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Deutschland, die Palästinser und das Gerücht der Denkverbote

Behauptet, in Deutschland gebe es Denkverbot für Israelkritik: die US-Philosophin Judith Butler
Behauptet, in Deutschland gebe es Denkverbot für Israelkritik: die US-Philosophin Judith Butler (Imago Images / Pond5 Images)

In ihrem neuesten Essay behauptet die Philosophin Judith Butler, in Deutschland herrsche ein Denkverbot für Israelkritik Unterstützung erhält sie dabei von zahlreichen Aktivisten.

Robert Meyer

In ihrem Essay The Compass of Mourning in der London Review of Books hat die amerikanische Philosophin Judith Butler ihre Gedanken zum Hamas-Massaker in Israel und zur israelischen Militäraktion in Gaza dargelegt. Im Einklang mit ihren früheren Schriften über eine Ethik der Gewaltlosigkeit prangert sie die Gewalt auf beiden Seiten an, versucht aber gleichzeitig, den Terror der Hamas auf die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel zurückzuführen. 

Diese »Kontextualisierung«, wie Butler es nennt (das Wort kommt in dem relativ kurzen Text insgesamt elf Mal vor), des von der Hamas verübten Blutvergießens soll nahelegen, dass es sich bei dem Text um eine differenzierte Einordnung handelt. Andere Aspekte, die für eine solche Kontextualisierung wichtig wären wie der unverhohlene Antisemitismus in der Ideologie der Hamas, der jahrzehntelange Terror gegen Israel und seine Bürger, die aggressive Rolle des Irans oder die Vertreibung der Juden aus fast allen arabischen und nordafrikanischen Staaten vor und nach der Gründung des Staates Israel erwähnt Butler jedoch nicht. Ihr Artikel ist also zumindest eine selektive Kontextualisierung, die zu Recht angezweifelt werden kann. 

Am 26. Oktober verglich sie dann in einem Interview mit der Online-Medienplattform Democracy Now! nicht nur das Vorgehen Israels mit jenem von Nazi-Deutschland, sondern stellte sogar die provokante Frage, ob die Hamas nicht eher als »bewaffneter Widerstandskampf« denn als terroristische Gruppe bezeichnet werden sollte.

So sehr sich Butler bei der Beschreibung der Situation im Nahen Osten von ihren Projektionen leiten lässt, so sehr ist das, was sie über Deutschland schreibt, von der Realität entfernt. In ihrem Essay behauptet sie allen Ernstes, es gebe in Deutschland ein »Denkverbot« (sie verwendet ausdrücklich das deutsche Wort), die »israelische Militärherrschaft über die Region« als Besatzung, Apartheid oder Kolonialismus zu bezeichnen. Nicht nur die Ungenauigkeit in der Beschreibung ist bezeichnend – spricht sie über Gaza, das Westjordanland, die Situation der israelischen Araber oder den gesamten Nahen Osten? –, sondern es ist auch nicht mehr als ein Gerücht, dass es in Deutschland solche Denkverbote gäbe. Leider ist dieses Gerücht sehr weit verbreitet, vor allem im progressiven amerikanischen Diskurs.

Keine Kriminalisierung

Vielen Amerikanern fällt es nicht leicht zu verstehen, dass das amerikanische Konzept der »freedom of speech« nicht einfach auf Deutschland übertragen werden kann, wo die Redefreiheit in der Regel viel strengeren Grenzen unterliegt. Das hat nichts mit Zensur oder Illiberalismus zu tun, sondern ist eine Reaktion auf die historische Erfahrung, als die Nationalsozialisten Propaganda und Straßenpräsenz nutzten, um an die Macht zu kommen. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit bei akuter Gefährdung des »öffentlichen Friedens« gehört daher zum Konzept der »wehrhaften Demokratie«, auf dem das deutsche Grundgesetz beruht. 

Dieses Vorgehen, das darauf abzielt, Hasspropaganda aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen, kann man durchaus kritisieren. Absurd wird es jedoch, wenn die Einschränkung der Meinungsfreiheit nur dann beklagt wird, geht es um das Recht, Israel zu hassen; Intellektuelle wie Butler würden vermutlich nicht für das Recht von Neonazis eintreten, mit »Sieg Heil!«-Rufen durch deutsche Straßen zu marschieren.

Stattdessen wird, geht es um Israel und die Palästinenser, nicht nur die Einschränkung der Meinungsfreiheit beklagt, Butler behauptet sogar eine Einschränkung des Denkens – ein Gerücht, das lächerlich wäre, würden es nicht so viele glauben. Deutsche Aktivisten sind am Verbreiten dieses Gerüchts wesentlich beteiligt wie zuletzt etwa der Berliner Journalist Hanno Hauenstein, der auf seinem Twitteraccount ein Video postete, das zeigt, wie die bekannte antizionistische, deutsch-israelische Aktivistin Iris Hefets von Polizisten abgeführt und in einen Streifenwagen gesetzt wird.

In der Bildunterschrift heißt es außerdem, die Aktivistin sei »verhaftet« worden. Hauensteins Kommentar zu dem Video, das von über fünftausend Personen gelikt wurde, lautete: »Derzeit kriminalisiert Deutschland jeden Juden, Palästinenser oder Israeli, der sich gegen die israelische Apartheid und die Tötung unschuldiger Zivilisten in Gaza ausspricht. […] Ich schäme mich so sehr, ein Bürger dieses Landes zu sein.« 

Das Problem dabei ist der Umstand, dass hier Fake News verbreitet werden, denn in Deutschland wird niemand für Kritik an Israel kriminalisiert. Punkt. Es ist unmöglich, auch nur einen einzigen Fall zu nennen, in dem jemand wegen Kritik an der Politik Israels verhaftet oder bestraft worden wäre, denn das deutsche Grundgesetz ist sehr eindeutig, was die Bedeutung der Meinungsfreiheit angeht.

Was geschah also wirklich mit der antizionistischen Aktivistin? Für die Antwort müssen wir ein wenig tiefer graben. Nach nunmehr jahrelanger Erfahrung mit Anti-Israel-Demonstrationen anlässlich bewaffneter Konflikte im Nahen Osten wurden einzelne Kundgebungen in mehreren deutschen Städten vorübergehend verboten, weil die Befürchtung bestand, dass sie zu gewalttätigen Übergriffen anstiften und den öffentlichen Frieden stören könnten. 

Hetze mit Folgen

Diese Befürchtungen sind nicht aus der Luft gegriffen, schließlich hat es in den letzten Jahren immer wieder Vorfälle mit eindeutiger antisemitischer Hetze bei solchen Kundgebungen gegeben. In Berlin rief 2014 ein wütender Mob »Jude, Jude, feiges Schwein, komm raus und kämpf allein!«; in Dortmund und Frankfurt riefen Menschen »Hamas Hamas, Juden ins Gas!« und in Essen skandierten Dutzende »Scheiß Juden!«

Natürlich gingen diese Parolen nicht von allen Demonstranten aus, und es liegt nahe, dass islamistische und türkisch-nationalistische Aktivisten hier eine entscheidende Rolle spielten. Dennoch waren diese und ähnliche Kundgebungen in späteren Jahren antisemitische Manifestationen, welche die »öffentliche Ordnung« und insbesondere Juden und jüdische Einrichtungen in Deutschland bedrohten und einschüchterten. 

Der öffentliche Raum war für Juden während dieser Kundgebungen nicht sicher. In Wuppertal griffen drei Personen, die am Nachmittag an einer solchen teilgenommen hatten, in der folgenden Nacht die örtliche Synagoge mit Molotowcocktails an. Im nachfolgenden Prozess wurden sie vom Vorwurf des Antisemitismus freigesprochen und kamen mit Bewährungsstrafen davon. In Mannheim wurde nachts das Fenster der Wohnung eines bekannten jüdischen Aktivisten eingeschlagen, der sich öffentlich gegen Antisemitismus engagiert. In Berlin wurde der deutsch-israelische Komiker Shahak Shapira in der U-Bahn von sieben Männern zusammengeschlagen, die er zuvor für das Singen antisemitischer Lieder kritisiert hatte. Die Hetze, die bei solchen Kundgebungen stattfindet, ist nicht nur rhetorisch.

Denn diese Hetze hat Folgen, auch heute. Innenministerin Nancy Faeser gab am 20. Oktober bekannt, dass bei Protesten zum Nahostkonflikt in Deutschland bereits mehr als 1.100 Straftaten registriert worden waren. Obwohl 46 Kundgebungen verboten waren (129 wurden regulär abgehalten), gab es illegale Versammlungen, die oft äußerst aggressiv abliefen bis hin zu Gewalt gegen Polizisten, brennenden Barrikaden und offener Parteinahme für die Hamas.

Im Zusammenhang mit diesen Auseinandersetzungen kam es auch wieder zu antisemitischer Gewalt. In Berlin wurden Molotowcocktails auf die Synagoge Kahal Adass Jisroel geworfen und ein hebräisch sprechendes Ehepaar auf offener Straße mit Feuerwerkskörpern angegriffen. In Chemnitz wurde ein 55-jähriger Mann am Rand einer Pro-Israel-Kundgebung zu Boden gezogen und getreten. Ein ähnlicher körperlicher Angriff ereignete sich auch in HamburgIn Gießen wurde ein Israeli, der als Zeichen der Solidarität eine israelische Flagge auf seinem Balkon angebracht hatte, sogar in seiner eigenen Wohnung angegriffen. 

Leider wird dies wohl nicht das Ende einer Reihe von antisemitischen Übergriffen sein. Es ist verständlich und notwendig, dass der deutsche Staat solche Kundgebungen, bei denen vor diesem Hintergrund mit Aufrufen zu Gewalttaten zu rechnen ist, nicht tolerieren kann.

Ein offener Brief

Was geschah also mit der antizionistischen Aktivistin Iris Hefets in Berlin, die angeblich wegen ihres Protestes verhaftet wurde? Das ist ganz einfach und wenig spektakulär. Die Demonstration, die sie für den Verein Jüdische Stimme für Frieden im Nahen Osten organisiert hatte, war im Vorfeld aus Sorge um den »öffentlichen Frieden« untersagt worden.

Die Entscheidung hatte offensichtlich weniger mit der Organisation zu tun, in dessen Vorstand Hefets sitzt, sondern eher mit dem Ort, an dem die Kundgebung stattfinden sollte, nämlich im Berliner Stadtteil Neukölln, in dem besonders viele Bewohner mit palästinensischem Migrationshintergrund leben. Er war in den Tagen davor durch gewalttätige und hasserfüllte Anti-Israel-Proteste in die Schlagzeilen geraten. Deshalb wurde die von Hefets organisierte Kundgebung, die auf dem Hermannplatz stattfinden sollte, der nur fünf Gehminuten vom Ort der Ausschreitungen entfernt ist, verboten. 

Hefets tauchte trotzdem auf, woraufhin Polizeibeamte sie zunächst in Gewahrsam nahmen, aber später wieder zurück zum Hermannplatz begleiteten, wo sie ihr Schild ungestört hochhalten konnte. Das ist alles, mehr ist nicht passiert. Sie wurde weder »verhaftet«, noch erhielt sie Platz- oder »Denkverbot«. (Nach Kritik hat Hauenstein seine Formulierung in einem kürzlich erschienenen Artikel angepasst, indem er nun von »inhaftiert« anstatt »verhaftet« spricht.)

Einige Tage später jedoch veröffentlichten Hefets und über hundert in Deutschland tätige jüdische Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, die meisten von ihnen in Berlin lebende Expats, einen offenen Brief, in dem sie »das beunruhigende Vorgehen gegen die demokratische Öffentlichkeit nach den schrecklichen Gewalttaten in Israel und Palästina« anprangerten. 

Den Unterzeichnern zufolge dient die Behauptung der Polizei, dass einige pro-palästinensische Veranstaltungen eine Bedrohung für den öffentlichen Frieden darstellen, einzig dazu, »legitime und gewaltfreie politische Äußerungen, die auch Kritik an Israel beinhalten dürfen, zu unterdrücken«. Versuche, sich diesen »willkürlichen Einschränkungen« zu widersetzen, würden mit »wahlloser Brutalität« beantwortet. Die Behörden, so heißt es in dem Schreiben, hätten »Menschen mit Migrationshintergrund in ganz Deutschland ins Visier genommen und Zivilisten belästigt, verhaftet und verprügelt«; normale Fußgänger würden »auf dem Bürgersteig angerempelt und mit Pfefferspray attackiert«. Selbst Kinder würden »rücksichtslos angegriffen und verhaftet«. 

Doch was nach rassistischem Staatsterror klingt, war in Wirklichkeit ein polizeiliches Einschreiten gegen organisierte Gruppen und Aktivisten, die den Terror der Hamas verherrlichen, das Existenzrecht Israels leugnen und zur Gewalt gegen »zionistische« Einrichtungen aufrufen. Immer wieder kam es bei diesen Veranstaltungen zu körperlichen Angriffen auf Polizeibeamte. Allein in Berlin wurden mehr als hundert Polizisten verletzt. 

Deckmantel Israelkritik

Um es klar zu sagen: Natürlich haben diejenigen, die um Angehörige und Freunde in Gaza trauern, mit der Zivilbevölkerung in Gaza sympathisieren oder das militärische Vorgehen Israels insgesamt ablehnen, das Recht zu demonstrieren und ihre Meinung kundzutun. Es liegt jedoch in der Verantwortung des Staates dafür zu sorgen, dass Protest und Meinungsäußerung nicht in Hass und antisemitische Gewalt umschlagen. Öffentliche Versammlungen können Menschen aufhetzen und Hass schüren. 

Die Unterzeichner des offenen Briefes leugnen zwar nicht, dass es Antisemitismus gibt, aber sie nehmen ihn nicht ernst und verharmlosen ihn. Der Brief gipfelt in der Behauptung, dass »die Beweggründe« für den jüngsten Anschlag auf die Berliner Synagoge oder die Kennzeichnung jüdischer Häuser mit Davidsternen »unbekannt« seien. Nun, nicht wirklich. Das Motiv wird als Antisemitismus bezeichnet. 

Häufig tritt dieser Antisemitismus unter dem Deckmantel der Israelkritik auf (die manchmal tatsächlich nur Hass auf die Existenz Israels ist), was alles andere als verboten ist. Täglich erscheinen israelkritische Artikel und Berichte in deutschen Zeitungen und Nachrichtensendungen, israelkritische Bücher sind Bestseller und empirische Umfragen belegen regelmäßig, dass große Teile der deutschen Bevölkerung ein sehr negatives Bild von Israel haben. Laut einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2022 setzen 36 Prozent der Deutschen die israelische Politik gegenüber den Palästinensern mit der Behandlung der Juden unter den Nationalsozialisten gleich.

Was Kritiker wie Judith Butler über die Situation in Deutschland behaupten, ist also schlicht falsch. Antisemitismus ist – immer noch – politisch geächtet, auch wenn er sich unter dem Deckmantel der »Israelkritik« verbirgt. Kritik an der israelischen Regierung, und sei sie noch so übertrieben, ist nicht verboten, sondern sogar sehr weit verbreitet.

Meinungsfreiheit bedeutet jedoch nicht – und daran muss natürlich erinnert werden –, dass man für seine Meinung nicht kritisiert werden kann (und darf). Sie bedeutet nicht, alles sagen zu können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Diese Konsequenzen sind, abgesehen von strafbaren Äußerungen wie der Leugnung des Holocaust, nicht strafrechtlicher, sondern zivilrechtlicher Natur. Wer sich öffentlich israelfeindlich äußert, wird dafür auch öffentlich kritisiert. In einer Demokratie müssen sich Israelkritiker das gefallen lassen.

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