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Decolonizing Auschwitz?

Das Lagertor des NS-Vernichtunglagers Auschwitz-Birkenau
Das Lagertor des NS-Vernichtunglagers Auschwitz-Birkenau (Quelle: Deutsches Bundesarchiv)

Was in diesem Jahr mit der Debatte um Achille Mbembe und später die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit und ihren Trittbrettfahrern begann, könnte 2021 zu einem der bestimmenden Themen werden: Die Relativierung des Holocaust. Wer sich auf diese Auseinandersetzung vorbereiten möchte, sollte Steffen Klävers Buch „Decolonizing Auschwitz?“ lesen.

Stefan Laurin

Deutschland hat mehr noch als Großbritannien oder Frankreich einen großen Nachholbedarf, wenn es um die Diskussion seiner Kolonialverbrechen geht. Sogar das Deutschland überhaupt einmal eine Kolonialmacht war, dürfte nicht allen hier lebenden Menschen bekannt sein. Dafür gibt es verschiedene Gründe. In Folge des Ersten Weltkriegs verlor Deutschland alle seine Kolonien, wirtschaftlich waren sie nie besonders bedeutend und es gab auch nur eine überschaubare Zahl an Siedlern. Auch die Genozide an den Herero, Nama und Pangwa in den afrikanischen Kolonien haben keinen festen Platz in der Erinnerungskultur des Landes.

Die Shoah und die deutsche Kolonialisierung des Ostens, die mit dem Vernichtungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion nach Jahrhunderten ihren Höhepunkt fanden, sind die prägenderen historischen Ereignisse und das aus guten Gründen: Wie andere Kontinentalmächte auch konzentrierten sich Deutschland und all seine historischen Vorläufer auf Eroberungen zu Land, und die Shoah unterschied sich fundamental von allen anderen bekannten Genoziden der Geschichte.

Die Shoah ist allerdings kein Grund, sich nicht mit der deutschen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen, ihre Verbrechen zu beschreiben, an sie zu erinnern und die Nachfahren der Opfer zu entschädigen, denn um die Opfer der deutschen Verbrechen hat sich kaum jemand interessiert, als sie noch lebten. Und um das zu tun, muss auch nicht die Shoah relativiert werden.

Postkoloniale Holocaust-Relativierung

Doch genau das ist eines der Anliegen der Vertreter postkolonialer Theorie, die weit mehr ist als der Zweig der Geschichtswissenschaft, der sich mit den Auswirkungen der Kolonialzeit sowohl auf die ehemaligen Kolonien als auch auf die einstigen Kolonialstaaten beschäftigt.

Als der zurzeit wohl wirkmächtigste Teil des postmodernen Denkens verkennt die postkoloniale Theorie bewusst die Besonderheit des Antisemitismus. Antisemitismus ist hier einfach nur eine Form von Rassismus und die Beschäftigung mit der Shoah ein Instrument des Westens, um der Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit zu entgehen und die Leiden der Völker des „globalen Südens“ herabzusetzen.

Der Westen soll sich nach dem postkolonialen Denken nicht nur mit seiner Kolonialzeit beschäftigen, Opfer entschädigen oder seine Erinnerungspolitik erweitern, sondern inklusive seiner Errungenschaften wie Aufklärung und Demokratie auf seine koloniale Vergangenheit reduziert werden, die ihn quasi genotypisch bis heute bestimmt und nicht nur ein Teil, wenn auch ein fürchterlicher, seiner Geschichte ist.

Es geht hier also nicht um klassische, historische Aufarbeitung, sondern um die Denunzierung der Aufklärung und der Demokratie für welche die Kolonialgeschichte instrumentalisiert wird. Dabei tritt die Realgeschichte, wie es Wolfgang Reinhard in „Die Unterwerfung der Welt“ treffend beschreibt, hinter politisch passende Erzählungen zurück. Die Entwicklung postkolonialer Staaten in Asien wird dabei ebenso wenig berücksichtigt wie die Rolle des Osmanischen Reichs, des arabischen und afrikanischen Sklavenhandels oder die Eroberungspolitik afrikanischer und arabischer Reiche.

Die Relativierung der Shoah ist ein zentraler Bestandteil dieses Angriffs auf die Aufklärung, bei dem es natürlich auch um die Eroberung von Deutungshoheit, Posten und öffentliche Gelder geht, wie es Michael Burkhardt im Freitag beschrieben hat. Mehr noch als im Plädoyer der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ wird das in dem Text ihrer Trittbrettfahrer deutlich, der unter der Überschrift „Wir können nur ändern, was wir konfrontieren“ veröffentlicht wurde. Dort heißt es:

„Wir erkennen das Bekenntnis Deutschlands zu seiner historischen Verantwortung für den Holocaust an und schätzen es zutiefst. Gleichzeitig verurteilen wir die ungeheure Nachlässigkeit des deutschen Staates, wenn es darum geht, die deutsche Täterschaft für vergangene koloniale Gewalt anzuerkennen. Der Kampf gegen Antisemitismus kann nicht nach Belieben von parallelen Kämpfen gegen Islamophobie, Rassismus und Faschismus entkoppelt werden. Nachdrücklich lehnen wir die Monopolisierung von Unterdrückungserzählungen durch Staaten wie Deutschland ab, die historisch Unterdrücker waren. Wir lehnen die Vorstellung ab, dass die Leiden und Traumata von Opfern politischer und historischer Gewalt gemessen und in eine Rangfolge gebracht werden können.“

Nicht nur, dass der Islamismus nicht als eine der Ideologien genannt wird, die bekämpft werden müssen, ist auffällig. Die angebliche „Monopolisierung von Unterdrückungserzählungen“ – im postmodernen Jargon stehen natürlich nicht Unterdrückung, Massenmorde oder Genozide im Zentrum der Betrachtung, sondern die „Erzählungen“ von ihnen – zeigt klar, worum es geht: Die Relativierung der Shoah, denn die Beschäftigung mit ihr führt angeblich dazu, andere Verbrechen zu ignorieren.

Sicher gibt es bei der Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit Defizite. Aber von einem Monopol der Shoah kann keine Rede sein. Die Menge und Qualität der historischen Literatur über die, auch deutsche, Kolonialzeit, ist beeindruckend, auch wenn es ein „ausreichend“ bei der Beschäftigung mit Geschichte nie geben kann.

Michael Rothberg und die „multidirektionale Erinnerung“

Diese Relativierung der Shoah durch die Vertreter postkolonialer Geschichte hat gute Aussichten, im kommenden Jahr eine Debatte auszulösen, wie sie das Land zuletzt beim Historikerstreit in den 80er Jahren erlebt hat. Thomas Schmid brachte es auf den Punkt, als er von einer neuen „Schlussstrich-Debatte“ schrieb, die dieses Mal von links geführt wird. Doch ganz neu, stellte Thierry Chervel schon im Mai in Perlentaucher fest, sei die Relativierung des Holocausts durch Teile der Linken nicht:

„Gerade die verknöcherte traditionelle Linke vor ihrer Modernisierung in der 68er-Zeit und danach interessierte sich nicht für den Holocaust. Eine Linke, die nur ‚antifaschistisch‘ dachte, konnte den Holocaust gar nicht in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen. Denn der ‚Faschismus‘ war nach dieser Ideologie nur das letzte Stadium des Kapitalismus oder genauer, nach der (…) offiziellen Definition von 1935, ‚das Instrument der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals‘. Auch hier störte die Dimension des Judenmords nur, der sich aus keinerlei Logik des Kapitalismus erklären ließ.“

Das beste Buch, um sich auf diese Debatte vorzubereiten, ist im vergangenen Jahr erschienen. Es heißt „Decolonizing Auschwitz?“ und ist die Dissertationsschrift des Historikers Steffen Klävers. Klävers stellt in ihm verschiedene postkoloniale Texte und Autoren vor, arbeitet heraus, was die Shoah von anderen Genoziden unterscheidet und zeigt auf, dass ihre Relativierung im Zentrum der Arbeit viele postmoderner Historiker steht.

Einer von ihnen ist Michael Rothberg, der auch das Weltoffenheits-Plädoyer unterschrieben hat, in dem sich zahlreiche Kulturfunktionäre gegen den Bundestagsbeschluss gestellt haben, der die BDS-Kampagne als antisemitisch benannt hat und fordert, ihre Anhänger nicht mehr mit öffentlichen Geldern zu unterstützen. Im Januar erscheint Rothbergs Buch „Multidirektionale Erinnerung: Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung“ erstmals in einer deutschen Übersetzung.

Wie die in Deutschland prominente Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann geht Rothberg davon aus, dass „Völker“ ein „kollektive Gedächtnis“ besitzen. Die seiner Ansicht nach dominante Rolle der Shoah will Rothberg durch sein Konzept der multidirektionalen Erinnerung korrigieren, um so das „silencing“ gegenüber anderen Verbrechen zu beenden. Nach Rothberg sei, schreibt Klävers, „die eine Erinnerungskultur (…) in der Lage, die andere ‚auszustechen‘ und damit zu marginalisieren.“

Rothberg befürwortet, wenn postkoloniale Historiker im Zusammenhang mit der Sklaverei von einem „black holocaust“ schreiben: „Wenn die Sklaverei (…) als ‚black holocaust‘ beschrieben wird, dann wäre die Verdrängung und Leugnung dieses Ereignisses ebenfalls ein Fall von Holocaustleugnung.“ Den Status des ‚Besonderen‘, spricht nach Klävers Rothberg ausschließlich der Holocaust-Erinnerung zu, allerdings nicht dem Ereignis. Die Shoah wird zu einem von vielen Genoziden, deren einzige Besonderheit sei, dass ihr in Europa und Amerika besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Gegen die Dekoloniserung von Auschwitz

Doch warum ist das so? Warum steht nach Meinung postkolonialer Historiker die Shoah im Zentrum der Erinnerung Europas und Amerikas, aber nicht die Verbrechen des Kolonialismus? Klävers beschreibt, was der Grund für diese Annahme ist:

„Der Holocaust sei im Westen nur aus dem Grund als bisher größtes Verbrechen der Menschheit bewertet worden, weil zuvor nahezu ausschließlich Nicht-EuropäerInnen bzw. Nicht-Weiße dem westlichen Imperialismus zum Opfer fielen. Prinzipiell handele es sich bei Kolonialismus und Holocaust jedoch um dasselbe Phänomen, nämlich um die Kolonisierung und Auslöschung von Menschen. Der Holocaust sei dadurch auch nicht einzigartig, sondern genau genommen eine logische Konsequenz aus der europäischen kolonialen Vergangenheit bzw. durch diese erst möglich geworden“

Er zitiert den Politiker und Schriftsteller Aimé Césaire, der in seiner Abhandlung über den Kolonialismus den Nationalsozialismus und den Holocaust als „Demütigung des Weißen“ beschrieb, „die in der „Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa“ bestehe, „denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren.“

Die postkolonialen Historiker haben, das wurde schon in der Mbembe-Debatte im Sommer klar, keinen Begriff von Antisemitismus. Auch die Beschäftigung mit historischen Fakten hat für sie keine allzu große Bedeutung. Ihre Welt besteht aus Erzählungen, die man durchsetzen muss. Alles ist nur ein großes Spiel um Macht, Geld und Einfluss. Klävers zeigt auf, wo die fatalen Lücken im Verständnis über die Shoah und den Antisemitismus liegen.

„Der Nationalsozialismus unterscheidet sich daher fundamental von allen anderen bisherigen Ereignissen von staatlich oder durch staatliche VertreterInnen verübtem Massenmord und Massengewalt – allerdings nicht hinsichtlich der Anzahl der Opfer oder in der Technik des Tötens, sondern vor allem dadurch, dass er keinen konkreten Feind kannte. Der Feind im Nationalsozialismus ist primär das jüdische Leben, alles jüdische Leben, die Idee des Jüdischen selbst, sollte vernichtet, also zu nichts gemacht werden, ohne Ausnahme. Doch es gab keine konkrete Bedrohung, die vom Judentum ausging: Keinen territorialen Konflikt, keine Aufstände, keine jüdische Gewalt irgendeiner Art. Und mit keiner anderen Gruppe wurde eine spirituelle Erlösung des eigenen ‚Volkes‘ assoziiert.“

Dazu kommt noch, und auch das unterscheidet die Shoah von allen anderen Genoziden, dass der Vernichtungswille Deutschlands so groß war, dass die Mörder auch bereit waren, Nachteile in Kauf zu nehmen, um ihre Verbrechen fortzuführen. Züge voller Juden rollten durch Europa in die Vernichtungslager zu einem Zeitpunkt, als Transportkapazitäten dringend für die Truppen an der Front benötigt wurden. Männer, die als Soldaten hätten kämpfen können, wurde für die Massenvernichtung eingesetzt. Auch angesichts der drohenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg war Deutschland die Vernichtung der Juden wichtiger als der Kampf gegen die von Westen und Osten heranrückenden Heere der Alliierten.

Neuer Historikerstreit

Uns steht ein Historikerstreit bevor, der in seiner ideologischen Wucht weit über ihre Vorgängerdebatte aus den 80er Jahren hinaus geht. Damals schrieb der Historiker Ernst Nolte:

„Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten? Sind Hitlers geheimste Handlungen nicht gerade auch dadurch zu erklären, daß er den ‚Rattenkäfig‘ nicht vergessen hatte? Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?“

Große Teile der Öffentlichkeit und der Historiker stellten sich damals Nolte entgegen. Die Debatte wurde nicht nur ideologisch, sondern auch auf Basis historischen Wissens geführt. Dieses Mal könnte es anders sein: Zahlreiche Medien werden sich auf die Seite der Vertreter des Postkolonialismus stellen und sie verteidigen, ja, die Relativierung der Shoah als Erleichterung und Befreiung sehen.

Historische Fakten wird man zu ignorieren versuchen. Was in den 80er Jahren noch als reaktionär galt, wird sich nun als links, offen und multikulturell präsentieren, als Verkörperung eines neuen, längst überfälligen Denkens, das es nun auch in Deutschland zu verbreiten gilt. Mit Begeisterung werden die Verbrechen des Kolonialismus genutzt, um aus einer Mischung aus Antisemitismus und Feindschaft gegenüber dem Westen die Shoah zu relativieren und Demokratie und Aufklärung verächtlich zu machen. Es wird spannend sein zu sehen, wo diese Gesellschaft in wenigen Jahren stehen wird, denn solche Debatten werden tiefe Spuren hinterlassen.

Steffen Klävers: Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung. Berlin, Boston 2019. Stefan Laurin ist freier Journalist und Herausgeber des Blogs Ruhrbarone, wo dieser Text ursprünglich auch erschien.

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