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Antisemitismus: Wie die amtlichen Zahlen das Bild verzerren

Das die Statistiken über antisemitische Straftaten falsch und irreführend sind, ist seit geraumer Zeit bekannt. (© imago images/Jürgen Heinrich)
Das die Statistiken über antisemitische Straftaten falsch und irreführend sind, ist seit geraumer Zeit bekannt. (© imago images/Jürgen Heinrich)

Achtzig Prozent der antisemitischen Delikte gehen auf Kosten von Rechten, behauptet Eva Menasse. Dass die Statistik falsch ist, ist seit Jahren bekannt.

Wann immer sich Menschen in Deutschland und Österreich bemüßigt fühlen, die vom muslimischen Antisemitismus ausgehende Gefahr zu leugnen oder kleinzureden, verweisen sie auf offizielle Statistiken. Aus denen soll hervorgehen, dass die überwältigende Mehrheit antisemitischer Straftaten nicht auf das Konto von Muslimen gehe, sondern dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen wäre.

Eva Menasse beispielsweise, die mit ihrer »selbstherrlichen Verachtung« gegenüber Israel (so der Historiker und ehemalige Verleger Ernst Piper) jüngst für Unruhe in der Schriftstellervereinigung PEN Berlin gesorgt hat, wird nicht müde hervorzuheben: »Attacken auf Leib und Leben von Juden in Deutschland kommen zu über achtzig Prozent von rechtsradikalen Deutschen – biodeutschen Neonazis.« Schlichtweg nicht zu leugnende Taten muslimischer Antisemiten bezeichnet sie als »bedauerliche Einzelfälle«, die man nicht »hoch skandalisieren« dürfe. (Falter 46/23)

Menasse kann sich bei ihren Verharmlosungsversuchen des muslimischen Antisemitismus zu Recht auf amtliche Statistiken und entsprechende mediale Berichterstattung berufen. Insgesamt ist seit dem Hamas-Massaker in Israel am 7. Oktober die Zahl antisemitischer Straftaten rapide gestiegen, wobei die Täter in achtzig Prozent der registrierten Fälle im »rechten politischen Spektrum« zu verorten seien. Das entspricht anteilsmäßig ungefähr auch dem Wert, den das deutsche Bundesinnenministerium in seinem Bericht über »politisch motivierte Kriminalität« im Jahr 2022 angibt: 82,73 Prozent der Straftaten seien demnach dem »Phänomenbereich PMK-rechts« zuzuordnen.

Antisemitismus ist eben rechts

Wenn die Zahlen aber eine so eindeutige Sprache sprechen, wie kam das Harding-Zentrum für Risikokompetenz der Universität Potsdam dann dazu, der Behauptung, antisemitische Straftaten seien in erster Linie ein »rechtes Problem«, die unrühmliche Auszeichnung »Unstatistik des Monats« zu verleihen?

Der Grund dafür liegt in der seltsamen Art und Weise, auf die antisemitische Straftaten von den Sicherheitsbehörden in Deutschland klassifiziert werden. Denn judenfeindliche Vorfälle, die weltanschaulich nicht eindeutig zuordenbar sind, werden auf Anweisung des Bundeskriminalamts ganz einfach als »PMK-rechts« verzeichnet. Begründet wurde das auf Nachfrage der FAZ damit, dass Antisemitismus eben primär ein rechtes Phänomen sei.

Das mag im Deutschland und Österreich der 1960er und 1970er Jahre zutreffend gewesen sein, hat aber nur mehr wenig mit der Realität unserer Einwanderungsgesellschaften zu tun und führt zu einem Zirkelschluss wie aus dem Bilderbuch: Alle unklaren Vorfälle werden als »rechts« klassifiziert, die große Zahl solcherart eingeordneter Delikte zeigt sodann, dass Antisemitismus vorwiegend ein rechtes Problem sei. Das Ergebnis ist, dass muslimischer Antisemitismus weitgehend ausgeblendet wird.

Irreführende Statistik

Wäre die Zahl der unklaren Fälle, die trotzdem als rechts verbucht werden, im Verhältnis zur Gesamtzahl einigermaßen klein, bliebe das Ausmaß der Verzerrung unproblematisch. Doch davon kann überhaupt keine Rede sein, wie das Harding-Zentrum vorrechnet.

Denn im Deliktbereich der politisch motivierten Kriminalität lag die Aufklärungsquote im Jahr 2022 bei knapp 42 Prozent. In deutlich mehr als der Hälfte der Fälle (58 Prozent) konnten keine Täter ermittelt werden. Nimmt man all diese Fälle, die ohne Beleg der Kategorie »PMK-rechts« zugeordnet wurden, aus der Statistik, so sinkt der Anteil der nachweisbar rechten antisemitischen Straftaten von über 82 Prozent auf unter 25 Prozent. Statt vier Fünftel beträgt er plötzlich nur mehr ein Viertel. Mit Sicherheit werden einige der unklaren Fälle rechtsextremen Hintergrund gehabt haben und würden den Anteil der rechten Vorfälle noch ein wenig erhöhen, aber die Diskrepanz zwischen den offiziellen Zahlen und der bereinigten Statistik würde auch dann noch frappierend bleiben.

Dass mit den Statistiken etwas nicht stimmen kann, legte in den vergangenen Jahren auch der deutliche Unterschied zwischen den amtlichen Zahlen und den Wahrnehmungen der von antisemitischen Vorfällen Betroffenen nahe, wie Heiko Heinisch in einem Gastbeitrag in der Presse anhand einer Befragung im Auftrag der EU-Grundrechteagentur hervorhebt:

»Auf die Frage nach dem Täter des ernsthaftesten antisemitischen Vorfalls, den die Befragten erlebt hatten, antworteten 30 Prozent, der Täter sei ein muslimischer Extremist gewesen, 31 Prozent konnten den Täter nicht zuordnen, 21 Prozent ordneten ihn im linken Spektrum ein und nur 13 Prozent im rechten.«

Zumindest in Österreich zeigt sich an Statistiken über antisemitische Gewalttaten, dass es sehr wohl rechtsextreme Täter gibt, diese mittlerweile aber in der Unterzahl sind. Laut der Antisemitismusmeldestelle der Israelischen Kultusgemeinde Wien gab es im Jahr 2022 insgesamt vierzehn gewalttätige antisemitische Angriffe. Zwei konnten weltanschaulich nicht zugeordnet werden, drei hatten einen rechten, neun aber einen muslimischen Hintergrund. Und, wie Heinisch betont, wurden in den vergangenen zwanzig Jahren in Europa alle Terrorakte, bei denen Juden getötet wurden, von Islamisten begangen.

(Allerdings muss man erwähnen, dass der Täter des Anschlags in Halle 2019 versuchte, am höchsten jüdischen Feiertag des Jahres in eine Synagoge einzudringen und nur wegen der massiven Sicherheitstür nicht in der Lage war, das Feuer auf dort versammelte Juden zu eröffnen.)

Lange bekannt, aber ignoriert

Dass in den amtlichen Statistiken in Deutschland antisemitische Straftaten systematisch falsch zugeordnet werden und sich daraus eine möglicherweise starke Verzerrung in Richtung rechtsextremer Taten ergibt, ist seit Jahren bekannt. Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus etwa hat schon in seinem Bericht vor sechs Jahren auf die problematischen »Kriterien der Erfassungspraxis politisch motivierter Straftaten« aufmerksam gemacht. Jeder, der sich mit Daten mehr als nur oberflächlich beschäftigt hat, konnte, ja, musste um die Probleme dieser Statistik Bescheid wissen.

Umso erstaunlicher ist, dass in öffentlichen Debatten immer noch Behauptungen wie die eingangs zitierte von Eva Menasse herumgeistern, wonach »über achtzig Prozent« der antisemitischen Straf- oder Gewalttaten »von rechtsradikalen Deutschen« begangen würden. Diese Zahl ist, so viel kann man getrost festhalten, mit Sicherheit schlicht falsch.

Unterstellt man keine absichtliche Täuschung, wird die Erklärung für die Zählebigkeit der ständig wiederholten Falschbehauptung wohl aus einer Mixtur aus Ignoranz und ideologischem Scheuklappendenken zu finden sein. Die falschen Zahlen sind für den Zweck, das Ausmaß des muslimischen Antisemitismus kleinzureden, einfach zu gut geeignet, als dass Menasse & Co. genauer hinschauen wollten. Dass auf diesem Weg ausgerechnet bei Menschen, die sich sonst lauthals ihrer Fähigkeit zum kritischen Denken rühmen, jedes Kritikvermögen an den fragwürden offiziellen Zahlen aussetzt, zeigt, wie groß der Wunsch sein muss, die falschen Zahlen mögen doch stimmen.

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