Zwischen den Regierungen in Jerusalem und Warschau schwelt ein Konflikt über Polens Pläne, die Debatte über die polnische Beteiligung am Holocaust einzugrenzen. Das Thema ist brisant, denn es gab im Zweiten Weltkrieg zehntausende Kollaborateure, die sich an der „Judenjagd“ der deutschen Besatzer und am industriellen Massenmord an den europäischen Juden beteiligt haben.
Das Schicksal der polnischen Juden war schon vor der Staatsgründung eng mit der israelischen Geschichte verknüpft. Die Pogrome in Russland und Polen nach der Ermordung von Zar Alexander II., die fälschlicherweise Juden zugeschrieben wurde, führten zu den ersten großen Einwanderungswellen von Juden nach Palästina Ende des 19. Jahrhunderts. Noch blutiger war die Serie von Pogromen zwischen 1903 und 1906, von denen sich einige der schlimmsten auf polnischem Boden ereigneten. Allein in Białystok wurden 1906 bis zu hundert Juden ermordet. Viele polnische Juden verließen damals ihre Heimat und suchten ihre Glück in Europa oder Palästina. Die Tradition des polnischen Antisemitismus reicht weit zurück, und in der Zwischenkriegszeit schwoll er weiter an.
Aber der alleinige Blick auf das judenhassende, mit den Nazis kollaborierende Polen wäre zu eng. Unter den zehntausenden Polen, die Widerstand leisteten, sticht ein Mann hervor. Ein Mann, von dem der polnische Oberrabiner Michael Schudrich sagte, er sei „ein Beispiel unerklärlicher Güte in einer Zeit des unerklärlichen Bösen. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein dafür, wie Polen Juden im Holocaust halfen und wie sie dafür mit ihrem Leben bezahlten wie Pilecki. Wir müssen diese Beispiele ehren und ihnen heute in den Teilen der Welt folgen, wo es den Horror wieder gibt.“
Wietold Pilecki war der einzige bekannte Mensch, der sich freiwillig nach Auschwitz einliefern ließ, um von dort zu berichten und Widerstand zu leisten. Es wurde ihm schlecht gedankt: Heute vor 80 Jahren wurde er von Stalins Schergen erschossen. In Pileckis Leben – und in seinem Tod – spiegelt sich die europäische Tragödie des 20. Jahrhunderts wider. Über die Täter und Kollaborateure zu schweigen, hieße auch über die Helden zu schweigen. Eines der letzteren gilt es heute zu gedenken.
In der Hölle angekommen
Dass Witold Pilecki in der Hölle angekommen ist, wird ihm sofort bewusst. „Diesen Moment meiner Geschichte sehe ich als den an, in dem ich allem Vertrauten auf der Welt Lebewohl sagte und in etwas eintrat, das nicht mehr von dieser Welt schien“, beschreibt er diesen Augenblick, und als wenige Minuten später einer der mit ihm eingelangten Gefangenen den Befehl erhält, auf einen Wachposten zuzulaufen, begreift er, dass in dieser Hölle Menschenleben keinerlei Wert besitzen. „Ein kurzer Feuerstoß aus einer automatischen Waffe mähte ihn nieder. Zehn Mann wurden willkürlich aus der Gruppe herausgezerrt und als ‚Kollektivstrafe‘ für den von der SS inszenierten ‚Fluchtversuch‘ mit Pistolen erschossen. Die elf Leichen wurden dann mit Stricken an den Beinen hinterhergeschleift, die Hunde auf die blutigen Körper gehetzt.“
Dagegen verkommen die zwei Schneidezähne, die ihm gleich bei seiner Ankunft aus dem Gesicht geknüppelt werden, zur Lappalie. „Wie naiv waren wir doch im fernen Warschau gewesen, was die in die Lager verschleppten Polen anging“, wird er knapp fünf Jahre später notieren. „Hier kamen all unsere Habseligkeiten in große nummerierte Säcke. Hier wurden wir kahlgeschoren und bekamen ein paar Tropfen lauwarmes Wasser ab. Hier bekam ich zwei Vorderzähne ausgeschlagen, weil ich das Pappschild mit meiner Häftlingsnummer in der Hand trug und nicht, wie vom Bademeister an diesem Tag befohlen, zwischen den Zähnen (…) Von da an waren wir nur noch Nummern. (…) Ich hatte die Nummer 4859.“
Zwei Tage zuvor, am 19. September 1940 um sechs Uhr morgens, war Pilecki in Warschau absichtlich in eine Razzia der SS gelaufen, ausgestattet mit falschen Papieren, um seine Familie zu schützen. Sein fast schon absurd waghalsiger Plan: Sich nach Auschwitz einliefern zu lassen, Polen und die Alliierten über die Zustände in diesem Lager zu informieren, ein Netz des Widerstands darin aufzubauen und einen Aufstand zu organisieren. Nur mit Mühe hatte er seine Mitstreiter im polnischen Widerstand – Pilecki kämpfte im Untergrund in einer von ihm mitgegründeten Geheimarmee gegen die deutschen Besatzer – von diesem Vorhaben überzeugen können.
1940 war Auschwitz noch keine industrielle Mordmaschine, das Vernichtungslager Birkenau wurde erst 1941 drei Kilometer vom Stammlager entfernt errichtet. Doch das Grauen herrschte dort von Anfang an. Und Pilecki dokumentierte dieses Grauen.
Gerhard Palitzsch war „ein gutaussehender Mann, der nie einen Häftling schlug (das war einfach nicht sein Stil)“, charakterisierte er jenen Mann, der sich später brüsteten sollte, persönlich 25.000 Menschen erschossen zu haben. Der SS-Hauptscharführer mordete aus Lust am Töten, zur Unterhaltung, ohne sichtbare Regung, oft mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen: „Den Mädchen befahl Palitzsch, sich auszuziehen und im abgesperrten Hof herumzurennen. Er stand in der Mitte und wählte lange, dann zielte er, schoss, tötete – der Reihe nach alle. Keines von ihnen wusste, wer sofort umkam und wer noch eine Weile lebte.“
Jeweils 30 Männer, die so genannten Kapos, bildeten die ersten Mordkommandos. Die chronisch unterernährten Gefangenen wurden zu Tode geprügelt oder erschossen, starben vor Erschöpfung, an Typhus oder anderen Krankheiten. An den polnischen Feiertagen veranstalten die Wächter Massenerschießungen, um die Moral der Insassen zu brechen. Überleben war Glück und eine Kunst, und der durchtrainierte Kämpfer Pilecki beherrschte diese Kunst in Perfektion. „Die beste Arbeit im Warmen und Trockenen war die im Schweinestall. Das Schweinefutter war viel reichlicher und nahrhafter als das, was die Häftlingsküche lieferte. Die Schweine bekamen nämlich die Reste von den Mahlzeiten der ‚Herrenmenschen‘.“
Pilecki bezeugte als erster die ersten Selektionen an der Rampe, die entschieden, wer in die Gaskammern musste und wer noch ein wenig weiterleben durfte, und schilderte den täglichen Massenmord. „Die Türen der Halle wurden geschlossen. Von oben wurden mehrere Gasbehälter geöffnet und die Körper danach auf die Verbrennungsroste geworfen. In Auschwitz arbeiteten die Häftlinge rund um die Uhr in drei Schichten im Krematorium an der Verbrennung der Ermordeten.“
In all dem Grauen gelang es Pilecki, der sogar eine Lungenentzündung im Lager überstand, eine Widerstandsorganisation (ZOW) aufzubauen und unentdeckt zu bleiben. 1942 hatte die ZOW die wichtigsten Lagerbereiche infiltriert, schmuggelte Kassiber über den Massenmord nach draußen und Medikamente nach innen. Die Juristen unter ihnen hielten im Geheimen Gericht über besonders grausame Kapos und SS-Leute, die dann bei der nächsten Gelegenheit liquidiert wurden. Über 1000 Mitglieder zählte die Organisation im Frühjahr 1942.
Ab Oktober 1940 versorgte die ZOW den polnischen Widerstand mit Informationen über das Lager, ab März 1941 gelangten Pileckis Berichte auch nach London. Doch die Alliierten hielten sie für übertrieben oder nahmen sie nur gleichgültig zur Kenntnis. Jedenfalls blieb der erhoffte Angriff auf das Lager aus. Der Plan, Auschwitz während eines Angriffs von außen zu übernehmen, scheiterte, weil ein solcher Angriff niemals kam. Als die SS dann auch noch begann, mit wachsendem Erfolg die Strukturen der ZOW zu zerschlagen, entschloss sich Pilecki zur Flucht, enttäuscht von der mangelnden Unterstützung, und erst, nachdem Berlin die Kollektivstrafe des Erschießens von zehn Häftlingen pro Ausbrecher abgeschafft hatte.
Am Ostermontag, den 26. April 1943, nach 945 Tagen inmitten der Mordmaschinerie der Nationalsozialisten, flüchtet Witold Pilecki während der Nachtschicht gemeinsam mit zwei Kollegen aus der Bäckerei des Lagers. Die Flucht gelingt. Unter abenteuerlichen Umständen und mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung schlägt er sich bis Krakau durch, wo er sich der polnischen Untergrundarmee anschließt. Der einzige Mensch, den wir kennen, der freiwillig nach Auschwitz gegangen ist, hat dieses Lager auch aus eigener Kraft wieder verlassen.
Wieder in Freiheit, verfasst Pilecki den „Raport W“, einen eindringlichen Bericht über Auschwitz, noch immer in der Hoffnung, die Alliierten zu einer Militäroperation bewegen zu können. Er kämpft im Warschauer Aufstand, gerät in deutsche Gefangenschaft und wird 1945 befreit. Danach verfasst er seinen letzten Bericht.
Pileckis Kampf geht nach Kriegsende weiter. Er will ein unabhängiges, freies Polen, keinen sowjetischen Satellitenstaat. Im April 1947 beginnt er, Beweise für sowjetische Gräueltaten und die Inhaftierung ehemaliger polnischer Soldaten in sowjetischen Gulags zu sammeln. Am 8. Mai wird er von seinen eigenen Landsleuten denunziert und vom kommunistischen Geheimdienst verhaftet. Der hochdekorierte Offizier, der jahrelang mit kaum vorstellbarem Heldenmut gegen die Nationalsozialisten gekämpft hatte, gilt nun als „Faschist“ und „Agent des Imperialismus“. Die Schergen der Sowjets foltern ihn, reißen ihm die Fingernägel aus, doch er verrät keinen seiner Gefolgsleute. Als man mit der Verhaftung seiner Familie droht, unterschreibt er das vorgelegte Geständnis. In einem Schauprozess wird er zum Tod verurteilt. Am 25. Mai 1948 wird Witold Pilecki in einem Warschauer Gefängnis mit einem Genickschuss hingerichtet.
Sein Leichnam wurde nie gefunden. Seine Geschichte wurde von den kommunistischen Regierungen Polens mit einem Mantel des Schweigens bedeckt. Seine Taten gerieten für Jahrzehnte in Vergessenheit. Erst 1990, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, wurde Witold Pilecki rehabilitiert. Im Jahr 2000 erschienen erstmals seine Auschwitz-Berichte. Er wurde 1995 und 2006 mit den höchsten Orden Polens ausgezeichnet und die Stadt Warschau machte ihn 2009 zu ihrem Ehrenbürger. Das freie Polen, für das er sein Leben lang gekämpft hatte – für Witold Pilecki kam es mehr als ein halbes Jahrhundert zu spät.