In Israel herrscht innenpolitisches Chaos. Sowohl dem regierenden Premier Benjamin Netanyahu als auch seinem mächtigsten Herausforderer Benny Gantz ist es nicht gelungen, eine Regierung zu bilden. Bis zum 11. Dezember haben nun alle Parlamentarier die Chance, eine Liste mit den 61 erforderlichen Mitgliedern aufzustellen. Klappt das nicht, so kommt es erneut – also zum dritten Mal in einem Jahr – zu allgemeinen Neuwahlen. Als ob das alles nicht schon kompliziert genug wäre, steht Benjamin Netanyahu nun seit letzter Woche auch wegen Betrug, Untreue und in einem Fall sogar wegen Korruption unter Anklage – allesamt dramatische Entwicklungen, die sich auf die bislang führende Partei auswirken.
Etwas ist faul im Likud. Zwist und Rebellionsgelüste brodeln in der Partei, die seit mehr als zehn Jahren die Regierungsgeschäfte Israels federführend bestimmt. Lange war den Likud-Parlamentariern bedingungslose Loyalität zu ihrem schillernden Parteichef oberstes Gebot. Jetzt ist Benjamin Netanyahu offiziell angeklagt, seine Chancen, eine Regierung zu bilden, scheinen vertan, und interne Proteststimmen werden laut.
Forderung nach Vorwahlen im Likud
Allen voran verschafft sich Gideon Sa’ar Gehör. Der populäre Likud-Politiker verlangt nach Vorwahlen und stellt sich gleich selbst als geeignetsten Kandidaten für einen neuen, unbelasteten Parteiführer zur Verfügung.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sa’ar und sein Boss aneinandergeraten, auch wenn sich die Spannungen bislang mehrheitlich unterhalb der Oberfläche abspielten. Im Jahr 2014 etwa verabschiedete sich der damalige Likud-Senkrechtstarter Sa’ar eine Zeitlang von der Politik, weil er – so wurde gemunkelt – von Netanyahu in Sachen Beförderung übergangen worden war. Und letztes Jahr, schwirrten dann die Gerüchte, der Premier beschuldige Sa’ar, der mittlerweile in das politische Geschehen zurückgekehrt war, gegen ihn zu konspirieren und nach den Wahlen, einen Putsch inszenieren zu wollen.
Streit der Rivalen
Nun wird der Streit der Likud-Rivalen in der Öffentlichkeit ausgetragen. Gideon Sa’ar wirft dem Premierminister vor, bereits zweimal bei der Regierungsbildung versagt zu haben. „Warum sollte es ihm beim „dritten, vierten, fünften oder sechsten Mal gelingen“, fragt er. Bleibt Netanyahu weiterhin an der Spitze der Likud, so warnt Sa’ar weiter, würde es entweder “ zu einer “fürchterlichen Krise und einer politischen Lähmung Israels“ kommen, oder aber die Mitte-Links Parteien würden überhand gewinnen. „
Es gibt nur einen Weg, das Land und die Führungsrolle des Likud zu retten – [wir müssen] innerparteiliche Vorwahlen abhalten, um eine neuerliche nationale Wahl zu vermeiden”, gibt sich Sa’ar überzeugt. Er selbst wäre dann „leicht in der Lage, eine Regierung zu bilden.”
Wenig Rückhalt für Sa’ar in der Partei …
Ob sich Sa’ar weitere Likud-Parlamentarier anschließen, bleibt bislang noch unklar. Zwar halten sich einige, darunter der Minister für öffentliche Sicherheit, Gilad Erdan, auffallend bedeckt. Öffentlich wollen sich die meisten aber nicht für Sa’ar bekennen. Im Gegenteil.
Außenminister, Israel Katz, meint Sa’ar “habe eine rote Linie überschritten” und würde die “Spaltung der Partei legitimieren”. Likud-Abgeordneter Nir Barkat, der in einer Post-Netanyahu-Ära ebenfalls den Parteivorsitz übernehmen will, wirft Sa’ar einen schweren “strategischen Fehler” vor. Es blieben noch zwei Wochen bis zum Ausruf von Neuwahlen, so Barkat, alle Likud-Mitglieder würden versuchen, Einheit zu bekunden, und dann käme plötzlich einer und würde diese Bemühungen sabotieren.
Den Vorwurf kontert Sa’ar auf Twitter mit einem persönlichen Angriff auf Barkat, den Letzterer wiederum mit einer scharfen Post beantwortet. Auch die Kulturministerin Miri Regev, eine überzeugte Netanyahu-Loyalistin, geriet neulich in einen Twitter-Schlagabtausch mit Sa’ar, als sie ihm vorwarf die Partei zu torpedieren und dem Premier in den Rücken zu fallen.
… und in der Öffentlichkeit
Die Öffentlichkeit, zumindest das likudfreundliche Publikum, scheint sich ebenfalls mehrheitlich gegen Sa’ar und für den Regierungschef auszusprechen. Zwischen fünf und zehntausend Netanyahu-Anhänger gingen am vergangenen Dienstag Abend in Tel Aviv auf die Straße, um gegen die Anklage zu protestieren und ihre Treue zu Bibi zu bekunden.
Auffallend war zwar, dass sich nur wenige der Likud-Minister der Kundgebung anschlossen; die Menschen auf der Straße schien das aber nicht zu stören. „Das ist ein Protest der Wähler und nicht der Politiker“, erklärte eine der Anwesenden. „Er gibt uns die Möglichkeit, unsere Dankbarkeit und Unterstützung für den Premierminister zum Ausdruck zu bringen und gegen die Anklage, die wir als ungerecht empfinden, zu protestieren.”
Tatsächlich scheint Netanyahu bei seinen Wählern immer noch zu punkten. Laut einer Umfrage der Direct Polls Company, würden 53% der Likud-Mitglieder Benjamin Netanyahu und nur 40% Gideon Sa’ar wählen. Als die 1.513 Umfrageteilnehmer aber gefragt wurden, wem sie nach dem Abtritt von Netanyahu ihre Stimme geben würden, führte Sa’ar vor Barkat die Liste an.
Wie geht es weiter?
Offen bleibt, wie es mit dem Likud weitergeht, und ob es der Partei gelingen wird, ihre internen Differenzen zu bewältigen und einen Bruch zu vermeiden.
Mittlerweile haben die Unstimmigkeiten den Parlamentssprecher Yuli Edelstein aber dazu veranlasst, die Likud-Mitglieder in einem gemeinsamen Communiqué mit Netanyahu dringend zur Wahrung der Parteieintracht aufzurufen. Schließlich steht einiges auf dem Spiel: Laut einer Umfrage von Channel 12, soll die Likud mit Netanyahu an der Spitze auch bei einer dritten Wahl, ihre 33 Mandate-Position beibehalten. Mit Sa’ar würde sie, so die Prognose, auf 26 Mandate abrutschen.