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Wahrheit und Wirklichkeit: Der 7. Oktober 2023 und die sozialen Medien

In den sozialen Medien werden die Hamas-Gräueltaten wie auf dem Nova-Festival geleugnet
In den sozialen Medien werden die Hamas-Gräueltaten wie auf dem Nova-Festival geleugnet (© Imago Images / News Licensing)

Der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach geht hart ins Gericht mit sozialen Medien wie Twitter, TikTok und Telegram.

Ferdinand von Schirach

Die Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 in Israel sind in über 60.000 Videos dokumentiert. Trotzdem schenken viele Menschen Falschinformationen aus den sozialen Medien Glauben. Wie kann das sein?

Am 7. Oktober 2023 zerstören Hamas-Terroristen den Grenzzaun zu Israel. Rund 3.000 Kämpfer dringen über den Land-, See- und Luftweg in das Land ein. Die Terroristen schießen wahllos auf Passanten, sie plündern, morden und vergewaltigen in 22 Ortschaften an der Grenze.

Bei Re’im findet gerade ein Musikfestival statt. Die Terroristen stürmen das Gelände und feuern in die Menge. Sie ermorden 364 Festivalbesucher, viele wurden zuvor noch gefoltert und vergewaltigt.

Die New York Times recherchierte sehr umfangreich über die sexuelle Gewalt gegen Frauen. Danach berichten Zeugen von Frauen- und Mädchenleichen mit gespreizten Beinen, abgerissener Kleidung und deutlichen Anzeichen von Missbrauch im Genitalbereich. Videos zeigen zwei tote israelische Soldatinnen, denen offenbar direkt in die Vagina geschossen wurde. Auf einem Foto ist eine Frauenleiche zu sehen, der Nägel in die Oberschenkel und die Leistengegend gehämmert wurden.

Eine Festivalbesucherin sagt aus, sie habe sich während des Massakers unter einem Baum versteckt und mit Gras bedeckt, weil ihr in den Rücken geschossen wurde. Sie habe gesehen, wie einer Frau die Hose bis zum Knie heruntergezogen worden sei. Ein Mann habe hinter ihr gestanden und sie vergewaltigt. Jedes Mal, wenn sie zurückgewichen sei, habe er ihr mit einem Messer in den Rücken gestochen. Eine andere Frau, so die Zeugin, sei von einem Terroristen vergewaltigt worden, während ein weiterer Mann mit einem Cuttermesser ihre Brüste abgeschnitten habe. In Be’eri und Kfar Aza wurden in sechs Häusern Leichen von Frauen und Mädchen gefunden. Sie waren nackt, verstümmelt und gefesselt.

An diesem Tag werden 1.139 Menschen ermordet. Darunter sind 695 Zivilisten, einschließlich 36 Jugendliche und Kinder. Ein Ersthelfer sagt vor der Knesset aus, er habe abgetrennte Schädel von drei Kindern gesehen.

Tatsachen gelten nichts

Vor 75 Jahren erschien George Orwells Roman 1984. Heute denken die meisten Menschen bei dem Titel an den Überwachungsstaat, an »Big Brother is watching you«, (»Der Große Bruder sieht dich«). Aber eine andere Idee des Romans reicht weiter.

In dem Roman verändert das »Wahrheitsministerium« die Sprache der Menschen und damit die Wahrheit. Dieses Ministerium »war ein riesiger pyramidenartiger, weiß schimmernder Betonbau, der sich terrassenförmig dreihundert Meter hoch in die Luft reckte. Von der Stelle, wo Winston stand, konnte man gerade noch die in schönen Lettern in seine weiße Front gemeißelten drei Wahlsprüche der Partei entziffern: ›Krieg bedeutet Frieden / Freiheit ist Sklaverei / Unwissenheit ist Stärke‹.«

Das Gegenteil der Wahrheit wird geglaubt, wenn es nur oft genug behauptet wird. Vergangenheit lässt sich verändern, Tatsachen gelten nichts.

George Orwell hatte recht. Am Anfang waren es nur alberne Verschwörungstheorien: Die Mondlandung sei von Stanley Kubrick im Auftrag der US-Regierung inszeniert worden. Die Welt würde von Reptiloiden regiert, die sich als Menschen tarnen, wie zum Beispiel Barack Obama, die Queen oder Angela Merkel. Die Erde sei eine Scheibe. Paul McCartney sei schon lange tot, Walt Disney nur eingefroren, und Elvis lebe noch.

Dann wurde es ernster. Die Terroranschläge am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York seien von der US-Regierung selbst durchgeführt worden. Der Bevölkerung wären über den Corona-Impfstoff heimlich Mikrochips implantiert worden. Globale Eliten würden Zuwanderungsströme steuern. Putin erklärt, die Ukraine sei ein von Nazis unterwanderter Staat, der Genozid an der eigenen Bevölkerung verüben wolle. Und Donald Trump verkündet noch immer, er habe die Wahl gewonnen.

Opfer werden zu Tätern, Täter zu Opfern

Die sozialen Medien sind weitaus mächtiger, als es ein »Wahrheitsministerium« je sein könnte. Mit einem Tastenklick werden dort Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern gemacht. Wahrheit ist heute nur noch eine Meinung – und man darf ja wohl auch anderer Meinung sein. Die Wirklichkeit scheint nicht mehr zu existieren, selbst bei den schrecklichsten Verbrechen.

Zu den Massakern am 7. Oktober 2023 in Israel gibt es über 1.500 Zeugenaussagen, über 60.000 Videos – unter anderem aus den beschlagnahmten Körperkameras der Terroristen – und zahllose Fotos der Morde, Folterungen und Vergewaltigungen. Trotzdem glauben über neunzig Prozent der Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland, die Hamas habe in Israel keine Gräueltaten verübt.

Twitter, TikTok und Telegram werden mit Terrorpropaganda, Falschinformationen und Antisemitismus überschwemmt. Und das funktioniert: Auf der Sonnenallee in Berlin feiert am Abend des 7. Oktober das palästinensische Netzwerk Samidoun den Angriff der Hamas. Süßgebäck wird dabei an Passanten verschenkt. In London, Stockholm, Barcelona, Washington, New York, Chicago, Sydney und anderen Städten jubeln Menschen über den Terroranschlag auf Israel. Schon zwei Wochen nach den Morden gehen in London 100.000 Demonstranten für die Palästinenser auf die Straße.

Die Terroristen nahmen am 7. Oktober 2023 in Israel 251 Geiseln. An dem Tag, an dem ich diesen Text schreibe, sind nach Zählung der israelischen Zeitung Haaretz noch immer 66 Menschen in der Gewalt der Hamas, 35 Entführte wurden bereits für tot erklärt. Die jüngste Geisel ist ein Baby. Der Junge war achteinhalb Monate alt, als er entführt wurde.

In Orwells 1984 heißt es: »Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen sie sich einen Stiefel vor, der ein menschliches Gesicht zertrampelt – unaufhörlich.« Diese Stiefel sind heute die sozialen Medien.

Ferdinand von Schirach wurde 1964 in München geboren, studierte Jura in Bonn und arbeitete als Rechtsanwalt in Berlin. Mit Kurzgeschichten, Theaterstücken und Drehbüchern wurde er als Schriftsteller bekannt und ist heute ist ein vielfach ausgezeichneter Bestsellerautor. (Dieser Text erschien zuerst in der Welt und darf auf ausdrücklichen Wunsch des Autors unentgeltlich nachgedruckt werden.)

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