Der von der Stadt Bremen und der Heinrich-Böll-Stiftung mitvergebene Hannah-Arendt-Preis wurde vor dreißig Jahren ins Leben gerufen, um »politisches Denken« zu honorieren. Auffällig oft werden Israelkritiker honoriert.
Torsten Lambeck
Denken, das in Bremen für preiswürdig befunden wird, schützt jedoch offensichtlich nicht davor, den jüdischen Staat in mal mehr, mal weniger umständlichen Worten zu einem rassistischen Projekt, wenn nicht gleich zum Nazi-Deutschland von heute zu erklären. Das ist keine Polemik und auch keine besonders neue Erscheinung, sondern traurige Realität und umfangreich dokumentiert. Dazu später noch im Detail.
Entsprechend stach Masha Gessen im letzten Jahr auch nicht so sehr durch die ausgesprochen plumpe Masche heraus, in einem langatmigen Essay über deutsche Erinnerungskultur eine »Gleichheit« (»sameness«) des Gazastreifens und der von den Nationalsozialisten eingerichteten Ghettos zu behaupten. Es war vielmehr das Timing der Veröffentlichung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Preisverleihung, das eher geschickt als ungeschickt zu nennen ist, insofern Gessen damit wohl genau die Aufmerksamkeit erreicht hat, die sie erreichen wollte.
Stadt und Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) mochten sich dann nach interner Konsultation lieber doch nicht mit Gessen zusammen sehen lassen und zogen sich aus dem öffentlichen Akt der Preisverleihung zurück. Der Vorstand des Trägervereins hielt allerdings auf Biegen und Brechen daran fest, trotz Kritik auch aus den eigenen Reihen, und Gessen bekam schließlich alles: Preis, Hype, Podium und die Märtyrerpose noch dazu.
Den Hannah-Arendt-Preis als solchen hat all das nicht infrage stellen können, sein Fortbestand ist gesichert. Um das zu verstehen, lohnt es, zunächst die Empörung der Stifter über das Ei, das Gessen ihnen ins Nest gelegt hatte, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Zurückweisung, die keine war
Masha Gessen »impliziert, dass Israel das Ziel hat, Gaza wie ein Nazi-Ghetto zu liquidieren«, erklärte die Heinrich-Böll-Stiftung über deren infrage stehenden Essay. »Diese Aussage ist kein Angebot zur offenen Diskussion, sie hilft nicht, den Konflikt im Nahen Osten zu verstehen. Diese Aussage ist für uns nicht akzeptabel und wir weisen sie zurück.« Die Verweigerung der Akzeptanz hielt ganze fünf Tage an.
Zwei Tage nach der letztlich wenig glanzvoll in einer Hinterhofgalerie im Bremer Viertel improvisierten Preisverleihung des Hannah-Arendts-Preises traf sich der HBS-Vorstand in Person von Imme Scholz und Jan Philipp Albrecht am 18. Dezember schon wieder in der Böll-Stiftung Berlin mit Masha Gessen zur offenen Diskussion, falls man das nicht eher ein Heischen um Verständnis nennen sollte, oder, wie Gessen selbst zufrieden bemerkte: »Sie [die Vorstandsmitglieder] sind einen sehr langen Weg gegangen in sehr kurzer Zeit.«
Vor einem merklich für sie eingenommenen Publikum hatte Gessen die Gelegenheit, ihre Vergleiche in einem Umfang auszubreiten, den die ursprünglich vorgesehene Feierstunde anlässlich der Preisverleihung ihr kaum geboten hätte – suggestive Zitate aus Berichten von der realen Liquidierung des Warschauer Ghettos eingeschlossen. Sie komplettierte die Infamie, indem sie passend dazu aus dem tragischen Tod dreier von der Hamas verschleppter Geiseln im Kampfgebiet unwidersprochen einen angeblichen Befehl an die israelischen Soldaten konstruierte, keine Gefangenen zu machen.
Und das zu einem Zeitpunkt, als schon längst Bilder über die Fernsehschirme liefen, wie Hamas-Kämpfer reihenweise und offensichtlich lebend in israelische Gefangenschaft gingen. Um zu erkennen, dass obige Zurückweisung durch die Heinrich-Böll-Stiftung keine ist, genügt im Grunde schon ein Blick auf die Art und Weise, wie der Videomitschnitt des Plauschs präsentiert wird.
Kleine Nebenwirkungen
Nebenwirkungen hatte der kurzzeitige Rückzug der Stifter schon. Auf einer Mitgliederversammlung des Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V. im April hat der Vorstand seine eigenen Schlüsse aus dem Gang der Ereignisse gezogen und entnervt hingeworfen. Den Hannah-Arendt-Preis in seiner bekannten Form gebe es nicht mehr, verkündete im Nachgang eine Rundmail der langjährigen Vorstandsmitglieder, die auch gleich aus dem Verein ausgetreten sind.
War es die Frustration darüber, dass in der Aufregung um die Ghettothese auf der Strecke geblieben ist, wie »die*der russisch-amerikanische Journalist*in und Schriftsteller*in politische Strömungen und Konflikte in der amerikanischen und russischen Gesellschaft« beschreibt? Darauf hätte die Auszeichnung doch hinweisen wollen, hieß es einmal. Nein: »Entsprechend unseres Verständnisses des Hannah-Arendt-Preises hätten wir über Masha Gessens Positionen streiten können/müssen.«
Gemeint waren damit natürlich eben jene Positionen, die zeitlich passend keine Woche vor dem planmäßigen Termin der Preisverleihung lanciert wurden. »Die kurzfristige Absage des Rathauses und die der Heinrich-Böll-Stiftung in erster Linie Bremen«, wie es in der Rundmail ungelenkig heißt, sollen es aber gewesen sein, die den Rahmen für die Auseinandersetzung darüber entzogen hätten. Auch das ersatzweise für die Preisverleihung vorgesehene Institut Français habe seine Räume aus Sicherheitsgründen nicht mehr zur Verfügung gestellt.
Die Beschwerde ist einigermaßen kurios. Die Stadt erklärte ihre Absage nur vier Tage nach Erscheinen des inkriminierten Essays im New Yorker und damit den gegebenen Umständen nach noch mit einigem Vorlauf. Dass die französische Botschaft ihr Kulturinstitut nicht mehr zur Verfügung stellen mochte, nachdem sie erfahren hatte, dass Masha Gessen nach eigenen Angaben auf einer »Todesliste« der russischen Regierung steht, ist auch nicht besonders verwunderlich. In der Beschwerde des Hannah-Arendt-Preis-Vereins äußert sich einmal mehr die bekannte Haltung, die vermeintliche Unterdrückung einer Position zu beklagen, wenn diese nicht den höchstmöglichen offiziellen Rahmen eingeräumt bekommt, unabhängig davon, ob sie darin etwas zu suchen hat oder nicht.
Wie viel Masha Gessen und ihren Apologeten tatsächlich an einer inhaltlichen Auseinandersetzung gelegen war, haben sie bei der Preisverleihung im kleinen Kreis hinreichend deutlich gemacht. Eine Minute Zeit wurde einem Jury-Mitglied für seine Frage an die Prämierte eingeräumt, ob sie nicht auch etwas zur Rolle der Hamas sagen könnte. Nein, das werde sie nicht tun, das lenke nur ab.
Als weitere Gründe für seinen Rücktritt nennt der scheidende Vorstand vereinsinterne Kritik und damit einhergehend fehlende Geschlossenheit gegenüber Bestrebungen der Geldgeber, stärkeren Einfluss auf die Vereinsstrukturen zu nehmen, namentlich auch auf die Preisjury. Dass der Senat sich veranlasst sehen könnte, jetzt genauer zu kontrollieren, was da mit öffentlichen Geldern gefördert wird, wäre durchaus nicht ganz abwegig. Worin diese angebliche Einflussnahme konkret bestehen soll, ist aber nicht recht nachzuvollziehen.
Die Stadt Bremen und die Heinrich-Böll-Stiftung haben sich dem Verein gegenüber bereits zur weiteren Finanzierung des Hannah-Arendt-Preises bekannt und eine Einmischung in seine inneren Angelegenheiten ausgeschlossen, obwohl ein neuer regulärer Vorstand erst diesen Monat gewählt werden soll. Der einzige Grund für die Aussetzung der Preisvergabe im Jahr 2024 ist der Umstand, dass der alte Vorstand in Eigenregie den Förderantrag dafür zurückgezogen hat. Das dürfte, zusammen mit dem im Vergleich zur Böll-Stiftung wenig flexiblen Krisenmanagement, maßgeblich zur Unzufriedenheit der Mitglieder beigetragen haben.
Alles wie gehabt
Werden überhaupt Folgerungen aus der verunglückten Preisverleihung an Masha Gessen gezogen? »Es muss sich gar nichts ändern«, meinte dazu auf Nachfrage der ehemalige taz-Redakteur Klaus Wolschner, der erst seit letztem Jahr der Jury angehört und Gessen mit der Frage nach der Hamas konfrontierte. Geht es nach ihm, stören nicht Inhalte, sondern »diese salbungsvolle Art und Weise« der traditionellen Preisverleihung mit Laudatio in der oberen Rathaushalle. Wenn die Stadt nicht mehr damit drohen könne, diese zu verweigern, dann ließen sich Kontroversen auch austragen. Voraussichtlich wird sich aber rein überhaupt nichts ändern und es geht genauso weiter wie bisher.
Und dieses »bisher« geht so: Schon 2007 wies die Jüdische Gemeinde Bremen darauf hin, dass der designierte Preisträger Tony Judt viel eher als »Israelkritiker« denn als Historiker Aufmerksamkeit und Anerkennung errungen hatte. In der Jurybegründung werde peinlichst vermieden, nur ein einziges Wort über Judts Verdienste auf dem Gebiet des palästinensischen ideologischen Kampfes zu verlieren. »Als Erbe Edward Saids vertritt er die offizielle palästinensische propagandistische Sicht auf die Geschichte, samt der erfundenen und verdrehten Fakten sowie des antiisraelischen Vokabulars.«
Die jüdische Gemeinde äußerte auch Irritation darüber, dass die Preisverleihung auf einen Freitagabend, die Diskussionsveranstaltung auf einen Samstagmorgen gelegt und Jüdinnen und Juden, die traditionell den Schabbat begehen, dadurch von der Teilnahme ausgeschlossen wurden. Das wurde auch in den Folgejahren so gehandhabt und hat sich bis heute nicht geändert.
Aber auch weniger traditionsbewussten Jüdinnen und Juden könnte die Lust an einer Teilnahme recht bald vergangen sein. Denn im Jahr 2012 wurde der Preis für das Buch Verdrängte Nachbarnder israelischen Historikerin Yfaat Weiss vergeben. Den Untertitel Haifas enteignete Erinnerung machten sich ihre deutschen Fans in Haifas Partnerstadt zum Programm und lasen hinein, was sie sowieso schon zu wissen meinten.
Was Weiss selbst mit der Erinnerung anstellt, ist aber auch ohne diese Interpretationen für sich schon bemerkenswert, etwa bei ihrer Beschreibung der in ihren Augen ausgesprochen harten Kapitulationsbedingungen (»Wehe den Besiegten«), die den arabischen Freischärlern in Haifa im Unabhängigkeitskrieg auferlegt wurden: Diese hätten alle Nationalsozialisten ausliefern sollen, die sich in ihre Reihen »eingeschlichen« hätten. Eine der grotesken Formulierungen der Autorin, deren Absicht hier so durchsichtig ist, wie wenn sie absichtsvoll vage von »verheerenden Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die jüdische Demografie« schreibt und spricht.
Dass ihre Gastgeber, Presse und Radio, in der im Buch korrekt bezeichneten Flucht der arabischen Bevölkerung Haifas unbedingt eine Vertreibung erkennen wollten, ist ihr allerdings nicht direkt anzulasten.
Als Positivbeispiel unter den Preisträgern wird bis heute gerne Timothy Snyder angeführt. Snyder erhielt den Preis im Jahr 2013 für sein Buch Bloodlands, das schon im Titel die Shoah und die stalinistischen Massenverbrechen zu geografischen Phänomenen vereint, die nur durch ihre lokale Wechselwirkung zu verstehen seien. In West- wie Osteuropa stießen diese Thesen auf ein geneigtes Publikum.
Timothy Snyder ist aber kein monothematischer Denker. Gemeinsam mit einer Reihe anderer mehr oder weniger Intellektueller wie Omri Boehm, Meron Mendel und der Direktorin des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, Stefanie Schüler-Springorum, richtete er im August 2023 einen Katalog von Forderungen an die »leaders of North American Jewry«, also diein Gestalt von Rabbinern, Lehrenden und Stiftungsleitungen verorteten »Führer des nordamerikanischen Judentums«.
Amerikanische Juden ließen es, so der Befund, an Aufmerksamkeit für die behauptete »Apartheid« beziehungsweise Rechtsungleichheit in den Gebieten jenseits der Grünen Linie wie auch in Israel selbst mangeln. Sie hätten sich diesen Begriff jetzt zu eigen zu machen, Organisationen zu fördern, die ihn propagieren, die Curricula für jüdische Kinder und Jugendliche entsprechend umzuschreiben und eine Beschränkung der amerikanischen Militärhilfe sowie ein Ende der behaupteten »Straflosigkeit« Israels in UN- und anderen internationalen Organisationen zu verlangen.
Snyder erfüllte damit so idealtypisch die Leistungsbeschreibung eines »jüdischen Kronzeugen« der Anklage gegen Israel, dass die ägyptische Zeitung Al-Ahram glaubte, den Sohn eines Quäkerpaars aus Ohio gleich als solchen mitvereinnahmen zu können.
Zeitgleich mit der Benennung zweier Pussy-Riot-Aktivistinnen und eines ukrainischen Dichters für den Hannah-Arendt-Preis 2014 sorgte der Preisträger des Jahres 2002 für schlechte Stimmung in Bremen. Denn Gianni Vattimo, für die Böll-Stiftung zu diesem Zeitpunkt immer noch »einer der prominentesten politischen Intellektuellen Italiens«, hatte im Gespräch mit dem italienischen Sender Radio 24 nicht nur den Wunsch geäußert, mehr Israelis sterben zu sehen, sondern zugleich gestanden, die »zionistischen Bastarde« eigenhändig erschießen zu wollen, wozu ihm bedauerlicherweise die militärische Ausbildung fehle. Darüber hinaus hatte er eine Spendensammlung angekündigt mit dem Ziel, der Hamas »echte Waffen« zu besorgen anstelle ihrer »Spielzeugraketen«, die niemanden umbrächten, und die Bildung internationaler Brigaden gegen den »Schurkenstaat« Israel angeregt, den er als »ein bisschen schlimmer als die Nazis« bezeichnete.
Ralf Fücks ließ für die Heinrich-Böll-Stiftung laut darüber nachdenken, ob man die Auszeichnung in diesem Fall nicht rückwirkend aberkennen sollte, was aber nie passiert ist.
Bei der Jubiläumsfeier, die 2015 anstelle einer Preisverleihung abgehalten wurde, gab es sogar Streit auf dem prominent besetzten Podium. Von Daniel Cohn-Bendit auf die baltischen SS-Hilfswilligen angesprochen, beschwerte sich Vaira Vīķe-Freiberga, als lettische Staatspräsidentin 2005 mit dem Preis ausgezeichnet, sie fände den Hinweis »absolut rassistisch«. Die Juden hätten doch auch mit dem Stalinismus gegen Lettland kollaboriert, mit den Nationalsozialisten sei das nur nicht möglich gewesen, weil die sie umbringen wollten.
Beachtliche Reihe
In einem Zeitraum von gerade einmal zwölf Jahren wurde also eine beachtliche Reihe von Denkerinnen und Denkern ausgezeichnet:
- Ein Ex-Zionist, der ein Ex-Israel wollte,
- eine israelische Professorin, die sichtlich bemüht ist, weder die Vernichtung der europäischen Juden noch die Zusammenarbeit von Nationalsozialisten und Islamisten allzu deutlich beim Namen zu nennen,
- ein amerikanischer Professor, der Nazi-Verbrechen nivelliert, das israelische Rechtssystem verteufelt und damit gleichzeitig das reale Apartheidregime verharmlost,
- ein italienischer Philosoph, der öffentlich einen exterminatorischen Antizionismus vertreten und dafür ganz praktisch die Unterstützung der Hamas mit Waffen und Freiwilligen angeregt hat,
- ein früheres europäisches Staatsoberhaupt, für das die Opfer der Nationalsozialisten auch bloß verhinderte Mittäter waren.
Im Jahr 2017 wurde die illustre Runde um den Franzosen Étienne Balibar ergänzt, der schon damals als Unterstützer eines Aufrufs mit dem emblematischen Titel Israel must lose in der Kritik stand und heute als exponierter Vertreter einer »Philosophy for Palestine« Israel in der französischen Le Monde das »Töten um des Töten willen« unterstellt und in vollständiger Verdrehung der Tatsachen behauptet, die Bevölkerung Gazas würde gezielt aus ihren Behausungen verjagt, um sie zu leichteren Zielen zu machen.
Es fällt schwer, sich dieses Zusammentreffen antiisraelischer Positionen in seiner Gesamtheit als ein bloß zufälliges vorzustellen. Eine nicht-binäre jüdische Person, die darauf versessen ist, Juden die Liquidierung eines Ghettos nachzuweisen, wenn sie sich gegen antisemitische Mordbrenner zur Wehr setzen, hat das Bild damit dann auch eher abgerundet, um nicht zu sagen, diversifiziert, als dass die fragliche Masha Gessen wirklich aus dem Rahmen gefallen wäre.
Verein und Jury legen Wert darauf, Gessen im Sommer 2023 ausgewählt zu haben, um eine russische Stimme zu unterstützen, die Putin und die Invasion der Ukraine kritisiert. »Damals hatte sie sich noch nicht so explizit zu Israel positioniert«, erinnert sich Lothar Probst, Emeritus der Universität Bremen, der in den übergangsweise amtierenden Interimsvorstand gewählt wurde. »Noch nicht so explizit«, dass sie sich nicht genauso angeboten hätte wie andere noch nicht so explizite Preisträger vor ihr.
Auf Gessens Essays im New Yorker, in dem dann auch der eingangs zitierte Ghetto-Vergleich erscheinen sollte, und auf die in diesen Essays eröffneten »neuen Sichtweisen« nahm die Pressemitteilung der Böll-Stiftung zu Gessens Nominierung ausdrücklich Bezug.
Die angeblich neuen Sichtweisen sind allerdings eher altbekannte: Wohlwollend hatte Gessen die Gleichsetzung des »israelischen Regimes« mit »Apartheid«, »Bantustans« und den rassistischen »Jim-Crow«-Gesetzen in den USA durch die israelischen Organisationen B‘Tselem und Breaking the Silence begleitet.
Auch einen mit viel Lokalkolorit angereicherten Reisebericht von einer der regelmäßigen Breaking-the-Silence-Touren durch den kurzen Abschnitt der »Straße der Märtyrer« in Hebron, in dem die israelische Armee aus Sicherheitsgründen den Zugang für Araber beschränkt, hatte Gessen im Angebot. Der Artikel, der daherkommt wie eine Investigativrecherche, nahm fälschlich für sich in Anspruch, »from Two Sides of the Occupation« zu berichten. Tatsächlich hatte Gessen sich nicht die Mühe gemacht, auch nur mit einem der jüdischen Anwohner in Hebron zu sprechen. Dass der ganze große Rest der lebendigen Stadt für diese wie für Juden überhaupt No-Go-Area ist, wurde ebenfalls mit keiner Silbe erwähnt.
Wie weiter?
Wie erklärt man sich im Verein die auffälligen Ausfälle der ausgesuchten politischen Denker und Denkerinnen gegen Israel? Hannah Arendt sei doch auch »teilweise ins Fettnäpfchen getreten«, meint der bereits zitierte Klaus Wolschner. Überhaupt sei es ein breites Spektrum von Menschen. In der deutschen Öffentlichkeit würde Israelfeindschaft eben besonders wahrgenommen. Es gebe genug andere Preisträger, die sich in einem kontroversen Rahmen bewegten.
Kann Wolschner Beispiele nennen? Ja, Christian Teichmann 2016 mit seinen Forschungen über Strukturen der sowjetischen Herrschaft in Mittelasien, da sei diskutiert worden, ob das nicht etwas sehr speziell sei. Oder die Auseinandersetzung darüber, ob es nicht zu vordergründig war, 2022 einen ukrainischen Musiker auszuzeichnen.
Lothar Probst wiederum verweist auf das pluralistische politische Spektrum des Vereins. Gemeinsamer Bezugspunkt sei jedoch das politische Denken von Hannah Arendt im Sinne eines »Denkens ohne Geländer«. Liegt darin das Problem, wenn Preisträger gedankliche Schlagseite mitbringen?
Kämen die Kontroversen um den Preis so zufällig zustande, wie das gerne behauptet wird, sollte man eigentlich annehmen, dass der eine oder die andere Ausgezeichnete auch einmal den erwartbaren Widerspruch von Verein und Heinrich-Böll-Stiftung provozieren, indem sie beispielsweise Empfehlungen für israelische Weine vom Golan oder Produkte jüdischer Unternehmen aus dem Westjordanland aussprechen, die Existenz einer palästinensischen Nation negieren, einen Anspruch auf einen arabischen Staat auf dem Gebiet des ehemaligen Mandatsgebiets bestreiten oder propagieren, das Königreich Jordanien, das den Löwenanteil davon abbekommen hat, einfach pragmatisch als solchen zur Kenntnis zu nehmen.
Oder indem sie darauf hinweisen, dass die bisherige Praxis der Preisvergabe eine eigentümliche Affinität zu Schuldabwehr und Delegitimierung des jüdischen Staates erkennen lässt. Alles Positionen, die im Gegensatz zu einigem, das schon von Preisträgern zu vernehmen war, durchaus ihren Platz in einem zulässigen Meinungsspektrum beanspruchen könnten. Allein – in diese Richtung scheint das Gedankengeländer, das dem Anspruch nach doch gar nicht existieren soll, fest verankert.
Die einzige überhaupt absehbare strukturelle Veränderung im Verein wird sich dem Vernehmen nach darauf beschränken, dass der Bremer Senat ein Mitglied in die Jury entsendet, das aber nicht stimmberechtigt sein wird. Die Stadt würde damit etwas stärker in die Strukturen der Preisvergabe eingebunden, ohne die Auswahl der Prämierten direkt beeinflussen zu können. Das ist aber ohnehin nicht vorgesehen, denn: »Die inhaltliche Ausgestaltung des Preises sowie die Auswahl der Preisträger*innen obliegt dem Hannah-Arendt-Verein«, beantwortet der Senat die Frage nach notwendigen Konsequenzen.
Konkret angesprochen auf israelfeindliche und/oder geschichtsrevisionistische Positionen der ausgezeichneten Personen wiederholt die Senatspressestelle die altbekannte Floskel: »Es werden Personen geehrt, deren Wirken und Werke in der Tradition Hannah Arendts zum öffentlichem politischen Denken und Handeln beitragen.«
Dass das politische Denken der dafür Geehrten auch wirklich zum öffentlichen Handeln beitragen könnte, ist angesichts ihrer Positionen vielfach keine besonders anheimelnde Vorstellung, und dennoch zeigt man sich in der Bremer Politik mit dem Projekt im Großen und Ganzen zufrieden. Zu zwei Dritteln seien das doch sehr verdiente Leute, die mit dem Preis ausgezeichnet wurden, so die Einschätzung, die so oder ähnlich im persönlichen Gespräch geäußert wird.
Diese Einschätzung hatte man mindestens genauso auch für jene Preisträger vorausgesetzt, die Israelfeindschaft und NS-Gleichsetzung dann derart auf die Spitze getrieben haben, dass sie für die Stifter unhaltbar wurden – im Extremfall Masha Gessen sogar schon bevor es überhaupt gelungen war, die Auszeichnung anzuheften.
Dass andere sich »noch nicht so explizit« oder durchaus auch gar nicht in dieser Art geäußert haben, begründet weder ein positives Fazit noch eine günstige Prognose. »Als Vertreter der Jüdischen Gemeinde muss ich mich wiederholen: Der Antisemitismus darf nicht öffentlich subventioniert werden«, so der Vize-Vorsitzender der Bremer Gemeinde Grigori Pantijelew mit Verweis auf die schon gegen die Preisverleihung an Tony Judt geäußerte Kritik gegenüber der taz. Dass diese Selbstverständlichkeit zu gewährleisten ist, wenn nicht einmal das Muster zur Kenntnis genommen wird, welches dafür sorgt, dass man sich ein zweites, drittes, viertes Mal mit dem Thema befassen muss, darf bezweifelt werden.