Die türkische Staatsanwaltschaft fordert im Prozess gegen den Journalisten Deniz Yücel eine lange Haftstrafe. Der Vorwurf: Propaganda für die PKK sowie Volksverhetzung durch seine Artikel in der Welt.
Wer arbeitet macht Fehler, besagt eine alte Weisheit. Doch auch wer keine Fehler macht, sondern nur seinen Job macht – und zwar ausgesprochen gut – kann anecken. Und zwar so richtig. Diese Erfahrung machte der ehemalige Türkei-Korrespondent der Welt Deniz Yücel aufgrund seiner kritischen Berichterstattung über die politische Entwicklung in der Türkei. Damit wurde er sozusagen zum roten Tuch für den jetzigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der in ihm keinen Journalisten sah, sondern einen „Agentterrorist“.
Deniz Yücel wurde im Februar 2017 festgenommen und verbrachte ein Jahr ohne Anklage in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft erhob erst Anklage, als er aus der Haft entlassen wurde und nach Deutschland ausreiste. Der Journalist selbst wird bei der Verhandlung, die im Juni 2018 begann, im Rahmen derer die Staatsanwaltschaft am 13. Februar 2020 – fast auf den Tag genau zwei Jahre nach seiner Festnahme – das geforderte Strafmaß bekannt gab und die im April 2020 fortgesetzt werden soll, nicht anwesend sein.
Bereits am 28. Juni 2019 erklärte das türkische Verfassungsgericht die Verhaftung des Journalisten für rechtswidrig, ebenso stellte die Kammer fest, dass der Inhalt der inkriminierte Presseartikel von der Pressefreiheit gedeckt sei. Dementsprechend wirft Deniz Yücel wirft der Staatsanwaltschaft vor, sich mit ihrer Weiterverfolgung des Prozesses über „das höchste türkische Rechtsorgan“ zu „erheben“.
Von der taz zur Welt
Seit 1999 arbeitet Deniz Yücel als Journalist, zunächst freiberuflich für verschiedene Print- und Hörfunkmedien, dann als Redakteur für die Wochenzeitung Jungle World, anschließend von 2007 bis 2015 bei der Tageszeitung (taz). Dann folgt der Wechsel, beruflich von der Taz zur Welt, seinen Wohnsitz verlegte er von der Spree an den Bosporus.
Als Türkei-Korrespondent der Welt überzeugt er mit seiner empathischen, jedoch professionell – und politisch – kritischen Berichterstattung über die Situation in den kurdischen Gebieten innerhalb der Türkei und in Syrien auch jene, die seinen Wechsel von der linken Taz zur konservativen Welt kritisiert hatten. Er berichtete aus „Tayyipistan“, wie er den Herrschaftsbereich Erdoğans nannte, der „besten Demokratie wo gibt“, mit der „besten Pressefreiheit wo gibt“.
Diese „beste Pressefreiheit wo gibt“ nutzte er soweit als möglich aus. Kurz nachdem er seinen neuen Job angetreten hatte, bereiste er die kurdischen Gebiete innerhalb der Türkei, die kurdische Provinz Rojava in Syrien und stattete der kurdischen Guerillagruppe PKK einen Besuch ab. Auch wenn er sich ganz klar in Opposition zur türkischen Regierung befand, so hatten seine Berichte durchaus auch kritische Töne in Hinblick auf die kurdische Seite.
Schon sehr bald eckte er an: Auf einer Pressekonferenz des Gouverneurs der Provinz Şanlıurfa in den kurdischen Regionen der Türkei im Juni 2015 stellten er sowie Özlem Topçu, damals Türkei-Korrespondentin der Zeit, Pınar Öğünç von Cumhuriyet sowie Hasan Akbaş von der linken Evrensel kritische Fragen. Alle vier wurden nach der Pressekonferenz auf dem Rückweg in die West-Türkei vorübergehend festgenommen. Nach einer Stunde wurden sie jedoch wieder freigelassen. Vermutlich, weil es ihnen gelungen war, noch im Polizeiauto ihre Festnahme in sozialen Medien bekanntzugeben und umgehend dagegen protestiert wurde.
Auf einer Pressekonferenz in Ankara im Februar 2016, zu der Recep Tayyip Erdoğan anlässlich des Besuchs der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geladen hatte, stellte er auch Merkel kritische Fragen.
Außerdem berichtete er in zwei Artikeln in der Welt von dem Verfahren gegen das Hacker-Kollektiv „RedHack“, die sich Zugang zu dem Mailaccount von Berat Albayrak verschafft hatten. Dieser war zu dem Zeitpunkt Energieminister, und – besonders pikant – er ist der Schwiegersohn Erdoğans. Die Mails wurden türkischen linken Medien zugespielt, von Wikileaks aufbereitet und am 5. Dezember 2016 als Datenbank veröffentlicht.
„Beste Pressefreiheit wo gibt“
Das alles erzürnte Recep Tayyip Erdoğan dermaßen, dass er ihn öffentlich als „Agentterrorist“ beschimpfte. Damit waren die Fronten geklärt. Kritische Berichterstattung liebt der Sultan von Tayyipistan nicht. Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt die Türkei aktuell Platz 157 von 180.
Für die – in seinem Sinne – beste Pressefreiheit wo gibt sorgte der Präsident, indem er kritische Medien verbot, Journalistinnen und Journalisten einsperren ließ, Dutzende sind heute noch inhaftiert, einige, wie der ehemalige Chefredakteur der Cumhuriyet konnten sich ins Ausland absetzen. Darüber hinaus ließ Erdogan gleich ganze Medienhäuser aufkaufen und in regierungsnahe Medienkonzerne integrieren. So sorgte er gleichzeitig für lukrative Jobs für Menschen in seinem näheren Umfeld und deren Angehörigen, u. a. der Verwandtschaft von Berat Albayrak. Auslandskorrespondenten wurde die Registrierung verweigert, einige – u.a. SPIEGEL-Korrespondent Hasnain Kazim – verlegten ihren Wohnsitz und berichteten nun aus dem Ausland über die Türkei.
Denis Yücel blieb. Am 25. Dezember 2016 verfasste er seinen letzten Eintrag bei Facebook, danach war nichts mehr von ihm zu hören. Am 27. Dezember 2016 berichtete Bild, dass ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt und seine Wohnung in der Türkei durchsucht, er dort aber nicht angeroffen worden sei. Danach blieb es lange still um den Welt-Korrespondenten, bis er sich am 14. Februar 2017 der Istanbuler Polizei stellte.
Von dieser wurde er zunächst in Gewahrsam genommen und später in Untersuchungshaft überstellt. Diese dauerte ziemlich genau ein Jahr: Am 16. Februar 2017 wurde er überraschend freigelassen – mit der Auflage, umgehend die Türkei zu verlassen. Das realisierte der Springer-Konzern, zu dessen Portfolio auch die Welt gehört. Im Moment seiner Freilassung erhob die Staatsanwaltschaft Anklage und forderte nun 18 Jahre Haft wegen des Vorwurfs, die in der Türkei verbotene PKK, also den Terrorismus, zu unterstützen.
Auch der EuGH beschäftigt sich mit dem Fall
Deniz Yücel ging gerichtlich gegen seine Inhaftierung vor, wie bereits geschildert gab ihm das türkische Verfassungsgericht Recht. Nach seiner Entlassung gab er an, im Gefängnis drei Tage lang gefoltert worden zu sein. Er sprach von Drohungen, Beleidigungen und auch Schlägen. Diese seien nicht allzu heftig gewesen, wohl weniger darauf ausgerichtet, ihn zu verletzen, als ihn zu brechen.
Im Oktober 2019 erschien sein Buch „Agentterrorist“, in dem er sowohl seine Haftzeit literarisch verarbeitet und die Haftbedingungen beschreibt als auch die politischen Verhältnisse in der Türkei analysiert, wobei es so scheint, als ob in Bälde eine aktualisierte Fassung fällig wäre. Außer der türkischen Justiz beschäftigt sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EuGH) mit dem Fall. Der dürfte ein anderes Verständnis von „beste Pressefreiheit wo gibt“ haben als der Sultan von Tayyipistan.