Einleitung in die als Working Paper #006 des Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) erschienene Bibliographie zur Kritik postkolonialer und postmodern-antirassistischer Thematisierungen von Antisemitismus, Holocaust, Judentum und Zionismus
Ingo Elbe
Die Debatte über das Verhältnis der postkolonialen Studien zum Antisemitismus reißt seit einigen Jahren in der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr ab. Was mit der Kontroverse über die Äußerungen und politischen Aktivitäten des kamerunischen postkolonialen Denkers Achille Mbembe Anfang 2020 begann, hat sich zu einer medialen, politischen und akademischen Dauerkontroverse entwickelt. Gestritten wird über eine ›aktivistische Sozialwissenschaft‹ im Kontext der israelfeindlichen Boykottkampagne BDS, antizionistische Traditionen der postkolonialen Studien, widerstreitende Definitionen von Antisemitismus, das Verhältnis von Shoah und Kolonialverbrechen sowie die Kultur der Erinnerung an den Holocaust.
Viele Motive dieser gegenwärtigen bundesrepublikanischen Debatte finden sich bereits in mal mehr, mal weniger lange zurückliegenden Kontroversen und Beiträgen zu den Themen Antisemitismus, Shoah und Zionismus. So knüpfen gegenwärtige postkoloniale Theoretikerinnen und Theoretiker durchgehend an die frühen Analysen und Statements von Hannah Arendt, W.E.B. Du Bois oder Aimé Césaire zum Holocaust aus den frühen 1950er Jahren an, entwickeln Überlegungen weiter, die der Doyen der Postcolonial Studies Edward Said in seinem Werk Orientalismus aus dem Jahr 1978 vorgebracht hat oder setzen den Streit über die Singularität des Holocaust fort, der Mitte der 1990er Jahre die US-amerikanische Genozidforschung erschüttert hat.
In der eher deutschlandzentrierten Perspektive des aktuellen Mediendiskurses wird auch auf den sogenannten »Historikerstreit« der Jahre 1986/87 über die Frage der Vergleichbarkeit von Stalinismus und Holocaust, über vermeintliche kausale Relationen zwischen ihnen und die Folgen für die deutsche Erinnerungspolitik verwiesen.
Bei aller Vielstimmigkeit und inneren Uneinheitlichkeit der Postcolonial Studies in Bezug auf die genannten Themen, lassen sich doch eindeutig hegemoniale Argumentationsmuster innerhalb dieses Diskurses ausmachen. Ich würde hier von einem systematischen Zusammenhang von fünf Momenten sprechen:
Erstens
haben wir es mit einer begrifflichen Entspezifizierung des Antisemitismus und seiner Auflösung in den Rassismus oder den Orientalismus (der als Rassismus gegen Araber und Muslime gefasst wird) zu tun. Der zentrale Gedanke des Orientalismus-Ansatzes besteht darin, »dass die europäische Kultur erstarkte und zu sich fand, indem sie sich vom Orient als einer Art […] Schattenidentität abgrenzte« (Said 2017: 12). Diese Identität bestehe vornehmlich aus Projektionen negativer (oder begehrter) Selbstanteile des Westens, der dem Orient kulturelle Rückständigkeit, Statik und Primitivität attestiere und mittels dieser Zuschreibungen einen Herrschaftsanspruch begründe. Juden und Muslime/Araber seien dabei gleichermaßen zum ›semitischen barbarischen Anderen‹ stilisiert worden, der Antisemitismus mithin immer schon ein ›Anti-Semitismus‹ gewesen: »Anti-semitism has had two components from its beginning: ›anti-Jewish anti-semitism‹ and ›anti-Arab-Muslim anti-semitism‹«, meint der Professor für Ethnic Studies in Berkeley, Ramon Grosfoguel (Grosfoguel 2009: 94).
An diese Idee knüpfen zugleich verwandte Strömungen wie die Critical Whiteness Studies an, indem sie Antisemitismus in Kategorien eines antischwarzen Rassismus zu fassen versuchen und häufig die These vom Weißwerden der vormals angeblich ›weniger als weißen‹ (»less than white« (Bakan 2014: 253)) Juden nach 1945 vertreten, was deren ›systemische‹ Diskriminierung beendet habe. Für die gesellschaftstheoretische und sozialpsychologische Dechiffrierung der spezifischen Feindbildkonstruktion des Juden als hypermodernem, unsichtbarem, hinter den Abstraktionen Kapital und Recht stehenden Weltverschwörer, der jede völkische, ›rassische‹ oder sonstwie als homogen imaginierte Identität ›zersetzt‹, ist in diesem Denken kaum Platz.
Zweitens
kann, wer den Antisemitismus und seine spezifische Feinderklärung begrifflich verfehlt, die Besonderheit des Holocaust als total, global und erlösungsantisemitisch intendierte Vernichtungspraxis nicht erfassen. Dessen Präzedenzlosigkeit wird denn auch in verschiedenster Form in Frage gestellt. Dabei knüpfen postkoloniale Theorien vor allem an Hannah Arendts Auflösung des Holocaust in ein Unternehmen der Reduktion des Menschen auf Reiz-Reaktions-Ketten, an Michel Foucaults Theorie des biopolitischen staatlichen Rassismus und Giorgio Agambens Topos des auf das ›nackte Leben‹ und den ›lebenden Toten‹ reduzierten Lagerinsassen an. Ein weiteres Motiv, das Arendt und Aimé Césaire fast zeitgleich in den 1950er Jahren entwickelten, ist das des Bumerangs: Der europäische Kolonialismus sei in Gestalt der Shoah auf Europa zurückgeschlagen und stünde damit in einem qualitativen Kontinuum zur Kolonialgewalt und ihren Ideologien.
Mit der Relativierung des Holocaust geht ein massiver Angriff auf die Holocausterinnerung einher, der dieser nicht nur in verschwörungstheoretischer Manier attestiert, von deutschen, »amerikanischen, britischen und israelischen Eliten« und »Hohepriester[n]« (Moses 2021) gesteuert und verordnet worden zu sein sowie Tabus und Denkverbote zu etablieren, sondern auch das antisemitische Gerücht antizionistisch aufbereitet, die Juden benutzten – nun in Gestalt Israels – die Erinnerung an den Holocaust generell, um materiellen und moralischen Profit daraus zu ziehen und rassistische Verbrechen zu kaschieren. Es sollen dabei nicht lediglich spezifische irreführende Bezugnahmen auf den Holocaust in Israel kritisiert werden. Vielmehr wird der Zusammenhang zwischen Antisemitismus als spezifischer Feindschaft gegen Juden, der Erfahrung des Holocaust und Israel als Schutzinstanz der Juden grundlegend in Frage gestellt.
Drittens
führt das in den postkolonialen Holocaust-Studien etablierte Kolonialismus-Paradigma zu einer fehlenden Sensibilität für die Spezifik des Zionismus und zu seiner Subsumtion unter einen weißen Siedler-Kolonialismus. Der Zionismus erscheint als konsequente Fortführung des »Hitlerism« (Grosfoguel 2009: 95), als Inkarnation eines angeblich automatisch in Vertreibung, Enteignung und Genozid mündenden ethnisch begründeten Nationalismus, dessen ›Opfer der Opfer‹ nun die Palästinenser seien. Aus einem von arabischer Seite von Beginn an immer auch antisemitisch aufgeladenen Konflikt zweier Nationalismen wird nun ein manichäisch verstandener Eroberungs-, Vertreibungs- und gar Vernichtungsfeldzug weißer Europäer.
Hier sind meist alle Kriterien des israelbezogenen Antisemitismus erfüllt, wenn palästinensisch-arabische Gewalt und Judenfeindschaft de-realisiert, Israel als rassistische Entität mit Analogien zum Nationalsozialismus dämonisiert und delegitimiert wird und doppelte Standards in der Analyse des arabisch-israelischen Konflikts angelegt werden. Diese Haltung zu Israel wird von postkolonialen Akademikern mit einem antiisraelischen Aktivismus verbunden, der sich seit einigen Jahren um die Boykottkampagne BDS [siehe CARS Working Paper #005] formiert und in Gestalt etlicher offener Briefe oder des institutionellen Boykotts israelischer (und nichtisraelisch-jüdischer) Wissenschaftler und Künstler, die sich nicht vom Zionismus distanzieren, Sichtbarkeit erlangt.
Es ist zu betonen, dass führende Vertreter des deutschen und internationalen Kulturbetriebs, von Teilen der postkolonial grundierten Literaturwissenschaft, Gender Studies oder Middle Eastern Studies und viele andere diesen Politaktivismus propagieren und mittragen. In diesem Bewegungskontext dominiert eine aktivistische Sozialwissenschaft, die ihre Theorien nach vorgefassten Meinungen, dem Bedürfnis politischer Bündnisfähigkeit und anderen ideologischen Imperativen, nicht nach empirischer Fundiertheit und Triftigkeit modelliert. Dabei wird ein postkoloniales Paralleluniversum mit Israel als dem Teufel der säkularen Staatenwelt entworfen.
Beispielhaft für den aktivistischen Imperativ sind folgende Aussagen Michael Rothbergs, die den Vergleich von Erinnerungen an koloniale Gewalterfahrungen und an den Holocaust betreffen: »Die hier erkundete Vergleichslogik steht und fällt nicht mit Verbindungen, deren historisch zutreffender Charakter sich empirisch überprüfen lässt […] Vielmehr bedarf es einer gewissen Ausklammerung empirischer Geschichtsschreibung und einer Offenheit für die Möglichkeit merkwürdiger politischer Bettgesellen […]. Vergleiche sollten, wie die Erinnerung, als produktiv aufgefasst werden – als neue Gegenstände und neue Perspektiven generierend –, und nicht als Reproduktion vorab gegebener Entitäten, die anderen vorab gegebenen Entitäten entweder ›gleichen‹ oder nicht« (Rothberg 2021: 45). Auch Aleida Assmann (2020) meint offenbar, wissenschaftliche Begriffsbildung müsse politischen Bedürfnissen untergeordnet werden, wenn sie sagt, man benötige »einen Antisemitismusbegriff, der uns nicht trennt, sondern zusammenführt und stärkt im entschlossenen Kampf gegen Judenhass, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie.«
Viertens
erhält die Verurteilung des Zionismus dabei genuin postmoderne Weihen: Ein ›anti-identitäres‹ Judentum wird zum Paradigma der »diasporic condition of all beings« (Vattimo/Marder, zit. n. Chaouat 2020: 54), der postmodern bejahten »existentielle[n] Unbehaustheit« und »Kontamination des Eigenen durch das Andere« (Liska 2022: 201, 204) stilisiert und gegen ein angeblich gewaltsame Ausschlüsse produzierendes ›identitäres‹ zionistisches Judentum gestellt. Damit wird ein an den christlichen Judenhass erinnerndes »Jew-splitting» (Chaouat 2020, xix) betrieben: Der ›wahre‹ Jude ist, neben dem toten Juden des (zum Ausdruck allgemeiner Menschenfeindlichkeit entspezifizierten) Holocaust, hier derjenige, der für Diaspora, Zerstreuung und letztlich Überschreitung der eigenen Identität durch gewaltlose Auslieferung an ›den Anderen‹ steht. In dieser Romantisierung der Diaspora wird »das Exil […] zur Idee des Jüdischen selbst […]. In diesem Sinne heißt Jude ›sein‹, sich von sich selbst zu trennen«, meint Judith Butler zustimmend (Butler 2013: 25).
Der ›toxische‹ Jude hingegen gilt als verstockter zionistischer Nationalist und Siedlerkolonialist, dessen Ideen souveräner Identität und Selbstverteidigung dem ewigen Frieden der postnationalen und multikulturellen Gesellschaft im Wege stehen, die nun als homogener Block der Diversen phantasiert wird. Juden dürfen hier nur noch existieren, wenn sie ›konvertieren‹, wobei diese Konversion zugleich als ›wahres Judentum‹ verstanden wird, das aber eben in der Negation jüdischer Identität und Partikularität hin auf das Allgemeinmenschliche bestehe, so wie einst das ›wahre Judentum‹ als Christentum gegolten hat.
De facto besteht die Verbindung des Judentums mit der alle Normen und Ordnungen subvertierenden Nicht-Identität in einem zweifachen Schritt der Produktion des »Jew of negation« (Chaouat 2020: xxiv): Zunächst soll der zionistische Jude in den Diasporajuden aufgelöst werden, dann soll letztlich auch diese jüdische Identität sich in ihrer Negation im Allgemeinen (oder eher Unbestimmten) ›verwirklichen‹. Daher kritisieren auch dezidierte Antizionisten und Vertreter eines orthodoxen Diasporajudentums wie Daniel und Jonathan Boyarin diese postmoderne Allegorisierung des Judentums.
Fünftens
resultiert aus der begrifflichen Eskamotierung des Antisemitismus, dem Said‘schen Orientalismus-Konzept sowie der kolonialismustheoretischen Relativierung des Holocaust und Dämonisierung Israels eine Dethematisierung des Antisemitismus der ›Anderen‹ oder ›Subalternen‹, d.h. vor allem von muslimischen Minderheiten in westlichen Gesellschaften oder von muslimischen Dominanzgesellschaften im Nahen Osten.
Aussagen über die kollektiven Identitäten der sogenannten Anderen werden seit Saids Idee des orientalistischen Otherings auf Machtstrategien des Westens reduziert. Sie seien nichts als projektive, homogenisierende, identitätsstabilisierende, Privilegien sichernde Fiktionen, die alle Probleme der eigenen Gesellschaft auf den dichotomen Anderen ablenkten und schließlich handlungsanleitend würden. Dieses Andere erscheint damit lediglich als das phantasmagorisch verschobene Eigene der ›Mehrheitskultur‹. Da lediglich das Sprechen der ›weißen Mehrheitskultur‹ betrachtet wird, findet entweder eine vollständige De-Thematisierung des Islams oder anderer Kulturen, politischer Bewegungen und Gruppen statt oder diese werden nur als auf westliche Unterdrückung Reagierende in den Blick genommen.
Auf solchen weltanschaulichen Prinzipien ruht schließlich ein »multidirektionaler« »rassismuskritischer Aktivismus« (Rothberg/Zimmerer 2021: 59), der in provinzieller, eurozentrischer Weise das globale Ausmaß und die Flexibilität des antisemitischen Hasses ausblendet, islamische und linke Judenfeindschaft verharmlost oder gar im Bündnis mit ihr agiert, um den angeblich einzigen Gegner, die weiße Dominanzgesellschaft oder White Supremacy, zu bekämpfen. Die jüdische Erfahrung mit von ›den Anderen‹ ausgeübtem Antisemitismus wird hier ebenso zum Verstummen gebracht oder als Verrat an der gemeinsamen progressiven Praxis bekämpft, wie im postmodernen Antisemitismus der zionistische ›jüdische Jude‹ als Verräter an der Menschheit gedeutet wurde.
Fazit:
Es reicht also nicht aus, den postkolonialen/postmodernen Ansätzen in Bezug auf die Themen Judentum und Antisemitismus einfach ein ›Count us in‹ zuzurufen. Die Empfänglichkeit für solcherart inner-intersektionale Kritik wird durch das politisch motivierte Festhalten an den elementaren Konstruktionsfehlern der Said‘schen Tradition postkolonialen Denkens erschwert bis verunmöglicht. Wenn diese Tradition bereits als angewandter Postmodernismus auf dem Gebiet der Kulturwissenschaft begriffen werden kann, so war sie doch von Anfang an zugleich eine politaktivistisch-antizionistische Engführung postkolonialer Ideen, wie wir sie heute als vorherrschende Strömung bei den in Frage stehenden Themen finden.
Dass die randständigen Versuche, Motive postkolonialer Analyse von dieser Engführung zu befreien und in der Analyse des Antisemitismus oder Zionismus eine differenziertere Haltung zu etablieren, im aggressiv antizionistischen Klima von großen Teilen des amerikanischen, britischen, französischen und inzwischen zum Teil auch deutschen medial-kulturell-akademischen Komplexes Erfolg haben können, darf daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt bezweifelt werden.