Glaubt man zahlreichen Medien, war Hamas-Chef Haniyeh vielleicht kein Friedensengel, aber auf jeden Fall »moderat«. Die Verklärung von Terror-Paten ist nicht neu.
Über Tote nichts Schlechtes sagen — das ist offenbar die Leitlinie, der viele Journalisten auch dann folgen, wenn es um den getöteten Terroristenführer Ismail Haniyeh geht. »Ismail Haniyeh galt in der Hamas als einer der Gemäßigteren«, glaubt die österreichische Tageszeitung Der Standard zu wissen. Jakob Augsteins Wochenzeitung Der Freitag ist empört:
„Der ermordete Hamas-Führer Ismail Haniyeh galt als gemäßigter Diplomat … Warum wird eine Schlüsselfigur in der internationalen Diplomatie der Hamas jetzt umgebracht?«
»Das moderate Gesicht einer radikalen Organisation«, sieht die FAZ. Der Tagesspiegel nennt Haniyeh den »politischen Kopf der Hamas« und fügte unschuldig hinzu: »Er wird auch für Anschläge verantwortlich gemacht.« Die einen sagen so, die anderen so.
Auch für den Chef einer Terrororganisation scheint zu gelten, dass man ihn nicht als Terroristen bezeichnen darf, solange er nicht rechtskräftig verurteilt ist. In den Focus-Praxistipps war im November 2023 zu lesen:
»Grundsätzlich gilt Ismail Haniyeh bis heute als gemäßigt und pragmatisch. Im Gegensatz zu den radikalen Positionen in der Hamas, wäre er unter gewissen Voraussetzungen bereit, Israel als Staat anzuerkennen und somit eine Zwei-Staaten-Lösung zu akzeptieren.«
Die Behauptung, dass Haniyeh zu einer Anerkennung Israels bereit sein könne, war natürlich frei erfunden. Auch die Süddeutsche Zeitung verbreitete sie:
»Der mutmaßlich von Israel getötete Ismail Hanija galt für einen Hamas-Führer als eher gemäßigt. Er hätte auch eine Zweistaatenlösung akzeptiert – torpedierte sie aber zugleich mit Morden und Anschlägen.«
Blutvergießen als Selbstzweck
Ein tragischer Held, der zerstört, was er liebt? Nicht ganz. Was der Terrorchef — dessen drei Schwestern Kholidia, Laila und Sabah in Israel leben und die israelische Staatsbürgerschaft haben — wirklich liebte, hat er oft genug ausgesprochen: Endloses Blutvergießen bis zum Endsieg, der Zerstörung Israels. Nach dem Massaker vom 7. Oktober, am 26. Oktober 2023, lobte er die Gräuel als Gottes Werk und als eine Tat, die dem Gedanken der Koexistenz endgültig den Boden entzogen habe:
»Ich verkünde euch diesen mächtigen Sieg, der durch den heldenhaften Widerstand (d.h. die Raketenangriffe der Hamas auf israelische Städte) errungen wurde. Dieser göttliche, strategische, komplexe Sieg in dieser Phase des Konflikts mit dem zionistischen Feind … Dieser Kampf wird eine Fortsetzung haben. Der Erfolg kommt in erster Linie von Allah …
Wir betrachten diesen Kampf als einen qualitativen Quantensprung in der Geschichte des Konflikts mit dem Feind… Der Widerstand — und der Widerstand als Alternative — ist der kürzeste Weg zur Befreiung und zur Rückkehr, weil dieser Kampf die Illusionen von Verhandlungen durchkreuzt hat … die Pläne der Koexistenz mit der zionistischen Besatzung (d.h. Israel) durchkreuzt hat, die Pläne der Normalisierung mit der zionistischen Besatzung durchkreuzt hat … An dieser Stelle muss ich denen danken, die dem mutigen Widerstand Geld und Waffen gegeben haben. (Danke) an die Islamische Republik Iran, die diesem Widerstand kein Geld, keine Waffen und keine Technologien vorenthalten hat.«
Blutvergießen als Selbstzweck und Ablehnung von Kompromissen bestimmten Haniyehs Denken. Einige Beispiele:
- »Wir lieben den Tod…« (30. Juli 2014):
»Wir lieben den Tod so, wie unsere Feinde das Leben lieben! Wir lieben den Märtyrertod, die Art, wie Führer gestorben sind.« - »Wir brauchen das Blut der Kinder« (26. Oktober 2023):
»Das im Gazastreifen [vergossene] Blut, zusammen mit dem Widerstand und den Al-Qassam [Brigaden], wird diesen Besatzer (d.h. Israel) besiegen, diesen Feind besiegen… Wie ich schon sagte, und ich wiederhole es jedes Mal, das Blut der Kinder, der Frauen und der alten Menschen — ich sage nicht, dass es nach euch schreit, sondern wir brauchen dieses Blut, damit es in uns den Geist der Revolution entfacht, damit es in uns Beharrlichkeit weckt, damit es in uns Trotz und einen Vorstoß weckt.« - Keinerlei Kompromiss (6. September 2020):
»Die palästinensischen Gruppierungen unterscheiden sich manchmal in Bezug auf die strategische politische Vision. Ich habe erklärt, dass wir [Hamas] Israel nicht anerkennen werden, wir werden keinen Zentimeter des palästinensischen Landes aufgeben, [und] der bewaffnete Kampf ist eine strategische Wahl. Aber in dieser Phase suchen wir nach den gemeinsamen palästinensischen nationalen [Zielen]«. - Vernichtung Israels (29. Mai 2014):
»Wir denken, dass der Weg der Verhandlungen und der Friedensgespräche eine Sackgasse erreicht hat. Der Widerstand (die Terrorkampagne 2000-2005; Anm. Mena-Watch), der Gaza 2005 befreit und Gaza beschützt hat, kann die West Bank und den Rest des palästinensischen Landes [d.h. Israel innerhalb der grünen Linie von 1949; Anm. Mena-Watch] befreien, so Allah will. Der Befreier von Gaza kann Jerusalem, die West-Bank und den Rest von Palästina befreien. … Sie wollen, dass wir die israelische Besatzung anerkennen und den Widerstand aufgeben, aber als Vertreter des palästinensischen Volkes und im Namen aller, die sich nach Freiheit in der Welt sehnen, betone ich noch einmal, dass wir den Staat Israel niemals anerkennen werden. … So Allah will, werden wir uns … in Jerusalem, der befreiten Hauptstadt Palästinas, treffen.«
Al-Qaeda-Chef Osama bin-Laden war für Haniyeh Vorbild und Waffenbruder. Am 3. Mai 2011, einen Tag nachdem amerikanische Spezialkräfte Bin-Laden aufgespürt und getötet hatten, sagte er:
»Wir glauben, dass damit (mit der Tötung Bin-Ladens; Anm. Mena-Watch) eine amerikanische Politik fortgesetzt wird, die auf Unterdrückung und auf dem Vergießen von arabischem und muslimischem Blut beruht. Ungeachtet der unterschiedlichen Auffassungen in arabischen und islamischen Kreisen verurteilen wir natürlich die Ermordung eines muslimischen Mudschahed und eines Arabers. Wir beten, dass Allah ihn neben den Propheten, den Gerechten und den Märtyrern mit seiner Barmherzigkeit bedeckt.«
Haniyehs Foltergefängnis mit Raketen
Die Behauptung, dass Haniyeh in irgendeiner Weise »gemäßigt« gewesen wäre, hat keine Basis in der Wirklichkeit, weswegen auch keiner der Journalisten, die dies verbreiten, Beispiele nennt, die sie belegen könnten. Nie hat Haniyeh weniger Blutvergießen angestrebt, im Gegenteil. Er war radikal in Worten und auch in Taten.
In seiner Zeit als Hamas-Chef im Gazastreifen geschah die Transformation der Küstenenklave zu einer weltweit einzigartigen Terrorfestung, ober- und unterirdisch. Über die Bewohner herrschte er als Diktator in einem Schreckensregime.
In einem Bericht von Amnesty International von 2015 sind viele Beispiele aufgeführt. Da ist etwa Sabir al-Zain, 56, Vater von elf Kindern. Er wurde am 17. August 2014 gegen 5.30 Uhr von vier bewaffneten Männern verschleppt, die sein Haus in Jabalia überfielen, berichtete seine Frau und fügte hinzu, dass sie einen der Männer erkannte. Sie sagte, die vier Männer seien gewaltsam in das Haus eingedrungen, hätten es durchsucht und dann ihren Mann in einer weißen Hyundai-Limousine weggebracht.
Sie versuchte zwei Tage lang, seinen Aufenthaltsort herauszufinden, bis sie erfuhr, dass Sabir al-Zain von Beamten des internen Sicherheitsdienstes im al-Shifa-Krankenhaus festgehalten wurde. Sie erhielt daraufhin Drohanrufe von Anrufern, die sie davor warnten, Zugang zu ihrem Mann zu suchen. Am 22. August, fünf Tage nachdem er von bewaffneten Männern verschleppt worden war, erhielt Sabir al-Zains Familie einen Telefonanruf, in dem man ihr mitteilte, dass sich sein Leichnam in der Leichenhalle des al-Shifa-Krankenhauses befände und sie ihn von dort abholen könnten. Einer der Söhne sagte gegenüber Amnesty International:
»Mein Vater wurde unvorstellbar gefoltert. Es war furchtbar. Seine Arme waren gebrochen. Sie hatten ihn auf einem Herd verbrannt. Sein Körper war gebrochen. Ich untersuchte seinen Körper selbst. Ich war der Einzige, der den Anblick seines Körpers ertragen konnte. Ich war der Einzige, der hineinging und die Leiche sah. Es gab ein Papier, auf dem alle Namen [der Toten] gedruckt waren, außer dem Namen meines Vaters; dieser war am Ende handschriftlich mit einem ausgetrockneten Kugelschreiber notiert, wie ein nachträglicher Einfall.«
Claudia Roth und der »pragmatische Teil der Hamas«
Ismail Haniyeh ist nicht der erste Hamas-Chef, der zum »Moderaten« umgelogen wird. Vor zwölf Jahren beschrieb ich das gleiche Phänomen in einem Beitrag auf dem Blog Lizas Welt; damals betraf es Haniyehs Vorgänger Khaled Meschal. Genau wie jetzt über Haniyeh war auch damals über Maschal wahrheitswidrig behauptet worden, er sei »bereit, sich mit einem palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 zu begnügen, wenn Jerusalem die Hauptstadt ist und die palästinensischen Flüchtlinge zurückkehren können« (so ein Autor der FAZ). In Wahrheit hatte er kurz zuvor vor jubelnder Menge in Gaza bekräftigt, dass »Palästina« für ihn Tel Aviv einschließt:
»Die Einheit des palästinensischen Landes bezieht sich auf Gaza, die Westbank und das Land innerhalb der Grenzen von 1948. Das ist das Land Palästina, es ist alles Palästina, jeder Teil davon ist Palästina. Kein Teil davon wird von den anderen getrennt werden. Jeder, der glaubt, Gaza könne von der Westbank entfernt werden, täuscht sich. Gaza, die Westbank und das Land innerhalb der Grenzen von 1948 sind alles geliebte Teile des großen palästinensischen Heimatlandes.«
Der »Dschihad und der bewaffnete Widerstand« seien »der angemessene und wahre Weg zur Befreiung«:
»Der wahre Staatsmann ist aus dem Schoß des Gewehres und der Rakete geboren. Unsere Reise muss an ihr Ziel gelangen. Allah ist mit euch. Möge Allah euch segnen! O palästinensische Staatsmänner, o arabische und muslimische Staatsmänner, lernt eure Lektion von Gaza! Jeder, der den Pfad der Diplomatie nehmen will, muss eine Rakete mitführen. (…) Wie wundervoll war euer Beschuss Tel Avivs. Mögen eure Hände gesegnet sein! Wir sind stolz auf das, was ihr getan habt. Dschihad und Widerstand sind der Weg. Das ist keine bloße Rhetorik. Die Ereignisse haben gezeigt, dass Dschihad und Widerstand die überlegenste und verlässlichste Option sind.“
Die damalige Grünen-Vorsitzende Claudia Roth hatte im Fernsehen gerade die Israelis aufgefordert, mit dem »pragmatischen Teil der Hamas« Friedensverhandlungen zu führen. Wie die heutigen journalistischen Grabredner, wenn es um Haniyeh geht, blieb auch sie den Beleg für ihre Behauptung eines solchen Pragmatismus schuldig. Henryk M. Broder konstatierte in der Welt: „Mehrere Anfragen bei Frau Roth, wo der ›pragmatische Teil der Hamas‹ zu finden wäre, blieben von ihr unbeantwortet.«