Die Zusammenstöße in Libyen nach der Ermordung eines Milizführers stürzen die politische und militärische Lage des Landes wieder einmal in Unsicherheit.
Mitte Mai kam es in Tripolis zu gewaltsamen Zusammenstößen, nachdem der als Gahniwa bekannte Abdul Ghani al-Kikli, ein prominenter Kommandeur einer der bewaffneten Gruppierungen in der libyschen Hauptstadt, während einer Sitzung im Hauptquartier der dem Verteidigungsministerium angehörenden 444. Brigade, ermordet wurde. Später bezeichnete der Chef der Regierung der Nationalen Einheit, Abdul Hamid Dabaiba, die Aktion, die zur Ermordung geführt hatte, in einer Fernsehansprache als »erfolgreiche und schnelle Operation«, bei der keine Zivilisten zu Schaden gekommen seien.
Nachdem in Folge al-Kikli-treue Milizen mit jenen Dabaibas zusammengestoßen waren, erließ dieser mehrere Beschlüsse, darunter die Auflösung der »parallelen Sicherheitsdienste«. Unter das Verbot fielen mehrere Sicherheitsmilizen, darunter vor allem die Abteilung für Operationen und Justizsicherheit, die Teil der Organisationsstruktur der Justizpolizei ist und unter dem Kommando des Milizführers Osama Najim steht. Die Entscheidung umfasst auch die Auflösung der Behörde für die Sicherheit von Einrichtungen und Anlagen unter dem Kommando des Milizführers Osama Talish und deren direkte Unterstellung unter das Innenministerium.
Gefürchteter al-Kikli
Der saudische TV-Sender Al-Sharq berichtete unter Bezug auf informierte libysche Quellen, dass al-Kiklis Einfluss dramatisch gewachsen sei und Befürchtungen aufkamen, »er habe eine Privatarmee aufgebaut, um seine Interessen und die seiner Verbündeten in staatlichen Behörden zu vertreten«. Außerdem wurde er beschuldigt, wirtschaftliche Ressourcen durch Schmuggel und Parallelwirtschaft zu kontrollieren. »Und nicht nur das: Einige werfen al-Kikli vor, sich an einem Machtkampf innerhalb der Zentralbank zu beteiligen, wodurch sein Einfluss sich wie ein Krake über die meisten staatlichen Behörden und Institutionen erstreckte.«
Laut den Quellen hat es der Regierungschef mit einer sehr heiklen Lage zu tun, wegen der er in den letzten Jahren versucht hatte, die bewaffneten Gruppen einzudämmen, und zwar »nicht nur aus einer internen politischen Entscheidung heraus, sondern auch als Reaktion auf externen Druck. Allerdings war dies keine leichte Aufgabe.«
Al-Kiklis Tod ermöglicht Dabaiba nicht nur, dessen Kampftruppen unter seine Kontrolle zu bringen und andere einzudämmen, sondern bot dem Regierungschef der nationalen Einheit auch einen Ausgangspunkt für eine umfassendere Operation, die darauf abzielte, die Einflussverhältnisse in Tripolis neu zu ordnen, wo etwa fünfzig bewaffnete Milizen, darunter die Special Deterrence Force mit Sitz auf dem Luftwaffenstützpunkt Mitiga und die Stability Support Force, stationiert sind.
Zu den Auswirkungen der aktuellen Entwicklungen sagte der libysche Politologe Ramadan Maiteeq gegenüber dem US-Sender Al-Hurra, Dabaiba versuche, »seine Fähigkeit zur Kontrolle der sicherheitsdienstlichen und der politischen Angelegenheiten unter Beweis zu stellen, um seine internationale und regionale Legitimität zu wahren«. Das Geschehen stelle eine bedeutende Veränderung dar und habe der Regierung der Nationalen Einheit mit dem Sturz ihres prominentesten Konkurrenten erheblichen Einfluss verschafft.
Nach dem Politologen könnte der Tod von al-Kikli den Beginn eines neuen Wegs markieren: »Die bewaffneten Gruppen sind zu einem Hindernis für die Aufstellung einer regulären libyschen Armee geworden, weswegen die Entscheidung getroffen wurde, diese Milizen zu beseitigen.« Maiteeq betonte, dass die jüngsten Entwicklungen auf der internationalen Bühne den Prozess der Beseitigung der Milizen beschleunigt hätten.
Drei Szenarien
Eine Forschungsarbeit des vom Al-Ahram Center for Strategic Studies in Ägypten herausgegebenen Magazins International Politics skizzierte drei mögliche Szenarien für die Zukunft des Konflikts zwischen Dabaiba und den bewaffneten Milizen:
- Eskalation: Trotz wiederholter Zusagen eines Waffenstillstands bleibt die Wahrscheinlichkeit erneuter bewaffneter Zusammenstöße zwischen den verschiedenen Fraktionen hoch, insbesondere angesichts der anhaltenden militärischen Ansammlung in Tripolis. Die Versuche der Dabaiba-Regierung, die Kontrolle über die von rivalisierenden Milizen kontrollierten Gebiete mit Gewalt zurückzugewinnen, könnten zu neuen Wellen der Auseinandersetzungen führen.
- Waffenstillstand: In diesem Szenario könnte der Druck der libyschen Bevölkerung zu einer relativen Beruhigung führen, insbesondere, wenn einflussreiche regionale und internationale Mächte vermitteln. Es könnte ein Abkommen geschlossen werden, gefolgt von einer neuen politischen Initiative, die sich auf die Umstrukturierung der Sicherheitslandschaft und die schrittweise Integration der bewaffneten Gruppen in die staatlichen Institutionen konzentriert.
- Inklusive politische Lösung: Eine solche Lösung bleibt ein langfristiges Ziel, das einen breiten Konsens zwischen den bewaffneten und politischen Akteuren über grundlegende Sicherheitsreformen erfordert. Außerdem sind umfangreiche internationale und regionale Unterstützung sowie erhebliche Zugeständnisse aller Parteien notwendig. Das Fehlen gegenseitigen Vertrauens, die komplizierte Sicherheitslage und der Druck der Bevölkerung machen eine Umsetzung in naher Zukunft jedoch äußerst schwierig.