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Be’er Sheva: Israels Wüstenhauptstadt im Fokus des Entsetzens

Das Soroka-Krankenhaus der israelischen Stadt Be'er Sheva
Das Soroka-Krankenhaus der israelischen Stadt Be'er Sheva (Quelle: צילום:ד"ר אבישי טייכר, CC BY 2.5)

Durch Israels Süden hallen schon lange Warnungen, dass Kriminalität und Schusswaffengebrauch unerträglich geworden seien. Vergangene Woche blickte ganz Israel nach Be’er Sheva, und obwohl kaum jemand von den Vorgängen vor dem Soroka-Krankenhaus überrascht war, minderte das dennoch nicht den Schock und den Schrecken.

Das Soroka-Krankenhaus der Negev-Hauptstadt Be’er Sheva stand gleich mehrere aufeinanderfolgende Tage lang im Zentrum der Nachrichten. Dies jedoch nicht in Zusammenhang mit der Pandemie, sondern weil Park- und Vorplatz der Notaufnahme Schauplatz eines Horrorszenarios wurden.

Schüsse vor einem Krankenhaus

Am Abend des 14. November 2021 fuhren hier zeitgleich mehrere PKW vor. Kurz darauf traf ein zweiter Konvoi ein. Aus den Autos stiegen ausschließlich junge Männer aus. Sekunden später kamen Schlagstöcke zum Einsatz, Steine flogen, Schüsse krachten. Angehörige zweier verfeindeter beduinischer Großfamilien gingen aufeinander los.

Dass niemand außer den Akteuren zu Schaden kam, grenzt an ein Wunder, obwohl kaum ein Augen- und Ohrenzeuge ohne Schock davonkam.

Die beiden Clans zählten mehrere Verletzte. Aus den zunächst 14 Festnahmen wurden im Laufe der Nacht fast zwei Dutzend. Ein Krankenhaus, in dem sich Menschen sicher fühlen sollten, war zu einer Art Kriegsschauplatz geworden.

Waffen in Patientenbetten

Als die Reporter des Landes in den nächsten Tagen aus Be’er Sheva berichteten, schienen sich vor laufenden Kameras zeitweise ähnliche Szenarien zusammenzubrauen. Dieses Mal war Polizei vor Ort, um rechtzeitig einzugreifen.

Zugleich ereigneten sich an zwei weiteren Krankenhäusern ähnliche Zwischenfälle. Bezüglich des Soroka-Krankenhauses verstummte schnell die Frage, wie Waffen überhaupt auf ein Krankenhausgelände gelangen können, als die Medien publizierten, dass man dort auf beduinische Patienten treffen könne, die, für den Fall des Falles, Pistolen unter der Bettdecke parat haben.

„Terror von Zivilisten“

Nach dem Zwischenfall beschrieb Bürgermeister Ruvik Danilovich, der nur eine Woche zuvor eine zusätzliche Steuerabgabe für „dringende Sicherheitsmaßnahmen in der öffentlichen Sphäre“ seiner Stadt durchgesetzt hatte, die Lage im Land als nationalen Notstand und bezeichnete die Situation in Be’er Shava als „Terror von Zivilisten.“

Danilovich forderte die Regierung auf, sich vor Ort vom Ernst der Lage zu überzeugen. Statt hochrangigen Gästen traf aber die Neuigkeit ein, dass die erst kurz zuvor nach Be’er Sheva dirigierten Reservisteneinheiten der Grenzpolizei abgezogen würden. Nur infolge scharfen Protestes der Lokalpolitiker sicherte Polizeichef Ya’acov Shabtei zu, dass weiterhin Grenzpolizeitruppen in der Stadt Dienst versehen werden.

Jüdisches Be’er Sheva mit muslimisch-beduinischer Lebenssphäre

Lediglich bei einem verschwindend geringen Anteil der rund 200.000 Einwohner der größten Stadt des Negev handelt es sich um Araber. Obwohl Be’er Sheva selbst keine gemischte Stadt ist, ist sie es im Alltagsleben sehr wohl.

Im Umkreis von 50 Kilometern lebt die große Mehrheit der über 282.000 Beduinen des Negev in anerkannten und nichtanerkannten Dörfern sowie in Planstädten – allen voran die größte beduinische Stadt der Welt Rahat – und als im Niemandsland versprengte Großfamilien. Unzählige frequentieren täglich Be’er Sheva für behördliche Dienstleistung und Erledigungen aller Art.

Beduinen der Umgebung betreiben zudem Geschäfte in der Stadt, in der man auch zwei Niederlassungen arabischer Supermarktketten aus Israels Norden vorfindet. Zudem sind Araber in allen Sektoren des Arbeitsmarktes zu finden.

Wende lange vor Soroka-Zwischenfall passiert

Szenarien wie vor dem Soroka-Krankenhaus sind in der Umgebung der Stadt an der Tagesordnung. Darunter leiden vor allem in der Nähe zu beduinischen Ansiedlungsgebieten gelegene Dörfer und Kleinstädte wie auch Kibbuzim. Be’er Sheva stöhnte bislang eher unter der zunehmenden Kriminalität, aber nicht unbedingt wegen des Einsatzes der unter arabischen Israelis kursierenden illegalen Schusswaffen.

Die Wende, die die Bewohner der Stadt nun erschütterte, kam Wochen vor dem Soroka-Zwischenfall, als ein polizeibekannter 30-jähriger Beduine aus dem nahen Shaqib al-Salam (Segev Shalom) in der Stadt ermordet wurde. Laut Polizei wurden die Schüsse im Zuge einer Fehde zwischen Beduinenstämmen abgegeben.

Das versetzte die Einwohner in Schrecken. Bislang hatten Beduinen Waffen eigentlich nur in ihren eigenen Bevölkerungszentren eingesetzt; Ausnahme waren, wenn überhaupt, Überlandstraßen. Dass der kaltblütige Mord zudem in einer vielfrequentierten Altstadtstraße mit Cafés und Bars erfolgte und ein Unbeteiligter verletzt wurde, sorgte für umso größeres Entsetzen.

Mangelndes Vertrauen

Dieses Entsetzen ebbte auch nach Razzien mit bis zu 400 beteiligten Ordnungshütern verstärkt durch Hundestaffeln nicht ab. Dass sie in Stadt und Umgebung Waffen unterschiedlichen Typs und große Mengen Drogen konfiszierten, sahen viele als Bestätigung, dass die Lage längst aus dem Ruder gelaufen ist.

Schon seit Monaten florieren in der Stadt Gruppen, die zu Protesten aufrufen oder wie „Be’er Sheva Together“, die Bühne liefern, um seinem Unmut freien Lauf zu lassen. Hochkonjunktur haben Ehrenamtliche, die Whatsapp-Gruppen gründen, um bürgerwehrähnlich auf Hilferufe zu reagieren. Dazu gehört auch, dass im letzten halben Jahr in Be’er Sheva mehr als drei Mal so viele Waffenlizenzen beantragt wurden als im vergleichbaren Zeitraum des Vorjahres.

Nicht nur Be’er Sheva

Zweifelsfrei spitzt sich die Lage in Be’er Sheva zu, doch auch über den Stadtrand hinaus, dort wo Beduinen ins Visier von Beduinen geraten, hat sich die Lage verschlimmert.

Zwischen Ende September und Ende November – dem Zeitraum zwischen dem Mord in der Altstadt und dem Zwischenfall vor dem Soroka-Krankenhaus – muss man für einen Umkreis von lediglich 15 Kilometern um Be’er Sheva festhalten: mehrere Massenschlägereien, bei denen Steine flogen und Menschen beispielsweise mit Traktoren überfahren wurden sowie unzählige Messerattacken und Schusswechsel.

Die Zahl der bei diesen Vorfällen Verletzten geht in die Dutzende. Zudem wurden drei Männer ermordet: Zwei 35-Jährige wurden gemeinsam in ihrem Auto auf offener Straße erschlossen, während man die Leiche eines 30-Jährigen in seinem von Kugeln durchsiebten Wagen auffand.

Dass in einem Fall einem 15-Jährigen eine Glock-Pistole mit zwei vollen Magazinen während einer Streitigkeit noch rechtzeitig abgenommen werden konnte, verhinderte zwar weitere Opfer, steigerte angesichts des Alters des Waffenträger das Entsetzen jedoch ins Unermessliche.

Alle Bürger sind betroffen

Es steht außer Frage, dass 60% der in Israel registrierten kriminellen Taten von Arabern verübt werden, die 20% der Bevölkerung ausmachen. Viele in Be’er Sheva reden öffentlich über ihre Angst, die durchaus berechtigt ist.

Doch zugleich blicken viele Einwohner der Stadt zu ihren Nachbarn im Umland, ohne die nötigen Differenzierungen vorzunehmen. Oft wird übersehen, dass nicht alle arabischen Israelis, die 20% der Gesamtbevölkerung ausmachen, daran beteiligt sind, dass die Luft immer bleihaltiger wird.

Schnell gerät darüber hinaus nur allzu leicht in Vergessenheit, dass auch Angehörige der Minderheit, die ein „normales Leben“ führen, genauso wie alle anderen Bürger des Landes unter den Auswirkungen zu leiden haben.

Und Langzeitpremier Netanjahu gestand vor seinem Wechsel auf die Oppositionsbank vor einem Knesset-Ausschuss ein, dass das Ausmaß der Kriminalität im arabischen Sektor Israels mit einer schlechten sozioökonomischen Ausgangslage, maßgeblich verschärft durch jahrzehntelange Vernachlässigung seitens der Behörden, in Verbindung steht.

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