Gerade Linke sollten den Mut haben, sich religionskritisch auch mit den historischen Wurzeln des Antisemitismus in der islamischen Welt auseinanderzusetzen, anstatt sich auf postkolonialistische und identitätspolitische Irrwege zu begeben.
Die letzte Woche gab mir vielfach zu denken. Wenngleich wir uns bei Mena-Watch als ein unabhängiges Medium bemühen, wissenschaftlich fundierte und belegte Inhalte darzustellen, kann ich nicht umhin, etwas Persönliches einzubringen.
Die Shoah, Antisemitismus und Judentum waren in meiner Familie etwas, über das kaum gesprochen wurde, aber mein Interesse umso mehr erregten. Als 15-Jähriger stieß ich zufällig auf die handgreiflichen Auseinandersetzungen um den antisemitischen Wiener Professor für Welthandel Taras Borodajkewycz, dessen Anhänger aus den Burschenschaften auf der Straße »Hoch Auschwitz« brüllten.
Ich erzählte dies meinem Vater und brachte ihn dazu, über seine Studienzeit an der Hochschule für Welthandel zu erzählen. Die dortigen nationalistischen Studenten waren gefürchtet, insbesondere, wenn sie von jenen der Hochschule für Bodenkultur Unterstützung bekamen, wo sie noch stärker verankert waren. Ohne Vertrauen auf eine Zukunft in Österreich verließ mein Vater das Land Richtung Schweiz und später nach England.
Die Beschäftigung mit dem Antisemitismus, insbesondere jenem der Burschenschaften, prägten meine folgenden Jahre. Mit der Zeit begann ich zu verstehen, dass Judenhass vielschichtig ist und nicht nur als »rechter«, aus christlicher Polemik mutierter Rassenantisemitismus vorhanden ist.
Ist es wieder so weit?
Vergangenen Freitag war meine Frau im koscheren Supermarkt einkaufen, am Nachmittag hörte ich, dass genau dieses Geschäft von muslimischen Jugendlichen mit den Rufen »Tod den Juden« gestürmt wurde. Ist es wieder soweit wie in den Dreißigerjahren?
Warum, so frage ich mich, ignorieren viele unserer alten politischen Freunde islamischen Antisemitismus? Ist mit dem vielbeschworenen »Nie wieder« Schluss, wenn gegen muslimischen Judenhass eingetreten werden müsste?
Eine Erklärung mag sein, dass die populistische Rechte pauschal Muslime angreift, woraufhin Linke die Angegriffenen ebenso undifferenziert in Schutz nehmen. Auch mag eine Rolle spielen, dass die in Schutz Genommenen als Bündnispartner und potenzielle Wähler gesehen werden. Dinge, die bei Nichtmuslimen als reaktionär, klerikal und fundamentalistisch gelten, werden dann als quasi kulturelle Eigenart akzeptiert. Von Religionskritik, historisch eine der wichtigsten Wurzeln linker Theorien, will man im Zusammenhang mit dem Islam oft nichts mehr wissen.
Der Islam als jüngste der sogenannten Offenbarungsreligionen übernahm sowohl die biblische Geschichte der Juden als auch Teile des Neuen Testaments. Die frühen Abschnitte des Korans, die sogenannten mekkanischen Suren, waren nicht antijüdisch, ja, an einer Stelle geradezu zionistisch, an der es heißt:
»Und als Musa (Moses) zu seinem Volk sagte: ›Oh mein Volk, gedenkt der Gunst Allahs an euch, als Er unter euch Propheten einsetzte und euch zu Königen machte und euch gab, was Er niemandem (anderen) der Weltenbewohner gegeben hat. Oh mein Volk, tretet in das geheiligte Land ein, das Allah für euch bestimmt hat, und kehrt nicht den Rücken, denn dann werdet ihr als Verlierer zurückkehren.‹« (Sure 5/20–21)
Nach seiner Flucht aus Mekka gelangte der Prophet nach Medina, einer Stadt mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Als die Juden sich ihm nicht anschlossen, bekämpfte er sie. Aus dieser Periode in Medina stammen der Überlieferung zufolge die späteren Koransuren, in denen sich zahlreiche negative Aussagen über Juden finden: Sie seien von Allah verflucht worden (Sure 4/46), Söhne von Affen und Schweinen (Suren 2/65–66, 5/60–61, 7/166–167) und die schlimmsten Feinde der Gläubigen (Sure 5/82). An die Gläubigen ergeht die Aufforderung: »Kämpfet gegen jene, bis sie erniedrigt sind und den Tribut errichten.« (Sure 9/29–30).
Den Auslegungsprinzipien zufolge ist im Koran jüngeren Aussagen gegenüber älteren der Vorrang einzuräumen, die judenfeindlichen Passagen ersetzen (›abrogieren‹) damit diejenigen, die sich freundlicher über Juden äußern.
Gegen die Kritikfeindschaft
Die judenfeindliche Polemik des Korans bildete die Grundlage für die jahrhundertelange systematische Diskriminierung der Juden in der islamischen Welt und verband sich später mit dem in den Nahen Osten exportierten europäischen antisemitischen Gedankengut christlicher und nationalsozialistischer Provenienz. Den vorläufigen Schlusspunkt dieser judenfeindlichen Geschichte bildeten die in Politik und Medien vielfach ignorierte Flucht bzw. Vertreibung der orientalischen Juden, die größtenteils in Israel Zuflucht fanden.
Gerade Linke sollten den Mut haben, sich religionskritisch auch mit den historischen Wurzeln des Antisemitismus in der islamischen Welt auseinanderzusetzen, anstatt sich auf postkolonialistische und identitätspolitische Irrwege zu begeben, in denen für persönliche Freiheit und universelle Menschenrechte kein Platz ist.
Das Handeln meines Vaters gibt mir zu denken. Wenn das eine Gefühl sagt, man sollte gehen, sollte man ihm nachgeben? Oder wäre das eine bequeme Ausrede und sollte man nicht vielmehr dem anderen Gefühl folgen, das sagt, wenn wir gehen, haben die neuen Nationalsozialisten gewonnen?