Israelische Expertin: „Corona-Lockdown notwendig“

Das Wolfson Medical Center in Holon
Das Wolfson Medical Center in Holon (Quelle: Yellmed)

Dr. Anat Engel, Direktorin des Wolfson Medical Centers in Holon, sprach mit Mena-Watch über ihre Einschätzung der gegenwärtigen Pandemie-Lage in Israel.

Die Corona-Pandemie stellt die Welt vor bislang ungekannte Herausforderungen. Israel meistert einige davon mit Bravour, schneidet aber bei anderen weniger gut ab.

Zunächst das Positive

Die vielgepriesene Immunisierungs-Aktion schreitet weiterhin mit Siebenmeilenstiefeln voran. Mehr als 2,5 Millionen Israelis haben bisher zumindest die erste Impfdosis erhalten. Rund 80% der über 60-Jährigen sind damit wenigstens teilgeschützt. Und die Vakzinationsoffensive dürfte bei allen Altersgruppen zügig vorangehen. Ab sofort sollen täglich eine Viertel Million Israelis geimpft werden.

Ersten Einschätzungen zufolge übertrifft die Impfung nämlich alle Erwartungen. „Sie funktioniert fantastisch“, freut sich Dr. Gili Regev Yochai. Die Chef-Epidemiologin des Sheba Medical Centers stützt sich bei dieser Aussage auf eine erste serologische Untersuchung von 102 Krankenhausmitarbeitern, die eine Woche nach dem Erhalt der zweiten Dosis durchgeführt wurde.

Zu diesem Zeitpunkt war die Anzahl der Antikörper bei 98% der Untersuchungsteilnehmer sechs bis zwanzig Mal höher als nach der ersten Dosis und damit, laut Regev Yochai, hoch genug, um nicht nur einen schweren Krankheitsverlauf, sondern jegliche Ansteckung zu verhindern. Wenn sich diese Ergebnisse auch weitläufig bestätigen, dürften vakzinierte Personen auch keine Krankheitsträger sein – eine Erkenntnis, die bislang in Frage gestellt worden ist.

Und wo bleibt das Negative?

Es besteht also Anlass zur Hoffnung – gleichzeitig aber auch zur Sorge. „Die Krankheit breitet sich wie verrückt aus”, warnt Sharon Alroy-Preis, Leiterin des öffentlichen Gesundheitswesens. Am vergangenen Dienstag wurden in Israel tatsächlich, trotz des wochenlangen Lockdowns, mehr als 10.000 neue COVID 19-Fälle vermeldet. Das ist seit Anfang der Pandemie ein trauriger Rekord. Alroy-Preis macht für diese Entwicklung in erster Linie die britische Mutation verantwortlich. Sie wurde über Reisende auch nach Israel „importiert” und potenziert sich in Windeseile.

So hat beispielsweise ein einziger Patient unmittelbar 20 bis 30 andere Menschen und jene wiederum 700 weitere angesteckt. Besonders verbreitet ist die britische Corona-Mutation offenbar in ultra-orthodoxen Kreisen. Das hängt, so Beobachter, zwar einerseits mit den vorherrschenden engen Wohnverhältnissen zusammen, andererseits aber auch mit der Weigerung dieser Bevölkerung, sich an die strikten Vorgaben des Gesundheitsministeriums zu halten.

Tatsächlich beginnen manche ultra-orthodoxen Schulen ihre Pforten trotz Verbot wieder zu öffnen. Das Tora-Studium, so das Argument der Verantwortlichen, gehe über alle anderen Prioritäten, selbst über die Gesundheit.

Tragödie im Krankenhaus

Mittlerweile füllen rund 1.200 schwerkranke COVID-Patienten die landesweiten Spitäler, die unter der Last zusammenzubrechen drohen. Das hat ein Vorfall in einem bekannten Spital in Tel Aviv dem israelischen Publikum schmerzlich vor Augen geführt. Bei einem intubierten Patienten hatte sich der Beatmungsschlauch gelöst. Das völlig überlastete Personal reagierte aber erst, als es schon zu spät war. Der 47-Jährige, der keine Grundkrankheiten aufgewiesen hatte, starb binnen weniger Minuten.

Nun schlagen auch die anderen Spitäler Alarm. Zwar beteuern sie alle, so eine Tragödie dürfe niemals und unter keinen Umständen passieren, räumen aber gleichzeitig auch ein, dass die Patientenlast und der Ressourcenmangel die Qualität der ärztlichen Betreuung beeinträchtigen können.

Interview mit Dr. Anat Engel

Dr. Anat Engel, Direktorin des Wolfson Medical Centers in Holon, sprach mit mir über ihre Einschätzung der gegenwärtigen Pandemie-Lage in Israel und darüber, wie es ihrem Spital, während dieser dritten COVID-Welle, ergeht.

YS: Die Impfungen sind effektiv. Trotzdem explodiert die Anzahl der Neuerkrankungen. Warum?

AE: Es ist ein sehr heikler Moment. Die Menschen sind noch nicht ausreichend geschützt, auch wenn sie bereits die erste Impfung bekommen haben. Die volle Wirkung der Vakzination entwickelt sich erst zwei Wochen nach der zweiten Dosis. [Anm. d. Red.: Normalerweise spricht man von einer Woche.]

Erst zwei Wochen nach der Zweitimpfung eines signifikanten Anteils der Bevölkerung werden wir beginnen, den Schutz zu merken. Mittlerweile galoppiert die Krankheit und damit leider auch die Anzahl der Schwerkranken.

YS: War dieser dritte Lockdown, der jetzt ja noch verschärft wurde, Ihrer Meinung nach wirklich unumgänglich?

AE: Mit allem Verständnis für die Probleme, die ein solcher Lockdown verursacht, muss ich sagen: Ja. Er war nötig. Der „halbe“ Lockdown, den wir ehedem ausprobiert haben, hat nicht funktioniert. Das liegt sicher auch an der mangelnden Durchsetzung der festgelegten Regeln.

Natürlich bereiten uns auch die Mutationen, mit ihren hohen Ansteckungsraten bei den jüngeren Menschen und auch bei Kindern, Sorgen. Wie dem auch sei, wir sind so nahe an der Lösung, dass wir jetzt einfach nicht nachlassen dürfen. Jeder COVID-Sterbefall ist jetzt noch tragischer, weil er verhindert werden könnte. Ich hoffe aber, dass dies der letzte Lockdown sein wird. 

YS: Wie sieht es im Wolfson Medical Center aus. Macht sich der Effekt der Impfung zumindest in Ihrem Spital schon vorsichtig bemerkbar?

AE: Dafür ist es zu früh. Wir sehen den „Afterschock“ von den Ereignissen vor drei Wochen. Die Lage in den COVID-Abteilung der Krankenhäuser spiegelt stets den Status Quo Ante von vor zwei bis drei Wochen wider. Ich hoffe also, dass sich in rund vierzehn Tagen auch bei uns die Wirkung der laufenden Impfkampagne und des verschärften Lockdowns in fallenden Patientenzahlen bemerkbar machen wird.

YS: Benjamin Netanjahu hat kürzlich in Aussicht gestellt, dass wir das Pessachfest heuer Ende März wieder in der Großfamilie feiern werden können. Sehen Sie das ähnlich?

AE: Das war eine sehr optimistische Einschätzung von unserem Premierminister. Wir hoffen es und planen auch danach, müssen uns aber auch vergegenwärtigen, dass die Pandemie noch nicht zu Ende ist. Bis Ende März sollten die Risikogruppen mehrheitlich komplett geimpft sein, und damit dürften schwere Erkrankung vermieden werden können.

YS: Reden wir über die Mutationen. Es heißt, sie verursachen keinen schlimmeren Krankheitsverlauf, sind aber ansteckender.  

AE: Genau. Man braucht weniger Virus, um mehr Leute anzustecken. Mittlerweile zeigen wissenschaftliche Untersuchungen aber, dass die Impfung auch gegen bestehende Mutationen wirkt.

YS: Auch gegen die südafrikanische Mutation?

AE: Wir meinen, ja, sind aber noch nicht ganz sicher. Mutationen sind ja ganz normal, und es wird es auch weitere geben. Es kann sein, dass wir jedes Jahr eine Corona-Impfung brauchen werden, genau wie es bei der Grippe der Fall ist. Das alles muss noch genauer erforscht sein.

YS: Man spricht von einer „Vor-Corona“ und einer „Mit-Corona“-Epoche. Eine „Nach-Corona“ Ära soll es, zumindest in absehbarer Zeit, nicht geben. Wie sehen Sie das?

AE: Ja, das könnte stimmen. Es gibt Viren, die vernichtet werden konnten. Andere sind geblieben. Es hängt von der Fähigkeit des Virus ab, sich zu verändern und zu überleben. Denken Sie nur an die Masern. Jahrelang dachten wir, wir hätten ihnen den Garaus gemacht. Letztens haben wir deshalb nicht mehr konsequent geimpft, und jetzt ist die Krankheit wieder ausgebrochen. Wichtig für uns ist, sicherzustellen, dass Corona keine schweren Erkrankungen mehr verursacht. Das ist das Ziel der Impfungen.

YS: Hat man auch bei den Heilmitteln gegen Corona Fortschritte gemacht?

AE: Ja, und in diesem Bereich ist das Wolfson Medical Center federführend mit dabei. Unter der Ägide von Dr. Yasmin Maor behandeln wir Patienten mit Antikörper aus dem Plasma geheilter COVID-Patienten und verhindern damit, dass mittelschwere Symptome weiter ausarten.

Wir testen auch diverse Medikamente gegen eine Überreaktion des Immunsystems, dem sogenannten Zytokinsturm, der das Krankheitsbild erheblich verschlechtern kann. Ein perfektes Medikament haben wir leider noch nicht, aber es gibt bereits Heilmittel, um in vielen Fällen eine dramatische Verschlechterung zu verhindern.

YS: Wie bewältigen Sie den Anstieg der Corona-Patienten in Ihrem Krankenhaus?

AE: Wir sehen jeden Tag mehr Kranke, lassen niemanden außen vor. Ich werde Patienten nie abweisen. Aber natürlich ist es eine große Herausforderung, ausreichend Personal und Ressourcen bereitzustellen. Gut, wir sind gewohnt, unsere Teams je nach Bedarf zuzuordnen. Hier kommt es auf administrative Flexibilität an. Zugute kommt uns auch, dass es dieses Jahr bislang keine Grippe gibt, und dass wir deshalb Betten und Teams für die Corona-Pflege bereitstellen können.

Glücklicherweise haben wir jetzt weniger Schwerkranke als ehedem, auch aufgrund der Heilverfahren, die wir vorhin angesprochen haben. Trotzdem haben wir derzeit drei Patienten auf Ecmo-Maschinen. Das sind Herz-Lungen Maschinen, die Menschenleben retten. Diese Patienten sind sehr pflegeintensiv und benötigen dreimal soviel professionelles Pflegepersonal wie andere Kranke.

Unsere Corona-Pflegeteams sind also extrem ausgelastet, hinzu kommt auch, dass sie schwere Schutzanzüge tragen müssen. Trotzdem nehmen wir auch Patienten von anderen Regionen bei uns auf, die eine Ecmo-Maschine brauchen, denn die gibt es nicht in allen landesweiten Krankenhäusern.

YS: Wie sieht es mit den anderen Abteilungen in Ihrem Krankenhaus aus?

AE: Unser Krankenhaus kümmert sich weiterhin um alle anderen Belange unserer Patienten. Wir rufen die Bevölkerung auch immer wieder mit Nachdruck dazu auf, ihre Routineuntersuchungen und ihre geplanten Eingriffe auf keinen Fall zu verschieben. Wir wollen ja die komplette Gesundheit der Bevölkerung sicherstellen und nichts Wichtiges verpassen, aus Angst vor Corona.

Unsere Corona-Abteilungen sind in einem eigenen Flügel, weit entfernt vom Rest des Krankenhauses, untergebracht. Das Spital ist also sicher, und Patienten können ohne Scheu kommen.

YS: Dr. Engel, Sie sind bereits zweimal geimpft. Wie werden Sie sich künftig verhalten?

AE: Ich werde die Maske vorläufig weiter tragen, weil wir noch nicht schlüssig wissen, ob wir nicht asymptomatisch krank werden und damit das Virus weitergeben können. Es sieht zwar nicht danach aus, aber noch ist Vorsicht geboten. Vor allem aber werde ich weiter im Spital arbeiten und gemeinsam mit meinem Team mein Bestes geben.

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