Sehr geehrter Herr Joe Biden,
gestatten Sie mir eine Frage: Haben Sie, bevor Sie diesen Tweet in die Welt losließen, ganz kurz Google bemüht und dort „travel bans“, „USA“, „last fifty years“ eingegeben? Offenbar nicht, denn dann wüssten Sie, obwohl eigentlich müssten Sie das als ehemaliger Vizepräsident ohnehin wissen, dass in diesem Zeitraum unzähligen Menschen die Einreise in die USA aufgrund ihrer politischen Ansichten oder Zugehörigkeiten zu politischen Organisationen untersagt wurde. Wer etwa in den 70er oder 80er Jahren Mitglied einer kommunistischen Partei oder Gruppierung war, musste fest damit rechnen, kein Visum zu erhalten. Waren das nicht auch Leute, deren Ideen von der US-Regierung „scharf abgelehnt“ wurden?
Also sind es doch etwas arg vollmundige Aussagen, die Sie da machen, wenn Sie zugleich kein einziges Wort der Selbstkritik an ihre Äußerung anfügen, oder?
Denn es ist keineswegs neu oder ungewöhnlich, dass souveräne Staaten, ob Demokratien oder nicht, Besuchern die Einreise verweigern. Die israelische Praxis stellt keineswegs eine Ausnahme dar, und würde man seine Zeit nicht damit vergeuden, Empörung über Israel zu heucheln und andere Maßstäbe an dessen Handeln anzulegen, könnte man sich, wie es in vielen Beiträgen amerikanischer und israelischer Zeitungen ja gerade geschieht, besser der Frage widmen, ob diese Entscheidung strategisch klug oder besonnen war. Der Umstand aber, dass jemandem aus politischen Gründen die Einreise verweigert wurde, taugt an sich nicht zu einem Skandal.
Sie äußern sich wohl vor allem deshalb so, weil es diesmal zwei Mitglieder Ihrer Partei getroffen hat, die zugleich Kongressabgeordnete sind. Der Skandal ist allerdings weniger, was Israel getan hat – wie gesagt, ob Netanjahus Entscheidung klug war, sei dahingestellt –, sondern liegt vornehmlich auf amerikanischer Seite.
Und da wäre zuerst die Partei zu nennen, der Sie angehören: Sie waren immer ein großer Unterstützer Israels und des Konsenses, dass die amerikanische Solidarität mit dem jüdischen Staat eine parteiübergreifende Sache sein müsse? Das ist erfreulich, nur: Warum wurden dann in Ihrer Partei Abgeordnete geduldet, die diesem Konsens so offensichtlich widersprechen, dass sie sich sogar weigern, sich klar für das Existenzrecht Israels auszusprechen, und alles tun, um der bloßen Frage danach auszuweichen?
Hätten die beiden Abgeordneten nicht vielmehr hinlänglich unter Beweis gestellt, dass es ihnen, wie der BDS-Bewegung, die sie unterstützen, um die Beseitigung Israels als jüdischen Staat geht, es wäre nie zu diesem Skandal gekommen – und wie Dutzende andere Demokraten auch hätten sie Israel ohne Komplikationen besuchen können. Ein paar Worte der Kritik an Äußerungen und Auftreten der beiden Damen hätten einem „stalwart supporter of Israel“ wie Ihnen durchaus nicht schlecht gestanden, oder? Ist die Infragestellung des Existenzrechts Israels nicht etwas mehr als nur Ausdruck irgendwelcher „ideas“, die man mögen kann oder auch nicht?
Dann nämlich wäre der letzte ihrer Punkte, der eigentliche Skandal, auch umso deutlicher geworden: In der Tat gab es in der Geschichte westlicher Demokratien noch nie den Fall, dass eine Regierung bzw. ein Regierungschef eine andere Nation aufgefordert oder besser ermutigt hat, Parlamentarier aus dem eigenen Land, die ebenso gewählt sind wie der Präsident selbst, nicht einreisen zu lassen. Der Tweet Donald Trumps nämlich war präzedenzlos und skandalös, stellte er doch ein bislang weitgehend von allen geteiltes demokratisches Selbstverständnis über Achtung und Rolle gewählter Volksvertreterinnen und Volksvertreter, ob politischer Freund oder Gegner, in Frage, das gewissermaßen zum notwendigen Betriebssystem parlamentarischer Demokratien gehört.
Nur: Egal wie die israelische Regierung auch reagiert hat, der Skandal ist vor allem ein amerikanischer – und sollte auch als solcher adressiert werden.
Trotzdem zeigten unzählige Organisationen und Einzelpersonen der politischen Gegenseite in den letzten Tagen Größe, indem sie dezidiert und öffentlich diesen Einreisebann, der immerhin von einem israelischen Gesetz legitimiert ist, und sein Zustandekommen kritisierten. Dies gilt für AIPAC oder ehemalige israelische Botschafter ebenso wie für einige wenige Abgeordnete der Republikaner.
Eine ähnliche Größe vermag ich diesem Tweet von Ihnen leider nicht zu entnehmen.
Mit freundlichen Grüßen,
Thomas von der Osten-Sacken