Die zehn Irrtümer der Betreuungsindustrie in Afrika

(VOLKER SEITZ) 1. Irrtum:  „Entwicklungsländer erhalten zu wenig Geld“: Alle sollten innehalten und reflektieren, was wir in der Entwicklungshilfe eigentlich tun. Getan wird viel, aber es gibt keine systematische Bestandsaufnahme, geschweige denn Wirkungsanalysen. Es sollte nicht mehr auf anspruchsvolle und überprüfbare Ziele verzichtet werden. Lediglich mehr Geld zur Verfügung zu stellen, heißt noch lange nicht, dass es bei den Menschen ankommt und dass die Projekte sinnvoll sind.

Die Entwicklungsarbeit stößt dort an Grenzen, wo die afrikanischen Regierungen nur am Machterhalt und Bereicherung und nicht am Gemeinwohl interessiert sind.

Es gibt in der Entwicklungshilfe viel mehr Geld zu verteilen, als annähernd sinnvoll ausgegeben werden kann. Immer mehr Geld zu fordern ohne Ausstiegsklauseln wegen Verstoß gegen den Menschenrechts-TÜV des BMZ oder gegen Transparenzregeln fügt den Menschen in Entwicklungsländern großen Schaden zu. Es ist immer dasselbe: mehr Geld muss dann auch um jeden Preiss ausgegeben werden, damit wir dieses törichte 0,7-Ziel (Prozentsatz des Nationaleinkommens (BNE) als Entwicklungshilfe) erreichen. Das rituelle Beschwören der 0,7 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, die wir für Entwicklungshilfe bereitstellen sollen, ist an Ideenlosigkeit kaum zu unterbieten. Das Schlimmste an „0,7“ ist, dass es die Richtigkeit der Gleichung „mehr Geld = mehr Entwicklung“ suggeriert. Mit weniger Geld für besonders fördernswerte Länder, d.h. mit Führungen, die den Rechtsstaat achten und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, würden wir die Länder endlich in die Unabhängigkeit von entwürdigender Hilfe entlassen.

2. „Afrika braucht einen Marshallplan“: In den vergangenen Jahrzehnten haben die Industriestaaten den Entwicklungsländern Milliarden zur Verfügung gestellt. Auch private Spendenaufrufe für wechselnde hehre Ziele gehören zu unserem Alltag.

George Ayittey ist einer der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler Afrikas. Er schreibt: „Afrika zu helfen ist ehrenwert, und dem Kontinent muss geholfen werden. Aber die Aktion ‚mehr Hilfe‘ ist derart von Rührseligkeit, Hyperkorrektheit und postkolonialen Schuldgefühlen geprägt, dass Pragmatismus, Vernunft und Effizienz auf der Strecke bleiben. Regierungen, Entwicklungshilfeorganisationen und Privatpersonen sind nach Afrika gegangen, um Menschen zu helfen, die sie nicht verstehen. Sechs Marshallpläne wurden seit 1960 ohne erkennbares Ergebnis nach Afrika gepumpt. Die ganze Übung erinnert an einen Ahnungslosen, der einen Blinden führt.“

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton, erklärte am 16. Juni 2016 in der NZZ: „Ein Land von außen zu entwickeln ist unmöglich. Länder entwickeln sich von innen. Dazu braucht es eine Regierung und eine Bevölkerung, die gemeinsam auf ein Entwicklungsziel hinarbeiten.“

3. „Viele Staaten sind Demokratien“: Viele Staaten sind immer noch weit davon entfernt, den Ansprüchen eines demokratischen Rechtsstaates zu genügen. Die Regierung – die sich als Hüter der Stabilität präsentiert – kontrolliert oft große Teile der Presse und kann die staatliche Infrastruktur für ihren Wahlkampf nutzen. Die meisten Länder sind von echter Gewaltenteilung weit entfernt. Teilhabe an demokratischen Entscheidungsprozessen beschränkt sich in der Regel darauf, Repräsentanten zu wählen. Freie und allgemeine Wahlen sind aber nur dann demokratisch wirkungsvoll, wenn sie in gesicherte Bürgerrechte und Gewaltenkontrolle eingebettet sind. Demokratie erzeugt nicht automatisch fairen sozialen Ausgleich und Wohlstand, das leisten nur soziale Demokratien.

Aber auch eine demokratische Ordnung ist allein noch keine Garantie für die Herstellung sozial und politisch gerechter Verhältnisse. Anfang der 90er Jahre wechselten viele afrikanische Staaten zu formaler Demokratie. Mit wenigen Ausnahmen (Eritrea, Somalia, Swasiland) führen afrikanische Länder heute Wahlen mit mehreren Parteien durch. Dennoch waren auch diese Demokratien kein Allheilmittel für die immer deutlicher werdenden Probleme Afrikas. Statt eine Politik für das Gemeinwohl zu betreiben, waren die neuen, gewählten Politiker kaum weniger hinter ihrem persönlichen Profit her. Eine funktionierende Demokratie hängt aber von mehr ab als den Wahlzetteln in der Urne. Sie braucht Respekt für geltende Gesetze, funktionierende und gerechte Strukturen sowie einen freien Informationsfluss. In Gambia gibt es Wahlen, dennoch ist es eine finstere Diktatur. Aber nur in wenigen Staaten (Ghana, Sambia, Mauritius, Kap Verde, Senegal, Seychellen) ist die Fairness der Wahl so groß, dass die Opposition eine reelle Chance hat, die Mehrheit der Sitze zu erringen. In anderen Staaten ist zu befürchten, dass die Bekanntgabe des Ergebnisses zu Turbulenzen führt – unabhängig davon, wer zum Sieger erklärt wird.

4. „Afrikanische Regierungen haben in den letzten Jahren ihre gute Regierungsführung weiterentwickelt“: Die meisten Staaten sind von Machtmissbrauch zerrüttet. Die Traditionen und Herrschaftsstrukturen haben die vergangenen zehn Jahre überdauert. Es fehlt an Respekt vor den Rechten lokaler Gemeinschaften. Afrikanische Autokratien haben kein Interesse daran, dass ihr Handeln öffentlich diskutiert und durchleuchtet wird. Viele afrikanische Politiker haben kein Zukunftsbild, das dem gesellschaftlichen Zusammenhalt Rechnung trägt. Leider grübeln afrikanische Politiker zu wenig über die Herausforderungen der Zukunft ihrer Länder nach. Sie halten nicht inne und reflektieren, was sie eigentlich tun bzw. nicht tun.

Es gibt keine systematische Bestandsaufnahme, geschweige denn ein stärkeres Engagement zum Nutzen der breiten Bevölkerung. Nur wenn die Bevölkerung mitbestimmen kann und Gestaltungsräume hat, fühlt sie sich verantwortlich und motiviert. Es fehlt oft an transparenten und wirksamen Überprüfungs- und Rechenschaftsmechanismen. Auch die Instandhaltung bleibt eine wichtige Herausforderung. Afrikanische Regierungen müssen eine Kultur der Instandhaltung entwickeln. Fast überall gibt es Managementprobleme z.B. bei Instandhaltung der Bildungs- und Krankenhausinfrastruktur. Es mangelt an klaren Richtlinien und Verantwortlichkeiten. Der Staat hält sich diskret im Hintergrund, wenn es um die Versorgung der Bevölkerung geht.

5. „Die Afrikanische Union (AU) ist ein Motor für Frieden und Demokratie in Afrika“: Leider nein, denn etwa ein Drittel der afrikanischen Mitgliedstaaten verweigert der AU eine ernsthafte und aktive Mitarbeit. Das fängt damit an, dass die Mitgliedsbeiträge nicht oder nur schleppend bezahlt werden. Die „African Charter on Democracy, Governance and Elections“ haben nach fünf Jahren erst 15 der 54 Mitgliedstaaten ratifiziert. Andere zentrale Rechtsdokumente über Frauenrechte, Antikorruptionspolitik und verantwortliches staatliches Handeln (NEPAD) werden nicht ernst genommen und verschleppt.

6. „Einer der größten Wettbewerbsvorteile Afrikas ist die stark wachsende junge Bevölkerung“: Eine junge Bevölkerung wirkt sich aber für afrikanische Länder nur positiv aus, wenn sie die Perspektive auf sichere Arbeitsplätze hat. Das vielgepriesene Bevölkerungswachstum ist derzeit kein Vorteil, sondern eine gewaltige Herausforderung. Die Geburtenrate in Afrika beträgt 4,7 Kinder pro Frau. In Asien liegt sie bei 2,2. Experten rechnen mit einer Bevölkerungsverdoppelung in Afrika bis 2050.

Nach einer Studie der Weltbank werden in den nächsten zehn Jahren 11 Millionen junge Leute unter 25 Jahren auf den Arbeitsmarkt drängen, für die nicht ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Heute sind nach UN-Angaben 60 Prozent der 15- bis 24-Jährigen in Afrika arbeitslos. Diese hohe Zahl Jugendlicher ohne Zukunftsperspektive bleibt ein ernstes Problem für den Kontinent und wegen der Flüchtlingsströme auch für Europa.

7. „Das stetige afrikanische Wirtschaftswachstum schafft Wohlstand“: Afrika ist ein extrem reicher Kontinent. Es gibt Rohstoffe und Mineralien in Fülle, viel mehr als etwa in Europa. Das Bruttosozialprodukt ist ein irreführender Indikator für die Wirtschaftsleistung oder gar den sozialen und politischen Fortschritt eines Landes. Wenn man in afrikanischen Staaten einen Laden betritt, findet man so gut wie nichts, was im Lande hergestellt wurde. Einheimische Eliten bereichern sich an Importlizenzen für ausländische Produkte.

Westliche Analysten verbreiten aufgrund von Bruttosozialprodukt und Konsumkraft einer kleinen, aber zahlungskräftigen Oberschicht den surrealen Optimismus vom afrikanischen Aufschwung. Das rasche Wirtschaftswachstum durch die natürlichen Ressourcen ist bisher ohne Nutzen für die meisten Menschen in Afrika. Die Zukunft ist nicht rosig, solange die Lebensqualität für die durchschnittliche Bevölkerung sich nicht erhöht. Im Gegenteil, die Mehrzahl der Afrikaner wird immer ärmer. Die Schere zwischen Arm und Reich in Afrika halte ich für demokratiegefährdend. Der Kontinent bleibt Rohstofflieferant. Mangels Transparenz profitiert vom Export der Rohstoffe aber nur eine kleine Elite. In Mosambik, Angola, Sierra Leone und Kongo hat der Rohstoffreichtum sogar Bürgerkriege verursacht und finanziert.

Nur wenige Staaten wie Südafrika und Botswana nutzen ihre Rohstoffe für eine industrielle Entwicklung. Die Probleme können nicht alleine durch staatliche Intervention gelöst werden, sondern die Stimulierung des Unternehmertums muss im Vordergrund stehen. Dann werden auch die sozialen Probleme infolge der Arbeitslosigkeit gelöst werden.

Nigeria hat 112 Millionen Arme, und dies in einem Land, das hunderte Milliarden Euro mit dem Handel von Öl verdient. Ohne ein Mindestmaß an Veredelung der Rohstoffe und die Entwicklung eines produzierenden Gewerbes dürfte es in Afrika kaum eine industrielle Revolution nach dem Vorbild Asiens geben. Für die Veredlung der Bodenschätze fehlt ein „Mittelbau“ aus Ingenieuren, technischen Mitarbeitern und ausgebildeten Facharbeitern in technischen Berufen sowie eine regelmäßige Stromversorgung.

8. „Der Handel in und mit Afrika sorgt für den Aufschwung“: Leider bleibt der Warenfluss in Afrika ein wesentlicher Schwachpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung. Unzureichende oder fehlende Bahn- und Straßenverbindungen sind das Hauptproblem beim Warentransport in Subsahara-Afrika. Hinzu kommen Hindernisse wie tagelange Abfertigung an Grenzübergängen, Korruption und Straßensperren.

Über 50 Prozent der durchschnittlichen Endpreise von Malawis Exportgütern ergibt sich aus den Transportkosten. Nach neueren Analysen der Weltbank kommt es immer wieder zu Mangelversorgung und Nahrungsmittelkrisen in Afrika, weil Lebensmittel wie Mais und Reis aufgrund politischer und bürokratischer Hemmnisse nur eingeschränkt zwischen den Ländern transportiert werden können.

9 „‚Wir‘ müssen die regionale Integration der afrikanischen Staaten vorantreiben“: Hohe Hürden wie Handelszölle und fehlende Infrastruktur erschweren den Warenfluss. Es ist heute einfacher, Waren aus Europa nach Angola zu importieren, als von Südafrika aus. Afrika muss wirtschaftlich an Fahrt gewinnen, die Länder müssen weitaus enger zusammenarbeiten. Diesen Refrain kennt man, aber es ändert sich nichts. Debatten über diese wichtigen Fragen finden in Afrikas Parlamenten kaum statt. Bis heute haben die lokalen Entscheidungsträger den intraregionalen Handel vernachlässigt. Er beträgt nur 10 Prozent des Handels in Afrika. Innerafrikanische Schranken und die Tatenlosigkeit der Machteliten kosten wichtige Marktanteile. Vereinbarungen mit den unmittelbaren Nachbarn werden – nach Untersuchungen des südafrikanischen Instituts IDASA – nicht umgesetzt. Hohe Bestechungsgelder und stundenlange Wartezeiten an Kontrollpunkten bremsen den Handel.

In einer Untersuchung für die Staatschefs der Afrikanischen Union vom Januar 2012 steht: „Innerafrikanische Grenzformalitäten sind bürokratisch, kostspielig und langsam. Die Transportkosten innerhalb Afrikas sind durchschnittlich 63 Mal höher als in den Industrienationen”. Aufgrund der politischen Konflikte handeln viele afrikanische Länder heute mehr mit Europa oder den USA als mit ihren direkten Nachbarn. Ökonomische und politische Strukturen müssen stärker auf die benachbarten Regionen ausgerichtet werden und weniger auf den Weltmarkt. Dies ist aber ein endogener Prozess, der von außen nur unterstützt werden kann.

10. „Die Industrieländer sind an den Hungersnöten in Afrika schuld“: Afrika hat alle Voraussetzungen, sein Ernährungsproblem zu lösen und könnte binnen einer Generation zum Selbstversorger werden. Für Weizen, Reis, Mais oder Sojabohnen sind viele Flächen ungeeignet. Traditionelle Getreidesorten wie etwa Hirse sowie Yams oder der Brotfruchtbaum gedeihen jedoch vorzüglich. Die afrikanischen Staaten müssen deutlich mehr gegen Hunger und Unternährung tun. Wer die Armut bekämpfen will, muss die Landwirtschaft fördern, insbesondere die Leistungsfähigkeit der Kleinbauern stärken. Es macht keinen Sinn, Lebensmittel zu importieren, die es im Land selbst gibt.

60 Prozent der potenziell landwirtschaftlich nutzbaren Fläche weltweit liegen laut Weltbank in Afrika. Obwohl es noch große Reserven an erschließbaren Agrarflächen gibt (in Afrika befinden sich 27 Prozent aller fruchtbaren Böden der Erde), führen afrikanische Staaten jährlich Lebensmittel im Wert von 50 Milliarden US Dollar ein. In nur wenigen Ländern wird die Landwirtschaft gefördert. Die angolanische Volkswirtschaft ist in allen Bereichen auf Importe angewiesen. Darunter Grundnahrungsmittel wie Reis, Eier, Gemüse (Knoblauch, Zwiebeln, Kartoffeln, Süßkartoffeln, Tomaten, Kohl, Mais und Maniok) und sogar Früchte (Mango, Bananen und Ananas).

Dort, wo es Hungersnöte gibt, beruhen sie vornehmlich auf sozialer Ungerechtigkeit und nicht auf dem Unvermögen, ausreichend Nahrungsmittel zu produzieren. Bis heute kann nicht von guten politischen/institutionelle Rahmenbedingungen gesprochen werden. Mangelnde Finanzinstrumente (z.B. Genossenschafts- oder Agrarbanken) ermöglichen den Kleinbauern nicht, zu klein- oder mittelständischen Unternehmen zu werden. So entstehen freilich auch keine Arbeitsplätze, die so dringend für die Beschäftigung von jungen Menschen nötig wären.

(Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Buches „Afrika wird armregiert“, das im Herbst 2014 in erweiterter siebter Auflage bei dtv erschienen ist.)

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