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Catch 22: Die Gaza-Zwickmühle

Parade des Islamischen Staats in Gaza anlässlich des Endes israelischen Militäroperation »Schild und Pfeil«
Parade des Islamischen Staats in Gaza anlässlich des Endes israelischen Militäroperation »Schild und Pfeil« (© Imago Images / ZUMA Wire)

Wir haben die Zwickmühle lange genug akzeptiert. Neue Ideen zur Lösung des Gaza-Dilemmas sind dringend gefragt.

Benjamin Kerstein

Unabhängig davon, ob sich der jüngste Waffenstillstand zwischen Israel und dem Islamischen Dschihad als dauerhaft erweist oder nicht ist klar, dass Israel in einer Zwickmühle gefangen ist, für die niemand eine Lösung zu haben scheint. 

Die aktuelle Situation ist die zigte Neuauflage eines Dilemmas, in dem Israel sich seit Langem befindet. Jahrzehntelang besetzte es den Gazastreifen und versuchte, den Terrorismus vor Ort zu bekämpfen. Dies schadete jedoch dem israelischen Ansehen auf internationaler Ebene, und das Land war es schließlich leid, dass die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) immer neue Opfer bringen mussten.

Im Jahr 2005 versuchte Israel dann, das Problem zu lösen, indem es sich einseitig aus dem Gazastreifen zurückzog, in der Hoffnung, ein vollständiger Abgang und anschließende demokratische Wahlen in der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) würden zu einer friedlicheren Lage vor Ort führen. 

Dies erwies sich jedoch als Fehlentscheidung. Die Hamas ging aus den Wahlen von 2006 als Sieger hervor und übernahm kurz darauf in bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen die absolute Macht im Gazastreifen. Seitdem geht es in Gaza alles andere als friedlich zu. Tatsächlich ist er heute kaum mehr als eine dschihadistische Raketenbasis, von der aus regelmäßig Raketen auf israelische Zivilisten abgefeuert werden. Schlimmer noch: er wird zunehmend vom antisemitischen und genozidalen iranischen Regime beherrscht.

Ewiges Dilemma

Der Gazastreifen stellt für Israel ein großes strategisches Dilemma dar, und es herrscht mehr oder weniger Einigkeit darüber, dass die derzeitige Situation nicht weiter andauern kann – doch stellt jede mögliche Lösung des Problems bloß eine weitere Zwickmühle dar. 

Israel könnte den Gazastreifen zurückerobern und seine Militärherrschaft wiederherstellen. Das wäre jedoch verbunden mit einem erneuten Aufwand an finanziellen Mitteln und Arbeitskräften, um die Verwaltung, von der Wasserversorgung bis zur Müllentsorgung, zu organisieren, während Jerusalem gleichzeitig militärische Strukturen aufrechterhalten und das Leben von Soldaten gefährden müsste, um die Sicherheit zu gewährleisten.

Seit Jahren ist klar, dass weder die israelische Regierung, und sei sie noch so rechtslastig, noch der Sicherheitsapparat auch nur die geringste Absicht für die Umsetzung dieser Option haben. Das Dilemma wurde akzeptiert und von Politikern und Generälen der Beschluss gefasst, damit zu leben – koste dies auch die israelische Normalität.

Eine andere Möglichkeit besteht im Versuch Israels, eine Art Waffenstillstand mit der Hamas auszuhandeln und die Feindseligkeiten für einen unbestimmten Zeitraum einzustellen. Abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit der Zustimmung seitens der genozidalen Hamas zu einem solchen Abkommen würde dies Israel lediglich einige Jahre Ruhe verschaffen, während die Hamas das täte, was die Hisbollah im Libanon getan hat: ihre militärischen Fähigkeiten ausbauen, bis sie einen weiteren, noch verheerenderen Krieg beginnt.

Angesichts des iranischen Einflusses und seines Bestrebens, die Vorreiterrolle für die »palästinensische Sache« zu übernehmen, würden radikalere Gruppen im Gazastreifen wie der Islamische Dschihad mit ziemlicher Sicherheit auf solch einen ausgehandelten Waffenstillstand reagieren und die Hamas des Verrats und der Kollaboration beschuldigen. Sie würden auch weiterhin Israel angreifen, wobei die Hamas nicht bereit wäre, sie aus politischen Gründen zu stoppen. Diese Szenario liefe also darauf hinaus, dass Israel de facto die Legitimität und Souveränität der Terrororganisation Hamas anerkannt hätte – ohne im Gegenzug die Ruhe gewonnen zu haben, für es die Verhandlungen führte.

In den finsteren Gefilden der israelischen extremen Rechten herrscht die meist unausgesprochene Überzeugung, Israel müsse den Gazastreifen letztendlich nicht nur wieder besetzen, sondern ihn tatsächlich auflösen und vermutlich die Bevölkerung vertreiben.

Abgesehen von den moralischen Auswirkungen eines solchen Plans, die ungeheuerlich wären, wären auch die strategischen, politischen, militärischen und wirtschaftlichen Folgen katastrophal. Die USA würden ihre diplomatische und wahrscheinlich auch ihre militärische Unterstützung zurückziehen; Israel würde mit Sanktionen nach russischem Vorbild belegt werden, was seine Wirtschaft nachhaltig zerstören würde; die Abraham-Abkommen würden hinfällig werden und Ägypten und würden Jordanien ihre Friedensverträge aufkündigen. 

Eine militärische Reaktion einer Koalition arabischer und muslimischer Länder wäre durchaus möglich, wobei Israels einzige Hoffnung auf sein Überleben darin bestünde, sein nicht offizielle deklariertes Atomwaffenarsenal einzusetzen. Diese Option ist, mit anderen Worten, keine Option.

Schließlich gibt es noch die Politik, die jeder hasst: Weiterhin den Gazastreifen akzeptieren, wie er ist, und versuchen, die von den Terrorgruppen ausgehenden Feindseligkeiten auf ein Minimum zu beschränken, während man zugleich Verteidigungssysteme aufbaut und regelmäßige Militäroperationen durchführt, um dem Terrorismus das Handwerk zu legen.

Das ist zumindest der Teufel, den wir kennen, aber er belastet die Bevölkerung im Süden Israles auf schreckliche Weise und verschafft dem iranischen Regime einen klaren Vorteil, indem er es ihm ermöglicht, seine Stellvertreter an den Grenzen Israels weiterhin zu unterstützen und die Gefahr eines Mehrfrontenkriegs aufzubauen.

Unsichere Abschreckung

Es ist möglich, dass Israel in der Lage sein wird, die Hamas und andere Terrorgruppen im Gazastreifen durch wirksame Abschreckung in Schach zu halten. Doch Abschreckung ist eine heikle und unsichere Angelegenheit, vor allem, wenn man es mit religiösen und ideologischen Wahnsinnigen zu tun hat, denen es egal ist, ob sie zur Erreichung ihrer Ziele große Teile ihres eigenen Volkes opfern, während sie gleichzeitig von den Medien und einflussreichen politischen Kräften der westlichen Linken – auch in den Vereinigten Staaten – unterstützt werden.

Diese Reihe an Dilemmata ist deprimierend, aber das derzeitige israelische politische und sicherheitspolitische Establishment hat seine Wahl getroffen und verfolgt die Politik der Abschreckung im Glauben, dies sei die am wenigsten schlechte aller schlechten Optionen.

Möglicherweise wird es neue Ideen geben, wenn dieses Establishment sich entscheidet, über den Tellerrand hinaus zu blicken. Eine internationale Friedenstruppe nach dem Vorbild jener im ehemaligen Jugoslawien könnte – im Gegensatz zu der unwirksamen im Libanon – in der Lage sein, den Streifen zu entmilitarisieren und gleichzeitig der Hamas zu erlauben, nominell an der Macht zu bleiben. Ein palästinensischer Führer könnte gefunden werden, der bereit ist, über einen echten Frieden zu verhandeln, auch wenn dies im Moment unmöglich erscheint. Eine konzertierte Kampagne zur Unterminierung und schließlich zum Sturz des iranischen Regimes könnte sich als erfolgreich erweisen und seine Stellvertreter entmachten. Die Bitte um Hilfe an Russland oder China könnte die Gleichung ändern.

All dies scheint einerseits völlig unwahrscheinlich. Nichtsdestotrotz funktionieren die Dinge im Moment nicht, sodass neue Ideen gefragt sie. Wenn jemand welche hat, wäre es jetzt an der Zeit, sich zu melden. Wir haben uns lange genug mit der Zwickmühle abgefunden.

Benjamin Kerstein ist Schriftsteller und Redakteur und lebt in Tel Aviv. Lesen Sie mehr von ihm auf Substack, seiner Website oder bei Twitter. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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