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Zwei Jahre 7. Oktober 2023: Die Blutspur auf Israels Landstraße 232

Einer der Bunker entlang der Straße 232 im Süden Israels
Einer der Bunker entlang der Straße 232 im Süden Israels (© Antje Naujoks)

Die Straße 232 veranschaulicht die Blutspur des Hamas-Pogroms: Schutzräume an Bushaltestellen wurden zu Todesfallen, künden aber genauso vom Überleben.

Obwohl die Landstraße 232 durch Israels Peripherie führt, ist sie seit den 1990er Jahren allseits bekannt. Das ist unter anderem auf das hohe Verkehrsaufkommen zurückzuführen, das die Lastwagen mit Lieferungen für den Gazastreifen verursachen. Sowohl die Lkw-Kolonnen als auch die Tatsache, dass die schweren Fahrzeuge auf einer unzureichend gesicherten Landstraße verkehren, tragen zu Verkehrsunfällen bei, die ausgerechnet Einwohner der Region häufig mit dem Leben bezahlen.

Diese Landstraße, die südlich der Hafenstadt Ashdod beginnt und parallel zur Küste verläuft, erreicht als erste Stadt Sderot, durch die sie hindurchführt. Von dort verläuft sie über eine Strecke von mehr als fünfzig Kilometern weiter entlang der Gaza-Grenze, zum Teil in größerer Distanz zum palästinensischen Gebiet, zum Teil in unmittelbarer Nähe. Sie endet knapp vor dem Kerem-Shalom-Grenzübergang an der ägyptischen Sinai-Grenze.

Sicherheit bei Raketenangriffen

In dieser Region entlang der Gaza-Grenze hat man bei einem Raketenangriff fünfzehn Sekunden Zeit, Schutz zu suchen. Gar keinen Schutz auf offener Straße zu haben, ist extrem gefährlich und psychisch sehr belastend. Seit 2001 die ersten Raketen auf Sderot lanciert wurden, gehören deswegen allgegenwärtige Schutzräume zur öffentlichen Sphäre des israelischen Südens; sie gewähren Unterschlupf an Bushaltestellen und Kreuzungen, an Rast- und Tankstellen.

Die Schutzräume, die wegen kunstvoller Bemalungen längst nicht mehr unansehnliche Betonklötze sind, variieren in ihrer Größe. Sie werden per Lastwagen mit einem speziellen Kran platziert, woher auch die Bezeichnung »Mobile Shelters« stammt. Manche haben Türen, andere Eingänge sind durch Mauervorsprünge gesichert. Obwohl Israel über die Jahrzehnte mit Zehntausenden von Raketen aus dem Gazastreifen angegriffen wurde, sind relativ wenig Personenschäden zu beklagen. Das liegt nicht nur an Israels im Jahr 2011 durch das Iron-Dome-System aufgewerteter Raketenabwehr, sondern vor allem an den Schutzräumen.

Diese Statistik erfuhr durch den Hamas-Terrorüberfall am 7. Oktober 2023 eine traurige Umkehr, denn gerade Schutzräume an Bushaltestellen wurden zum Schauplatz blutiger Massaker, was sogar einen neuen hebräischen Ausdruck prägte: Meguniot Mawet – Bunker des Todes.

Sderots verriegelter Schutzraum

Insbesondere ein Ereignis in Sderot hat sich tief in das nationale Gedächtnis eingegraben. Im Norden dieser Kleinstadt im Süden Israels war am frühen Schabbat-Morgen des 7. Oktober ein arabischer Busfahrer unterwegs. Sharif Abu Taha hatte bereits fünfzehn Pensionäre zu einem Tagesausfug ans Tote Meer eingesammelt, als er um 6:15 Uhr mit einem platten Reifen liegenblieb. Wenig später setzte der Raketenbeschuss ein. Busfahrer und Gäste standen an einer Bushaltestelle mit Schutzraum. Obwohl das »Smart Lock« den Zugang im Notfall hätte freigeben müssen, blieb die Tür verriegelt.

Vergeblich rund um den Schutzraum Deckung suchend, wurden dreizehn Fahrgäste von Hamas-Terroristen erschossen. Abu Taha gab dazu an: »Sie richteten meine Fahrgäste regelrecht hin. Ich stellte mich tot.« Vier Stunden später kursierten die ersten Clips von dem Blutbad im Internet. Viele der Angehörige erfuhren auf diese Weise, was geschehen war. Später klagten sie zwar gegen die Stadt Sderot und die Betreiberfirma wegen des verschlossenen Schutzraums, doch letztlich interessiert nicht das Schmerzensgeld, sondern die Frage, ob beim nächsten Notfall alles einwandfrei funktioniert wird – wenngleich Israelis inzwischen nur zu gut wissen: Auch im Schutzraum ist man nicht unbedingt sicher.

Mehrere Schutzraum-Massaker

Ausschnitt zur Straße 232
Ausschnitt zur Straße 232 (Quelle: Mapping The Massacres.)
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Die Karte »Mapping the Massacres« verzeichnet entlang der Landstraße 232 mehrere Schutzräume, die zu Todesfallen und Orten des Massakers an Dutzenden von Menschen wurden, so an den Bushaltestellen der Zufahrtstraßen zu den Kibbuzim Alumin, Be‘eri, und Re‘im.

Hier haben die Mini-Bunker keine Türen. Ein Szenario wie in Sderot ist hier also ausgeschlossen, doch der Bericht der Überlebenden Yuval Raphael, die im letzten Jahr Israel beim Song Contest vertrat, veranschaulicht, welche Dramen sich in diesen Schutzräumen abspielten. Zunächst waren viele froh, in Sicherheit vor den Raketenangriffen zu sein. Dann wurde ihnen bewusst, dass draußen geschossen wurde. Viele hofften, dass es Feuer israelischer Soldaten sein möge, doch die arabischen Gesprächsfetzen, die man in den Schutzräumen hören konnte, zerstörten diese Hoffnung.

Tonbandaufnahmen zeugen von den verzweifelten Stunden der auf viel zu engem Raum zusammengedrängten Menschen, die irgendwann ihren Familien per Mobiltelefon letzte Botschaften zukommen ließen. Andere ritzten solche Mitteilungen in die Wände der Schutzräume. Die meisten der Menschen, die entlang der Straße 232 in diesen öffentlichen Schutzvorrichten Zuflucht gesucht hatten, kamen durch Schüsse oder Granaten der Hamas-Terroristen ums Leben.

Zugleich sind viele Geschichten der selbstlosen Rettung anderer Menschen in die Annalen des Staates Israel eingegangen. Dazu gehört die Geschichte des zweiundzwanzigjährigen Aner Shapira. Der junge Soldat der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) war am 7. Oktober nicht im Dienst und daher unbewaffnet. Er floh vom Nova-Festival in der Nähe des Kibbuz Re‘im und war einer der letzten, der sich im Schutzraum westlich des Kibbuz in Sicherheit bringen konnte.

Shapira, der recht ungeschützt am Eingang stand, bewies Intuition, Mut und Selbstlosigkeit, denn die Handgranaten, welche die Hamas-Terroristen in den Schutzraum warfen, beförderte er umgehend wieder nach draußen – nicht eine, nicht zwei oder drei, sondern sieben. Die achte Handgranate nahm ihm das Leben. Im Schutzraum suchten dreißig Personen Schutz, von denen neunzehn ermordet wurden, darunter der arabische Israeli Osamah Ibrahim Abu Asa, der die muslimischen Brüder aus dem Gazastreifen vergeblich anflehte, die Menschen im Schutzraum zu verschonen.

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Passive Widerstandskraft

Eine Lehre, die das jüdische Volk aus der Shoah gezogen hat, ist, dass man nicht aktiv einem Feind entgegentreten muss, um Mut und Resilienz zu zeigen. Zu den Menschen vom 7. Oktober 2023, für die dies gilt, gehören vier Personen, die das beschriebene Massaker im Bunker von Re’im zwar überlebten, aber in den Gazastreifen verschleppt wurden: Or Levy, der nach 491 Tagen Geiselhaft nach Israel zurückkehrte sowie Eilyah Cohen, der 504 Tage Haft in den Hamas-Tunneln überstand.

Hersh Goldberg-Polin, einer der guten Freunde von Aner Shapira, verlor in diesem Schutzraum bei einer der Explosionen einen Teil seines linken Arms. Trotz seiner Verwundung wurde auch er entführt. Er gehört zu jenen sechs Leichen israelischer Geiseln, die IDF-Soldaten im Herbst 2024 nur wenige Tage nach ihrer Hinrichtung durch die Hamas entdeckten. Um das Schicksal des bei der Entführung zweiundzwanzigjährigen Alon Ohel herrscht zwei Jahre später immer noch Ungewissheit.

Ein weiterer schrecklicher Aspekt der Schutzraum-Todesfallen erinnert die Israelis ganz besonders an die Shoah: Menschen überlebten hier wie dort, weil sie durch Leichen vor weiteren Übergriffen geschützt waren oder es ihnen gelang, sich glaubwürdig tot zu stellen. Das ist auch die Geschichte eines jungen Paares, welches das Massaker in einem weiteren Schutzraum der Landstraße 232 überlebte.

Ben Binyamin and Gali Segal hatten sich eine Woche vor dem 7. Oktober 2023 verlobt und waren gemeinsam auf dem Nova-Festival. Ihnen gelang es, zum Kibbuz Alumim zu fliehen. Dort verloren beide, in einen Schutzraum gepfercht, ihr rechtes Bein. Letztlich überlebten sie inmitten Dutzender Leichen. Ganz Israel wird nie vergessen, wie die beiden, die zusammen in einem Krankenzimmer untergebracht wurden, sich ins Leben zurückkämpften. Sie bekundeten gegenüber den Medien, dass sie heiraten werden, aber erst, wenn sie beide aus eigenen Kräften zum Hochzeitsbaldachin schreiten können – was schließlich im Juli 2024 der Fall war.

Genau solche Geschichten sind das Besondere, das sich die israelische Gesellschaft nicht nehmen lässt: Betroffene und Hinterbliebene kämpfen sich ins Leben zurück. Sie haben die Mehrheit der israelischen Gesellschaft solidarisch zur Seite, obwohl in Israel alle – ähnlich wie infolge des Yom-Kippur-Kriegs von 1973 – in dem einen oder anderen Umfang selbst mit einer Traumatisierung zu kämpfen haben.

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Gedenk-Heckmeck

Die Kibbuzim entlang der Gaza-Grenze reglementierten irgendwann den Strom der Menschen, die mit eigenen Augen sehen wollten, was am 7. Oktober 2023 dort geschehen war. Entlang der Straße 232 wurde das Gelände des Nova-Festivals zu einem bedeutsamen Anlaufpunkt sowohl der Trauer als auch der Neugier. Es gibt keinen Schutzraum auf den rund fünfzig Kilometern, neben dem nicht zu jeder Tageszeit Autos parken. Auch die Schutzräume sind zu Denkmälern geworden, an denen Israelis trauern, gedenken und versuchen zu begreifen, wenngleich es bereits nicht wenig Zank um das offizielle Gedenken gab.

Einige Schutzräume, die in die Zuständigkeit der Israel National Roads Company fallen, wurden renoviert, wodurch die Spuren des 7. Oktober unwiederbringlich zerstört sind. Das bemängelten Familien der dort Ermordeten, die vor allem die an den Wänden verewigten letzten Botschaften ihrer Lieben hätten bewahren wollen. Und auch die für die Region zuständigen Regionalverwaltungen sind mit schwierigen Fragen konfrontiert: Hinterbliebene wollten die Schutzräume unverändert als Denkmäler belassen, doch andere sind emotional nicht in der Lage, sie zu betreten, was – belässt man die Mini-Bunker am Ort des Geschehens – bei Raketenangriffen, die auch nach zwei Jahren Krieg nicht gänzlich aufgehört haben, jedoch sehr wichtig wäre.

Eine schwierige Situation für die noch keine Lösung gefunden worden ist. Vermutlich ist dafür die Zeit genauso wenig reif wie für eine nationale Gedenkstätte, wie gerade dieser Tage der israelische Designer Michael Arad meinte, der die Gedenkstätte der Terrorakte vom 11. September 2001 in New York gestaltete.

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