Was als Diskussion über die Vorliebe der Ruhrtriennale-Intendantin für „Israelkritiker“ begann, hat sich zu einer weitreichenden Debatte über den Philosophen Achille Mbembe, dessen Haltung zum jüdischen Staat, postkoloniale Studien, Rassismus und die Shoa entwickelt. Deutlich wird dabei: Mbembe und seinen Verteidigern fehlt ein adäquater Antisemitismusbegriff, dafür sind sie schnell und ohne jeden Beleg mit dem Vorwurf bei der Hand, die Kritik sei rassistisch motiviert.
Angesichts der Tatsache, dass die Debatte über den kamerunischen Philosophen und Historiker Achille Mbembe und dessen Positionen zu Israel nun bereits seit mehreren Wochen in zahlreichen Medien geführt wird – und darüber hinaus eine Reihe von offenen Briefen sowie Petitionen hervorgebracht hat –, muss man noch einmal daran erinnern, was eigentlich der Ausgangspunkt respektive der Anlass war.
Es ging ursprünglich um das jährliche Kulturfestival Ruhrtriennale und dessen Intendantin Stefanie Carp, die es zum dritten Mal hintereinander für eine gute Idee hielt, jemanden einzuladen, der Israel in schrillen Worten dämonisiert.
Erst wollte sie im Jahr 2018 die schottische Band Young Fathers auftreten lassen, die zu den Unterstützern der antisemitischen und israelfeindlichen BDS-Bewegung gehört. Nach Protesten und einigem Hin und Her kam es dazu schließlich doch nicht, Carp war allerdings angezählt. Trotzdem engagierte sie ein Jahr später mit Ofira Henig eine Künstlerin, die Israel für einen „faschistischen Staat“ hält.
In diesem Jahr sollte Achille Mbembe die Eröffnungsrede halten – und damit jemand, der unter anderem nachweislich zwei Aufrufe zu einem akademischen Boykott Israels unterzeichnet hat, mit seinem Rückzug von einer Konferenz drohte, weil dort auch eine israelische Psychologin sprechen sollte, und zum Buch „Apartheid Israel“, dessen Erlös der BDS-Bewegung zugutekommt, das Vorwort beigesteuert hat.
Hinzu kommen Äußerungen in seinen Schriften wie jene, Israel verfahre mit den Palästinensern weitaus schlimmer als Südafrika während der Apartheid mit seinen schwarzen Bürgerinnen und Bürgern, wende „Techniken der materiellen und symbolischen Auslöschung“ an und betreibe eine „fanatische Zerstörungspolitik“.
Mbembe behauptet, die Israelis betrachteten die Palästinenser als „Müll“, der entsorgt werden müsse, und nennt das den „größten moralischen Skandal unserer Zeit“. Die israelische Politik hält er für eine Folge davon, dass die Juden den Nihilismus der Nationalsozialisten, von denen sie verfolgt und vernichtet wurden, verinnerlicht hätten.
Mbembes Verteidiger mobilisieren stärker
Auf einige dieser indiskutablen Punkte und insbesondere auf die inhaltliche Nähe zur BDS-Bewegung wies Lorenz Deutsch, der kulturpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag, in einem offenen Brief an Stefanie Carp hin.
Dabei hob er „die einstimmige Haltung des Landtags“ zur BDS-Bewegung hervor: Das Parlament habe diese „in ihrem Kern als antisemitisch eingestuft und infrastrukturelle und ideelle Verbindungen mit dem Land NRW ausgeschlossen“. Einen ähnlichen Beschluss hatte auch der Deutsche Bundestag getroffen. Deutsch bat Carp deshalb, „die ausgesprochene Einladung zu überdenken“.
Wegen des Corona-Virus wurde die Ruhrtriennale mittlerweile abgesagt, Stefanie Carps dreijährige Intendanz ist damit beendet. Die Debatte aber ging weiter und nahm immer mehr an Fahrt auf.
Was zunächst eine Causa Carp war, bei der die Kritik an der Intendantin im Mittelpunkt stand, ist inzwischen zu einer erheblich breiteren Diskussion geworden, die vor allem in den Feuilletons ausgetragen und von diversen Appellen und Unterschriftenaktionen begleitet wird. Dabei mobilisieren die Verteidiger Mbembes wesentlich stärker.
Von ihrer Seite gibt es gleich drei relevante Aufrufe: einen von jüdischen Gelehrten und Künstlern, gerichtet an den deutschen Innenminister Horst Seehofer mit der Forderung, den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, abzuberufen. Klein hatte Mbembe für dessen Positionen zu Israel deutlich kritisiert und ihm unter anderem vorgeworfen, Äußerungen getätigt zu haben, die eine Relativierung der Shoa darstellen.
Ein weiterer Aufruf, der den Titel „Solidarität mit Achille Mbembe“ trägt, kommt von Wissenschaftlern, die sich „von Berufs wegen mit der Geschichte des Antisemitismus und Nationalsozialismus, des Kolonialismus und Rassismus“ beschäftigen, wie sie selbst schreiben. Sie sind überzeugt, dass es eine „Kampagne“ gegen Mbembe gibt, mit der dieser „diskreditiert“ werden soll.
Rechtsradikale Rassisten am Werk?
Der dritte und neueste Aufruf stammt von rund 800 afrikanischen Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern. Er richtet sich an die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und an den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, auch in ihm wird die Absetzung von Felix Klein gefordert.
Keiner dieser Appelle setzt sich mit der konkreten Kritik an Achille Mbembe auseinander; sie alle führen stattdessen die Reputation des Kritisierten zu seinen Gunsten ins Feld, klagen über seine angeblich grundlose Beschädigung und greifen ihrerseits die Kritiker an. Inhaltliche Argumente fehlen dabei weitgehend, umso mehr werden die angeblich sinistren Motive für die Kritik in den Mittelpunkt gestellt.
Die afrikanischen Intellektuellen gehen dabei sogar so weit, in ihrem offenen Brief von „lügnerischen Antisemitismus-Anschuldigungen rechtsextremer fremdenfeindlicher und rechtskonservativer Gruppierungen in Deutschland gegen Professor Achille Mbembe“ zu schreiben.
Etwas Ähnliches hatte zuvor schon Mbembe selbst geäußert: Er ist davon überzeugt, dass die inhaltliche Kritik an ihm nur vorgeschoben ist und er in Wirklichkeit wegen seiner Hautfarbe abgelehnt wird. Daraus folgt für ihn – wie auch für die afrikanischen Intellektuellen, die ihn verteidigen – im Umkehrschluss, dass hier nur rechtsradikale Rassisten am Werk sein können. Belege für diese Beschuldigung werden nicht beigebracht.
Diese Sichtweise hat viel damit zu tun, dass Israel in diesen Kreisen als Kolonialmacht betrachtet wird und jene, die Boykottaufrufe und andere Formen der gegen Israel gerichteten Dämonisierung und Delegitimierung zurückweisen, als dessen rassistisch motivierte Helfershelfer. Das aber ist falsch, und zwar unabhängig von „Sprechort“ und Blickwinkel.
Die Verteidigerinnen und Verteidiger von Mbembe gehen jedoch noch weiter und sprechen, wie Aleida Assmann, von einer deutschen „Fixierung auf die Singularität des Holocaust“ oder behaupten gar, wie Charlotte Wiedemann, diese Singularität werde als „Waffe“ benutzt, „um anders gelagerten Schmerz in die zweite Reihe zu verweisen“.
Ein adäquater Antisemitismusbegriff fehlt
Und warum soll das so sein? Manche von denen, die sich mit dem Postkolonialismus beschäftigen, sehen in der Kritik an Mbembe vor allem den Versuch, von den kolonialen Verbrechen Deutschlands und der Frage nach Reparationen oder der Restitution von Raubgütern abzulenken und eine Stimme der Unterdrückten zum Verstummen zu bringen.
Eine recht praktische Annahme, denn wenn man die „wahren“ Gründe für die Kritik schon kennt, muss man sich mit dem Inhalt der Kritik gar nicht mehr auseinandersetzen – und damit auch nicht mit dem Antisemitismus.
Die Äußerungen von Assmann, Wiedemann, Mbembe selbst und vielen anderen verweisen in diesem Zusammenhang auf ein generelles Problem der postkolonialen Studien und ihrer Vertreterinnen und Vertreter, das Ingo Elbe so zusammengefasst hat:
„Ein am Modell des europäischen Kolonialismus gebildeter Begriff von Rassismus und ‚Othering‘ wird, ohne Rücksicht auf den zu erforschenden Gegenstand, als weltanschauliche Schablone verwendet. Das führt zunächst dazu, den Antisemitismus notorisch auf eine Ebene mit dem Rassismus gegenüber Schwarzen oder Arabern zu stellen. […]
Wer nun keinen adäquaten Begriff von Antisemitismus besitzt, kann auch keinen von der Spezifik des Holocaust entwickeln. Und so wird dieser allzu häufig lediglich als innereuropäisches Kolonialverbrechen interpretiert. Zu diesem Zweck wird die Shoah systematisch vom erlösungsantisemitischen Totalvernichtungsmotiv entkoppelt und in eine Kontinuität von Versklavung und kolonialem Völkermord aufgelöst.“
Das Fehlen eines adäquaten Antisemitismusbegriffs wird auch bei der amerikanischen Philosophin Susan Neiman und der Journalistin Sonja Zekri deutlich: Beide sind der Ansicht, dass der „eigentliche“ Antisemitismus ganz woanders zu finden sei als bei Mbembe.
Neiman sagte im Deutschlandfunk, rechte Geschichtslehrer seien viel gefährlicher als ein postkolonialer „Israelkritiker“; Zekri, die das Feuilleton-Ressort der Süddeutschen Zeitung leitet, erwähnt neben den Rechtsextremisten vor allem die Verschwörungsideologen auf den Demonstrationen gegen die coronabedingten Einschränkungen.
Durchschaubare Versuche
Es sind recht durchschaubare Versuche, das eigene Milieu in Schutz zu nehmen und dabei auszublenden, dass der Antisemitismus gerade durch seine Akzeptanz in allen möglichen politischen Lagern und Strömungen so gefährlich ist.
Mit Blick auf die israelbezogene Variante, also die Dämonisierung und Delegitimierung des jüdischen Staates, ist eine Verbreitung durch einen renommierten Philosophen und dessen Anhänger zudem sogar noch wirkmächtiger als durch Menschen und Gruppierungen mit signifikant geringerem Einfluss, so verabscheuungswürdig sie auch sein mögen.
Gleichwohl stellen sich Neiman und Zekri auch inhaltlich auf Mbembes Seite, indem sie die AfD ins Spiel bringen: Die eine weist auf ein demnächst erscheinendes Buch hin, in dem „die jetzige Regierung Netanjahu mit einer möglichen deutschen AfD-Regierung“ verglichen werde, was „gar nicht falsch“ sei.
Die andere attestiert dem israelischen Premierminister „autokratische Züge“ und glaubt, dass die AfD ihn „für seinen rücksichtslosen Umgang mit den palästinensischen Muslimen und sein Bemühen um ein religiös und ethnisch homogenes Staatswesen“ bewundere.
Schnell mal den israelischen Regierungschef auf eine Stufe mit einer deutschen Rechtsaußenpartei gestellt, auch so funktioniert Dämonisierung. Dabei muss man natürlich unterschlagen, dass sich beide schon in puncto Antisemitismus fundamental voneinander unterscheiden – und dass dieser Unterschied eben keineswegs nebensächlich ist, sondern bereits einer ums Ganze.
Die Botschaft solcher Äußerungen ist letztlich die gleiche, die von Mbembe und seinen Verteidigern schon die ganze Zeit vermittelt wird: Wer Mbembe kritisiert und Israel verteidigt, kann nur ein Rechter, ein Rassist, ein Menschenfeind sein.
Dass das überhaupt diskutabel ist und ernst genommen wird, macht schon einen großen Teil des Elends aus.