Der Fall Farid Hafez (Teil 1)

Farid Hafez bei einer Preisverleihung. (Trollma/Wikimedia Commons, CC BY 3.0)
Farid Hafez bei einer Preisverleihung. (Trollma/Wikimedia Commons, CC BY 3.0)

Bei der Operation „Luxor“ gerieten auch einige prominente Muslime ins Visier der Ermittler. Einer von ihnen ist der bekannte Politologe Farid Hafez. Nicht zum ersten Mal wird ihm zumindest eine gewisse Nähe zur Muslimbruderschaft nachgesagt – was er selbst jedoch vehement bestreitet.

930 beteiligte Polizeibeamte, 60 Hausdurchsuchungen an mehreren Orten in Österreich, Sicherstellung zahlreicher Datenträger, Beschlagnahme von Vermögenswerten im mehrstelligen Millionenbereich und Ermittlungen gegen 70 Personen – das ist die Bilanz der Operation „Luxor“, mit der Sicherheitsbehörden in Auftrag der Staatsanwaltschaft Graz am 9. November 2020 u.a. wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen und wegen Terrorismusfinanzierung gegen vermutete Strukturen der Muslimbruderschaft und der Hamas vorgegangen sind.

Unter den ins Visier geratenen Personen befindet sich neben so prominenten Vertretern des organisierten Islam wie dem ehemaligen Chef der Islamischen Glaubensgemeinschaft Graz auch jemand, der in ersten Berichten als „österreichischer Politikwissenschaftler, der mit jährlichen Islamreports bekannt wurde“, beschrieben wurde. Farid Hafez, von dem hier die Rede ist, bestreitet zwar stets vehement, Mitglied der Muslimbruderschaft zu sein, und wer das trotzdem behauptet, muss damit rechnen, geklagt und verurteilt zu werden. Dass die Ermittler auch bei ihm anklopften, war dennoch nicht gänzlich überraschend: Immer wieder wurde ihm in der Vergangenheit zumindest ein Naheverhältnis zur Muslimbruderschaft nachgesagt.

Wer oder was ist die Muslimbruderschaft in Europa?

Doch wovon ist eigentlich die Rede, wenn von der Muslimbruderschaft in Österreich gesprochen wird? Offiziell existiert diese 1928 von Hasan al-Banna in Ägypten gegründete islamistische Organisation hierzulande nicht: In Österreich gibt es keinen Verein namens „Muslimbruderschaft“. Trotzdem leben etliche Menschen in Europa, die auf die eine oder andere Weise der Muslimbruderschaft zugerechnet werden können. Lorenzo Vidino, der wohl führende Experte zu diesem Thema, unterscheidet dabei zwischen drei Arten von Gruppen.

Da sind einerseits Menschen aus dem arabischen Raum, die in ihren Herkunftsländern reguläre Mitglieder der jeweiligen nationalen Zweige der Muslimbruderschaft waren und sich ab den 1950er und 1960er Jahren in europäischen Ländern niedergelassen haben – sei es, um hier zu studieren, oder aber, um der oft harten Repression zu Hause zu entgehen. Diese „wahren Brüder“ konzentrierten sich auf die Unterstützung der Aktivitäten ihrer Mutterorganisationen in den jeweiligen Herkunftsländern, die von ihnen gebildeten Gruppen „verfügen über eine starre Führungsstruktur, einen Rekrutierungsprozess, der in einer feierlichen Vereidigung gipfelt, und strenge Regeln für die Mitgliedsorganisationen – alles in Anlehnung an die in den Herkunftsländern angewandten Regeln und Praktiken.“

In Österreich gibt es mit Graz und Wien zwei Hochburgen dieser Muslimbrüder im engeren Sinn, bei denen es sich hauptsächlich um Ägypter, Syrer und Palästinenser handelt. In der deutschsprachigen Öffentlichkeit streiten sie in aller Regel ihre Zugehörigkeit zur Bruderschaft ab, einer arabischsprachigen Öffentlichkeit gegenüber bekennen sie sich hingegen manchmal stolz zu ihrer Mitgliedschaft.

Von sogenannten „Ablegern der Muslimbruderschaft“ spricht Vidino dagegen bei Organisationen, die von Personen mit engen persönlichen Verbindungen zur Bruderschaft gegründet wurden, formell aber von dieser unabhängig sind. Sie stehen der Ideologie der Muslimbrüder sehr nahe, bemühen sich aber darum, diese in einer Art und Weise neu zu formulieren, die an die Lebensbedingungen von Muslimen in westlichen Staaten adaptiert ist. Als Beispiel für Organisationen dieser Art in Österreich wird oft der „Liga Kultur Verein“ mit Sitzen in Wien und Graz genannt, der auch im Zentrum der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Graz steht und am 9. November zum Ziel von Hausdurchsuchen wurde. Organisationen dieses Typs sind oft daran zu erkennen, dass sie in länderübergreifende Dachorganisationen eingebunden sind, die der Muslimbruderschaft zuzuordnen sind. Im Fall der „Liga Kultur“ ist das die „Föderation Islamischer Organisationen in Europa“ (FIOE).

Von den „wahren Brüdern“ und den „Ablegern“ der Bruderschaft unterscheidet Vidino zu guter Letzt Organisationen, die von der Muslimbruderschaft beeinflusst sind:

„In den meisten Fällen wurden diese Organisationen nicht von Personen gegründet, die vollwertige Mitglieder der Bruderschaft waren, wie es bei den Ablegern der Bruderschaft der Fall ist, sondern von Leuten, die ihren Aktivismus in Bruderschaftskreisen begannen, aber nie tiefe Bindungen festigten. (…) Es sind Organisationen, die von der Vision, den Lehren und den Taktiken der Bruderschaft beeinflusst sind und damit klar einem bestimmten Modell des islamischen Aktivismus folgen. Diese Organisationen behalten Verbindungen zu Personen der Bruderschaft, auch wenn diese Verbindungen von unterschiedlicher Intensität sind und sich von Organisation zu Organisation unterscheiden. Aber sie sind in ihrem Kern, mehr noch als die Ableger der Bruderschaft, unabhängige Einheiten, die einen neuen Kurs des islamistischen Aktivismus im Westen verfolgen“.

Entscheidend ist, dass die Muslimbruderschaft falsch einschätzt, wer nur auf die formelle Mitgliedschaft in einer ihrer nationalen Zweige abstellt. Mehr als um eine fixe Organisation handelt es sich bei ihr um eine weltumspannende ideologische Bewegung, um eine „gemeinsame Art zu denken“, wie Youssf Nada es formulierte, ein führender Muslimbruder in Europa, dessen erste europäische Station Ende der 1960er Jahre übrigens Graz war.

Die Bruderschaft ist, wie ein führender ägyptischer Bruder es ausdrückte, eine „internationale Denkschule“. Im Jahr 2005 beschrieb der damalige Oberste Führer der dortigen Muslimbruderschaft, Mohammed Akef, das folgendermaßen: Die Muslimbruderschaft ist „eine globale Bewegung, deren Mitglieder auf der ganzen Welt miteinander kooperieren, basierend auf der gleichen religiösen Weltanschauung – der Ausbreitung des Islam, bis er die Welt beherrscht.“ Wer immer an „den Weg der Bruderschaft glaubt, ist ein Teil von uns, und wir sind ein Teil von ihm.“

Was wollen die Muslimbrüder?

Das letztendliche Ziel der Muslimbruderschaft ist die Herrschaft des Islam über die gesamte Welt, doch da diese nicht unmittelbar bevorsteht, backen die Aktivisten einstweilen kleinere Brötchen. Wie Vidino an anderer Stelle zusammenfasst, lassen sich drei Hauptziele der Muslimbruderschaft in Europa identifizieren.

Erstens ist sie vor allem darum bemüht, „unter westlichen Muslimen eine starke, belastbare und selbstbewusste islamische Identität zu schaffen“ sowie die „Sittlichkeit und Gottesfürchtigkeit“ der islamischen Gemeinden aufrecht zu erhalten. In seiner programmatischen Schrift über die „Prioritäten der islamischen Bewegung in der kommenden Phase“ plädierte Yusuf al-Qaradawi, der unbestritten wichtigste Vordenker der Muslimbruderschaft, dem im Laufe seiner langen Karriere mehrfach die Position des obersten Führers der Organisation angeboten wurde, dafür, „kleine Gemeinden innerhalb der größeren Gesellschaft“ zu schaffen, in denen die Muslime den nötigen Halt finden könnten. Es sei die Pflicht der islamischen Bewegung, die Muslime „nicht dem Strudel des im Westen vorherrschenden materialistischen Trends zu überlassen, denn sie müssen immer wieder an ihre Ursprünge erinnert werden“.

Es brauche Gemeinden mit „ihren eigenen religiösen, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen“, mit „eigenen Rechtsgelehrten und Glaubensmännern“, die gegenüber den Muslimen die Aufgabe hätten, „ihre Fragen zu beantworten, wenn sie sie stellen, sie zu führen, wenn sie den Weg verlieren, und sie zu versöhnen, wenn sie untereinander uneins sind.“

Ganz im Sinne des Aktivismus der Bruderschaft forderte Qaradawi nicht den Rückzug in muslimische Enklaven innerhalb der westlichen Gesellschaften, sondern einen „Konservatismus ohne Isolation“, eine „Offenheit, ohne zu verschmelzen“. Die Gläubigen würden nach dem Ende des Kalifats unter einem Mangel an richtiger Führung leiden, die Aufgabe der „islamische Bewegung“ in dieser Zeit sei es, die „fehlende Führerschaft der muslimischen Nation“ zu übernehmen.

Um den erwünschten muslimischen Zusammenhalt zu kreieren und sich selbst gegen Kritik zu immunisieren, bemüht die Muslimbruderschaft bevorzugt den Vorwurf der „Islamophobie“ gegen die Mehrheitsgesellschaft. Sie propagiert das Narrativ von der „Viktimisierung“ der europäischen Muslime, um in diesen die Überzeugung zu verankern, zu einer „belagerten“ Gemeinschaft zu gehören. Sie versucht, die europäischen Gesellschaften als durch und durch „anti-islamisch“ darzustellen, um die Muslime in den islamischen Gemeinden in eine Verteidigungshaltung gegen „Aggressionen“ von außen zu versetzen, denen sie täglich ausgesetzt seien.

Nach der Schaffung muslimischer Gemeinden, die an ihrem eigenen religiösen Konservatismus ausgerichtet sind, zielt die Muslimbruderschaft in Europa zweitens darauf ab, von staatlichen Stellen als legitime Vertretung der Muslime anerkannt zu werden und mit der Regelung des religiösen Lebens der Muslime beauftragt zu werden. Ihre Organisationen wollen von den westlichen Staaten als die offiziellen Stimmen des Islam gesehen werden und Ansprechpartner sein, wenn es darum geht, Lehrpläne für den islamischen Religionsunterricht zu erstellen, den islamischen Unterricht zu organisieren, Imame für öffentliche Dienste zu bestellen oder Gelder zu erhalten, mit denen Sozialleistungen für Muslime finanziert werden.

Eine solche Ermächtigung durch den Staat dient der Muslimbruderschaft nicht zuletzt dazu, ihre Vormachtstellung innerhalb der muslimischen Gemeinden in Europa zu zementieren und ihren Einfluss weiter auszubauen. Sie will, wie Vidino schreibt, ihren Führungsanspruch zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung machen: Indem sie von außen die Anerkennung als Führung der muslimischen Gemeinden erhält, erlangt sie diese Führerschaft nach innen.

Und drittens will die Muslimbruderschaft die westlichen Gesellschaften insgesamt in allen Fragen beeinflussen, die mit dem Islam zu tun haben. Das reicht von Debatten über behauptete Grenzen der Presse- und Meinungsfreiheit über die sogenannte Kopftuchdebatte bis hin zu außenpolitischen Fragen wie der Nahostpolitik, dem Atomkonflikt mit dem Iran oder dem Streit zwischen der EU und der Türkei.

Der Fall Farid Hafez

Blickt man vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen über die Organisationsstrukturen und Ziele der Muslimbruderschaft in Europa auf den Fall Farid Hafez, so wird schnell deutlich, warum sich die Verwunderung darüber in Grenzen hält, dass er bei den Ermittlungen gegen vermutliche Strukturen der Muslimbruderschaft in Österreich ins Visier der Staatsanwaltschaft Graz geraten ist: Seine gesamte Karriere passt bestens zu dem Bild des islamischen Aktivisten, das der Muslimbruderschaft in westlichen Ländern vor Augen schwebt.

  • Der Fall Farid Hafez (Teil 2): Jugendlicher Aktivismus | Beten mit Hassan al-Banna | Anas Schakfeh | Der Vordenker der Muslimbruderschaft? Ein „großer Gelehrter“. | „Zweifellos unter dem Einfluss“ der Muslimbruderschaft.
  • Der Fall Farid Hafez (Teil 3): Bildung, Bildung und wieder Bildung | Islamischer Unterricht | Im Netz der Bruderschaft | „Islamisch-politische Denker“ – lauter Demokraten! | Antisemitismus? Fehlanzige | Apologie der Muslimbrüder)
  • Der Fall Farid Hafez (Teil 4): Das angebliche Feindbild Islam | Die Rothschilds und die Rockefellers | Der „islamophobe“ Martin Luther | Der European Islamophobia Report | Lachen über eine massakrierte Redaktion | Eine Stiftung ganz nach Erdoğans Geschmack | Geld von der EU | Eine Konferenz in Köln | Der Akt der Staatsanwaltschaft Graz

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