Von Thomas Kieschnick
Artikel zuerst erschienen in der Jungle World
Seit Wochen protestieren im Süden des Irak Zehntausende gegen Wassermangel und Stromausfälle, aber auch gegen Korruption und Arbeitslosigkeit. Der Aufruhr ist spontan, könnte für die irakische Regierung aber gefährlich werden.
Bei Temperaturen von mehr als 40 Grad im Schatten hilft auch kein Schwitzen mehr. Der Körper dehydriert in wenigen Stunden. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt daher bei extremer Hitze, viel Wasser zu trinken und einen kühleren Ort aufzusuchen. Nun sind derartige Temperaturen im Süden des Irak – schon immer eine der heißesten unter den besiedelten Gegenden der Erde – keine Seltenheit. Doch in der letzten Juniwoche und im Juli stieg die Temperatur dort auf 52 Grad im Schatten – elf Grad mehr als üblich. Lokale Firmen wussten sich nicht anders zu helfen, als ihren Angestellten Hitzefrei zu geben. Schulen schickten die Kinder den ganzen Tag lang ins Schwimmbad. Dann sorgten Stromausfälle in der vier Millionen Einwohner zählenden Stadt Basra dafür, dass auch die Klimaanlagen ausfielen. Aus den Wasserhähnen rann nur noch eine salzige Brühe.
Mit der Hitze nahm unter den Irakern und Irakerinnen in den Südprovinzen nicht nur die Verzweiflung zu, sondern auch die Wut. Am 8. Juli gingen in Basra Hunderte auf die Straßen, zogen vor das Gebäude des Provinzgouverneurs und forderten lautstark die Wiederherstellung der Stromversorgung sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die irakischen Ordnungskräfte reagierten umgehend und rabiat. Der Baghdad Post zufolge schossen die Polizisten mit Tränengas und scharfer Munition in die Menge. Bereits am ersten Tag der Proteste starb ein Demonstrant. In den Wochen darauf weiteten sich die Proteste auf Najaf, Maysan, Dhi Qar und Kerbala aus. Eine aufgebrachte Menge stürmte den Flughafen von Najaf und blockierte die Zugangswege zu den Ölraffinerien. Rund drei Wochen nach Beginn der Proteste gehen die Menschen noch immer auf die Straße. Mindestens 14 Menschen kamen durch die Gewalt der Ordnungskräfte ums Leben.
Der Schuldige für die Unruhen im Südirak war für viele Beobachter schnell ausgemacht. Der Iran hatte die Energielieferungen an das Nachbarland im Juni zurückgefahren. Überlastete Leitungen und Stromausfälle waren die Folge. Der Irak hatte ausstehende Rechnungen nicht bezahlt – wohl auch, weil Geldüberweisungen in den Iran nach dem Rückzug der USA aus dem Atomabkommen und der Erneuerung der Sanktionen ungleich schwieriger geworden sind. „Die Iraner hatten eine klare Botschaft an die USA. Wenn wir kein Öl exportieren können und wir keine Investitionen aus der EU bekommen, dann schaffen wir für euch Probleme. In Syrien. Im Irak. In den Golfstaaten. Überall“, urteilte Saad Jawad, Professor für Politologie an der London School of Economics, auf al-Jazeera.
Doch allein der Nahostpolitik des US-Präsidenten Donald Trump oder verstimmten Iranern die Schuld zu geben, greift zu kurz. Denn die Irakerinnen und Iraker demonstrierten nicht nur gegen den Mangel an Wasser und Elektrizität, ihr Zorn richtete sich schnell gegen die Korruption der Regierung in Bagdad und in den Provinzen. „Die Situation der Jugend in Basra ist miserabel„, sagte Abdul Wahid, ein 26jähriger, der selbst an den Protesten teilnahm, der Zeitung Gulf News. So gibt es in der Stadt Hochschulabsolventen, die sich lediglich als Bauhelfer oder Reinigungskräfte ein paar Irakische Dinar verdienen können. Die Arbeitslosenrate in Basra beträgt 30 Prozent, im gesamten Irak sollen 70 Prozent derer, die jünger als 40 Jahre sind, auf der Suche nach Arbeit sein. Dabei lagern unter dem Sand der überwiegend schiitischen Südprovinzen rund 70 Prozent der irakischen Ölreserven, die über die Häfen in Basra und Umm Qasr verschifft werden. Doch die Einnahmen kommen nicht in den Massenquartieren der Großstädte an, sondern versickern in den Amtsstuben der Ministerien und Behörden.
Auf dem Korruptionsindex von Transparency International belegt der Irak Platz 166 von 176 – nur zehn der untersuchten Länder werden als noch korrupter eingestuft. Was das konkret bedeutet, beschrieb Mishan al-Jabouri, ein Mitglied des parlamentarischen Antikorruptionskomitees, bereits 2016 im Guardian. So gebe es im Irak rund 30.000 Geistersoldaten – jährlich würden rund 500 bis 600 Millionen US-Dollar als Gehalt an Sicherheitskräfte gezahlt, die gar nicht existierten. Das Geld steckten die Kommandeure ein. Ähnlich verhalte es sich mit Geldern im öffentlichen Sektor, so seien an Richter in Tikrit – der Herkunftsstadt Saddam Husseins – Mittel für den Bau eines Gerichts überwiesen worden, das nie errichtet wurde. Geld für den Ausbau der Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung in der Provinz Basra sei ebenso verschwunden. „Jeder ist korrupt – von der Spitze der Gesellschaft bis zur Basis. Jeder. Auch ich“, sagte al-Jabouri, der eingesteht, eine Zahlung von fünf Millionen Dinar (etwa 10.000 Euro) erhalten zu haben, damit er Ermittlungen gegen einen korrupten Beamten einstellt.
Korruption ist im Irak nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Rund 95 Prozent des staatlichen Budgets werden über den Verkauf von Rohöl erwirtschaftet. Bereits unter der Diktatur Saddam Husseins war kein Funktionär des Regimes der Ansicht, dass diese Einnahmen der irakischen Bevölkerung gehörten. Mit dem Austausch der politischen Führungsschicht nach der von den USA geführten Intervention im Jahr 2003 hat sich an dieser Praxis unter den neuen Machthabern wenig geändert. Ein politischer Posten bedeutet Zugriff auf einen Teil der Ölmilliarden. Wer bei dem Spiel nicht mitmacht, wird als schwach angesehen.
Die bewaffneten und unbewaffneten Konflikte der jüngsten irakischen Geschichte können als Resultat dieser Verteilungskämpfe und der Selbstbedienungsmentalität der politischen Führungsschicht verstanden werden. Mit dem Sturz des Saddam-Regimes ging eine „Säuberungswelle“ in den politischen Institutionen und der Armee einher. Sunnitische Politiker wurden aus Schlüsselpositionen entfernt und durch Schiiten ersetzt. Abgeschnitten von den Geldtöpfen in Bagdad griffen die ehemals Privilegierten zur Gewalt. Die Terrororganisationen al-Qaida und „Islamischer Staat“ in den sunnitischen Gebieten des Irak wurden maßgeblich von ehemaligen Funktionären der Saddam-Junta aufgebaut. Unter den arbeitslosen Vorstadtkindern in Mossul, Tikrit und Baquba fanden sie ihre Fußsoldaten. Auch das Streben nach kurdischer Unabhängigkeit im Nordirak kam vor allem wegen des Streits der Regionalregierung mit der Zentralregierung in Bagdad über die Verteilung der Öleinnahmen in Schwung. Die Schiiten im Irak galten bislang als die Gewinner des Regimewechsels 2003 und der nachfolgenden Änderung der Machtverhältnisse im Irak.
Den anhaltenden Aufstand im schiitischen Südirak dürfte die Regierung unter dem seit 2014 amtierenden Ministerpräsidenten Haider al-Abadi nur schwer beruhigen können. Denn die Proteste wurden nicht von einer Partei organisiert und haben kaum eine konfessionelle Basis, die sich die Regierung zunutze machen könnte. Die Demonstrierenden setzten das Hauptquartier von al-Abadis Partei Dawa ebenso in Brand wie das der vom Iran unterstützten Organisation al-Badr und des Obersten Islamischen Rats. „Wenn die Büros jeder Partei angegriffen werden, kann davon ausgegangen werden, dass die Proteste spontan sind“, analysiert Zaid al-Ali, ein früherer UN-Berater, die Lage für al-Jazeera. „Bei den Protesten geht es um die schlechten Lebensbedingungen und um Armut. Die Protestierenden sind frustriert vom Staat, unabhängig davon, wer diesen nun repräsentiert.“
Obwohl sich die Proteste in Basra auch offen gegen den iranischen Einfluss im Land richten, genießen sie die Unterstützung der schiitischen Geistlichkeit im Irak. „Die Regierung muss hart daran arbeiten, die Bedürfnisse der Menschen zu adressieren und ihr Leiden zu minimieren“, ließ Großayatollah Ali al-Sistani über einen Sprecher ausrichten. Die irakische Regierung reagiert überraschend schmallippig. Hadi al-Amiri, Kommandeur schiitischer Milizen und verlängerter Arm des iranischen Regimes im Irak, entschuldigte sich öffentlich bei den Demonstrierenden, nicht ausreichend auf deren Bedürfnisse eingegangen zu sein. Al-Abadi versprach, umgehend 10.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen, und beurlaubte am Sonntag kurzerhand den Minister für Elektrizität, Qassim al-Fahdawi. Dass deshalb die Klimaanlagen im Süden wieder anspringen und für etwas Abkühlung sorgen, ist unwahrscheinlich.