„Die politische Lage in der Türkei ist offensichtlich dramatisch, aber auch ebenso kompliziert. Der türkische Präsident Erdoğan hat es geschafft, eine in der Geschichte der Türkei einmalige Machtfülle in seinen Händen zu konzentrieren. Doch ist dieser Zustand wirklich einmalig? Nein – auch der Staatsgründer Atatürk hat 15 Jahre als Alleinherrscher über die frühe Republik geherrscht, die damals ein Einparteienstaat war. Erst sein frühzeitiger Tod 1938 entriss ihm die Macht. Bis dahin herrschte Atatürk allein über alle erdenklichen Dimensionen der Innen- und Außenpolitik. Selbst Kleidung und Musik wurden seinen Vorstellungen angepasst. Die Erschaffung einer absolut homogenen Gesellschaft war das Ziel: ‚ein Volk, eine Sprache, eine Flagge, ein Staat‘ – an diesem Ausspruch Atatürks orientierte sich auch seine Politik. Heute ist es eines der Lieblingszitate Erdoğans. Die Säuberung der eigenen Reihen ist ebenfalls keine Erfindung Erdoğans – selbst die engsten Vertrauten mussten mit Entlassung oder sogar Strafe rechnen, sollten sie Atatürk widersprechen.
Nicht nur das autoritäre Erbe, inklusive einem hinter religiöser Heiligenverehrung nicht zurückstehenden Führerkult um seine Person, auch sein politisches Vermächtnis ist von den aktuellen Entwicklungen in der Türkei nicht zu trennen. Dieses drückt sich aus in einer oberflächlich sehr strikten Trennung von Religion und Staat bei gleichzeitiger Erhebung des Sunnitentums zur Staatsreligion und tragender Säule des Nationalcharakters. Das Alevitentum beispielsweise wurde zu Atatürks Zeiten noch nicht einmal namentlich erwähnt. Die allseits sehr beliebten Bilder der Frauen im schicken Minirock aus den 1930ern sollten nicht den Eindruck erwecken, damals habe ein wirklicher Säkularismus geherrscht – geschweige denn Demokratie oder Meinungsfreiheit in irgendeiner Form. Auch die Feindschaft gegenüber Kurden und Christen gehört zu den Kernelementen des Kemalismus. All dies – Führerkult, Verschmelzung von Sunnitentum und Türkentum, Xenophobie, Autoritätshörigkeit – sind Elemente, die Erdoğans Machtausbau zugutekommen. (…) Es soll nicht darum gehen, Erdoğan, die AKP, den Islamismus oder deren Unterstützer zu verteidigen bzw. ihre Verantwortung für die katastrophalen Zustände in der Türkei zu verschweigen. Vielmehr muss ein vielschichtigeres Bild gezeichnet werden, in dem größere Zusammenhänge und grundlegende Probleme sichtbar werden. Für eine demokratische und aufklärerische Perspektive auf die Entwicklungen in der Türkei ist dies unerlässlich.“ (Tayfun Guttstadt: „Das verklärte Erbe des Kemalismus“)