie sich als Niqab tragende Beduinin sicher sein (über Hidschāb gezogener Schleier, der nur die Augen freilässt).

An einem Schalter wird es unterdessen laut. Dass ein weiteres Dokument zur Umschreibung seines Autos erforderlich ist, versteht der Mann erst als jemand hilft. „Nein, so ein Papier hat er nicht bekommen, als er vor einigen Jahren aus Gaza hierherkam“, meint der übersetzende Beduine. Überall tobt und plärrt es. Können Ultraorthodoxe und Beduinen nicht einmal ihre Kinderschar daheimlassen? Obwohl das viele Erwachsene sichtlich stört, nehmen sie dennoch auch mit jenen Kindern, die ihnen auf die Füße hopsen, lächelnd Kontakt auf.

Gemeinsam in einem Boot

Alle haben brav eine Nummer gezogen. Ein Mann, der wegen seiner Behinderung ohne zu warten drankommt, löst allgemeinen Unmut aus. Über diese empfundene Bevorzugung wird sich ebenso einhellig – verbal oder gestikulierend – moniert, wie man gemeinschaftlich die Schilder ignoriert, dass Telefonieren nicht erlaubt sei.

Doch noch etwas eint die heterogene Menge: Die Angst davor, in Situationen zu geraten, die sich in Be´er Sheva und Umgebung häufiger abspielen. Immer wieder fallen Schüsse, abgegeben aus Waffen, die mit oder ohne Genehmigung geführt werden. Zugleich schürt diese Angst, das gegenseitige Misstrauen. Wer weiß, vielleicht hat ja einer der Wartenden trotz Kontrollen eine illegale Waffe ins Postamt reingeschmuggelt?

Unbeteiligte Mehrheit?

Nur wenige Tage nach Abflauen der – in Teil 1 geschilderten – Unruhen war Israels öffentliche Sphäre wieder quicklebendig. Genauso wie zuvor trifft man alle Bevölkerungsgruppen an, neben- wie auch miteinander, friedfertig und friedvoll, denn bei diesem Publikum handelt es sich um eben jenes „normative Israel“ – jüdisch wie arabisch –, das sich nicht randalierend und mordend in den Straßen tummelte.

Staatspräsident Reuven Rivlin meinte inmitten der Tumulte, dass das Schweigen (und die Erstarrung) der Mehrheit mit dem Schock zu erklären seien. Doch längst nicht alle schwiegen oder waren unbeteiligt.

Denn: Mit vereinten Kräften schützten jüdische und arabische Nachbarn einander. Jüdische wie arabische Verletzte wurden von jüdischen und arabischen Ärzten versorgt. Jüdische wie arabische Bürger gingen inmitten der aufgeheizten Atmosphäre überall auf die Straße, um für eine gemeinschaftliche Gesellschaft zu demonstrieren. Gemischte Teams unzähliger Firmen stellten Gruppenaufnahmen von sich mit mehrsprachigen Schildern und Plakaten ins Netz, um gelebte Ko-Existenz zu veranschaulichen.

Allerdings machten auch Aufrufe anderer Art die Runde: „Auch ich schließe mich der Initiative an: Stellt keine Araber mehr ein! Unser Geld bekommen sie nicht mehr“, hieß es da genauso wie: „Kauft nur noch in unseren Supermärkten ein. Kein Geld von Arabern für jüdische Geschäfte!“

Gegenseitige Wahrnehmung

Wir alle kennen es, dieses gewisse Gefühl, das man nicht loswird, wenn einem etwas Unschönes widerfährt; diese individuelle Wahrnehmung, die sowohl zutreffend als auch unbegründet sein kann, aber dennoch da ist. Auf den israelischen Kontext übertragen kann das bedeuten: Ein arabischer Arzt meint, seine Beförderung bleibe aus, weil in der Krankenhausleitung mehrheitlich Juden vertreten sind. Oder ein jüdischer Kunde glaubt, der arabische Arbeiter habe absichtlich gepfuscht, um ihm eins auszuwischen.

Man kann das endlos fortsetzen. Ausschlaggebend ist, dass solche Gefühle selten verstummen. Zugleich reflektieren sie nicht nur gesellschafts-politische Spannungsfelder, sondern können sie weiter schüren; früher im kleinen Umkreis von Familie und Gemeinde, heutzutage via soziale Medien, wo sie ungleich mehr Menschen erreichen.

Wirft man einen Blick auf Umfragen, die sich mit der gegenseitigen Wahrnehmung von jüdischen und arabischen Bürgern Israels befassen, sind es widersprüchliche Stichworte wie Entfremdung, Zurücksetzung, Misstrauen und Bedrohung auf der einen, Identität, Selbstbestimmung und Integration auf der anderen Seite, die für beide Seiten gleichermaßen eine Rolle spielen.

Solche Studien legen offen, dass es beiden Seiten an Kenntnissen zu Geschichte und Leid des anderen mangelt. Ein Drittel der Araber des Landes glaubt, der Holocaust habe nie stattgefunden. Rund die Hälfte der jüdischen Bürger glaubt das bezüglich der „Naqba“ genannten Flucht und Vertreibung rund um die Staatsgründung Israels.

Die Mehrheit der arabischen Bürger akzeptiert aus pragmatischen Erwägungen den jüdischen Staat; die jüdische Öffentlichkeit akzeptiert aus ähnlich pragmatischen Erwägungen die persönlichen und kulturellen Rechte der arabischen Öffentlichkeit. Dennoch weist die Mehrheit jeder Seite spezifische Narrative der anderen Seite und damit auch identitätsstiftende Merkmale zurück.

Zu fast gleichen Prozentsätzen hört man von der jüdischen wie der arabischen Seite, dass der jeweils andere für direkt zugefügtes Leid verantwortlich sei. Rund zwei Drittel der jüdischen Bürger sehen von Besuchen arabischer Ortschaften lieber ab und ein Drittel ist vom Ko-Existenz-Gedanken angetan – während über 50% der arabischen Bürger Juden grundsätzlich misstrauen.

Israel hat sich verändert

Vor etlichen Jahren zeichneten sich positive Veränderungen ab. Negative individuelle Erfahrungen wurden immer umfassender durch positive Erlebnisse ausgeglichen. Verhaltene Hoffnung kam auf, die jedoch durch Entwicklungen und Prozesse auf anderen Ebenen erschüttert wurde. Letztlich sorgten viele dieser Entwicklungen und Prozesse dafür, dass Klüfte sich teilweise sogar zu vertiefen schienen.

Eine Demokratie lebt vom Mehrheitsprinzip wie vom Schutz der Minderheit. Doch was in Israel für die eine Seite stolze Akte der Aufwertung des jüdischen Charakters des Staates sind, sind für die andere Seite Akte ihrer Abwertung. Deutlicher gesagt: Nicht nur den Politikern, sondern der jüdischen Gesellschaft hätte zu denken geben sollen, dass sogar die seit 1948 loyal an der Seite Israels stehenden Drusen das Nationalstaatsgesetz als verletzende Degradierung empfunden haben.

Doch auch die Minderheit hat keinen Freifahrtschein. Im Zuge der Abhaltung von freien und demokratischen Wahlen in die Knesset einziehende arabische Abgeordnete sollten sich fragen, welche Botschaften sie aussenden, wenn sie im Parlament wieder und wieder Israel rundweg absprechen, eine Demokratie zu sein oder gar eine Intifada fordern.

Und damit sind wir wieder bei diesem Push-Me-Pull-Me: Keine Seite kann ohne die andere, keine Seite will so recht mit der anderen und doch, ob es einem nun passt oder nicht: Keiner wird hier weggehen.

Prüfstand Verbrechensahndung

Inzwischen sind 1.550 Verdächtige festgenommen, die an den Ausschreitungen teilgenommen haben sollen. Es gibt auch schon erste Ermittlungserbnisse bezüglich schwerwiegender Vergehen, darunter Lynchattacken. Bei 70% der Festgenommenen handelt es sich um arabische Israelis, gegen rund 150 Personen, darunter 30 jüdische Bürger, wurde bereits Anklage erhoben.

Dass die Wogen manchmal auch ohne Al-Aqsa-Moschee und Beit-Yisrael-Synagoge hochschlagen – obwohl zweifelsohne auf beiden Seiten religiöse Aspekte eine Rolle spielen – veranschaulicht, dass 85% der festgenommenen arabischen Bürger laut behördlicher Angaben bereits Strafregistereinträge haben, also aus dem (klein)kriminellen Milieu kommen.

Bislang ist nur ein Bruchteil der Straftäter gefasst. Vorprogrammiert ist: Jeder einzelne Prozess wird das altbekannte Misstrauen schüren und erst recht das Potenzial bergen, ideologisch ausgeschlachtet zu werden. Genau das geschieht bereits in Zusammenhang mit den Verhaftungen. Eine Seite spricht von „Hexenjagd gegen die Minderheit“, die andere Seite prangert an, dass „Akte der jüdischen Selbstverteidigung“ als Verbrechen mit rassistischem Hintergrund“ vor Gericht kommen sollen.

Israel wird sich nicht nur um vertrauensbildende Maßnahmen, um Rückkehr zu einem mit Respekt geführte Dialog und um seine unzähligen Oasen der Koexistenz kümmern, sondern sich – endlich auch selbstkritisch – mit den ideologischen Scharfmachern seiner beiden Entitäten auseinandersetzen müssen. Gefordert ist beileibe nicht nur die Politik, sondern jeder Einzelne; und das nicht nur im unmittelbaren Lebensumfeld, wenngleich das sicherlich ein guter Anfang wäre.

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Die arabisch-jüdischen Unruhen in Israel – Versuch einer Einordnung (Teil 1)

Die arabisch-jüdischen Unruhen in Israel – Versuch einer Einordnung (Teil 2)

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