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Antisemitismus ist keine Kritik

Für die Gastautorin der Frankfurter Rundschau würde das vermutlich auch nur etwas einseitige Form von »Kritik«, für die man »Verständnis aufbringen« müsse. (© imago images/NurPhoto)
Für die Gastautorin der Frankfurter Rundschau würde das vermutlich auch nur etwas einseitige Form von »Kritik«, für die man  »Verständnis aufbringen« müsse. (© imago images/NurPhoto)

Buchstäblich niemand will Palästinensern die Kritik an israelischer Politik verbieten. Antisemitismus ist aber etwas anderes als Kritik.

Der Duden definiert »Kritik« folgendermaßen: »[fachmännisch] prüfende Beurteilung und deren Äußerung in entsprechenden Worten«. Dann gibt es noch ein paar Unterdefinitionen. Eine bezieht sich auf »frühere sozialistische Staaten«, die andere führt aus, das Wort »kritisieren« könne in gewissen Fällen auch ein Ersatz für »bemängeln« oder »beanstanden« sein.

Seit die Menschenrechtsorganisation Amnesty International einen Report veröffentlicht hat, in dem Israel unter anderem vorgeworfen wird, es betreibe gegenüber der palästinensischen Bevölkerung Apartheid, fragt eine Fülle prominenter Stimmen, ob die Leute von der Londoner Niederlassung von Amnesty, die den Bericht publiziert haben, noch alle Tassen im Schrank haben. Unterdessen liest man von anderer Seite, von denjenigen, die das Machwerk irgendwie verteidigen, immer wieder das abgeschmackte Argument, man könne oder solle doch niemandem verbieten, Israel zu kritisieren.

Das wirft als Erstes die Frage auf, wer genau es denn sein soll, der Kritik an Israel zu verbieten versuche? Und selbst wenn es solche Leute geben sollte – mir wären keine bekannt –, was soll hier »verboten« werden? Handelt es sich in diesen Fällen um »fachmännisch prüfende Beurteilungen« israelischer Politik?

Vermutlich kaum, denn wer die einschlägigen Debatten verfolgt und einen Begriff von Kritik hat, weiß leider nur allzu gut: Bei Einlassungen, die mit »Man darf Kritik an Israel doch nicht verbieten« beginnen, handelt es sich in neunundneunzig von hundert Fällen bei der verteidigten »Kritik« nicht um sachlich gebotene »Beanstandungen«, sondern um meist nicht sehr gelungene Versuche der Versprachlichung von Hass und Ressentiments.

Die Stimme »der« Palästinenser

Wie das in der Praxis aussieht, demonstrierte jüngst Saba-Nur Cheema in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau. Vorgestellt wurde sie als Politologin, die in der Bildungsstätte Anne Frank arbeitet und »Mitglied im Expertenkreis der Bundesregierung zu Muslimfeindlichkeit« ist. Von der Mitarbeiterin einer solch renommierten Bildungsstätte, benannt immerhin nach einem der bekanntesten Opfer des eliminatorischen Antisemitismus des Dritten Reichs, sollte man eine gewisse Sensibilität im Hinblick auf die heiklen Fragen erwarten können, mit denen sie sich in ihrem Beitrag auseinandersetzen will.

Cheema beklagt, dass in der Debatte um den Bericht von Amnesty International niemandem auffalle, dass eine »zentrale Perspektive« fehle: nämlich »die der Palästinenser selbst«. Folgendes gibt Cheema zu bedenken:

»Natürlich ist die palästinensische Perspektive kein Freischein für Antisemitismus. Doch auch wenn darüber heftig debattiert wird, ist es wichtig, palästinensische Kritik an israelischer Politik zuzulassen. Zugegeben, es fällt mir nicht immer leicht, offen zu bleiben, wenn Palästinenser einseitige Positionen gegen Israel vertreten. Aber wie kann man umgekehrt erwarten, dass sie eine ausgeglichene Position haben? Nach über fünfzig Jahren, in denen die Situation in besetzten Gebieten immer hoffnungsloser wird, kann man zumindest Verständnis aufbringen, wenn sie nicht immer besonnen und diplomatisch argumentieren.«

Was bitte ist ein »Freischein für Antisemitismus«? Wer sollte einen solchen vergeben können? An wen? Wieso ist das »natürlich«? Und welche ist die vermisste »palästinensische Perspektive«? Die der Hamas? Die der Fatah? Die eines Ladenbesitzers in der Altstadt von Jerusalem? Die einer Bewohnerin von Gaza, die unter der grausamen Herrschaft der Hamas leidet? Die eines Palästinensers, der am Golf arbeitet und dort viel Geld verdient? Die eines Palästinensers, dessen Familie in dritter Generation in den USA lebt und der an der Columbia University in New York Middle Eastern Studies lehrt?

Cheemas Version von »Man darf doch nicht Kritik an Israel verbieten« lautet jedenfalls, palästinensische Kritik an israelischer Politik müsse »zugelassen« werden. Nicht etwa Kritik, wie sie von einzelnen Palästinenserinnen und Palästinensern formuliert wird, nein, es geht ihr um »die« palästinensische Kritik, die, so wird suggeriert, irgendwie eine besondere Authentizität beanspruchen könne.

Offen bleiben, Verständnis zeigen

Die Autorin, selbstreflektiert wie sie sich gibt, will »offen« bleiben gegenüber »einseitigen« Positionen. Warum, so fragt man sich, sollten Palästinenser nicht einseitige Positionen vertreten dürfen? Das ist ihr gutes Recht, und mir fällt niemand ein, der ihnen das verbieten wollen würde, ganz abgesehen davon, dass mir einigermaßen schleierhaft ist, was denn eine »ausgeglichene Position« sein soll. Jedenfalls ist eine einseitige Haltung ja nicht an sich ein Problem – solange das »gegen Israel«, das Cheema anführt, nicht eben dezidiert antisemitisch ist und beispielsweise zur Vernichtung Israels aufruft.

Cheema will »Verständnis aufbringen«, wenn die Palästinenser in ihrer Hoffnungslosigkeit »nicht immer besonnen und diplomatisch argumentieren«. Längst ist von Kritik nicht mehr die Rede: Kritik, die diese Bezeichnung verdient, hat einen Begriff von Wahrheit und sollte sich anhand von Tatsachen ein Urteil bilden. Wer solche Kritik nicht zulassen oder verbieten will, handelt autokratisch. Aber offenbar hat Cheema insgeheim längst das Thema gewechselt, geht es doch gar nicht mehr um die Auseinandersetzung mit Kritik, sondern darum, Verständnis zu heischen, wenn irgendwelche Leute, die meist auch ganz selbstmandatiert im Namen »der« Palästinenser sprechen, sich antisemitischer Inhalte bedienen.

Wenn Palästinenser im Westjordanland gegen Checkpoints und mit ihnen einhergehende lange Warteschlangen und Kontrollen protestieren, ist das nur zu gut nachvollziehbar – buchstäblich niemand, und erst recht niemand in der deutschen Politik oder auf den Debattenseiten deutscher Tageszeitungen, wird ihnen das »verbieten« wollen. Wenn sie das aber tun, indem sie die Sicherheitskontrollen als perfiden Bestandteil des seit den Tagen des Propheten andauernden Kampfes der Juden gegen den Islam bezeichnen und darüber klagen, dass die Zionisten die Medien, die USA, die Vereinten Nationen und eigentlich die ganze Welt kontrollieren, ist das keine Kritik, sondern antisemitischer Müll.

Bitte, sagt uns die Mitarbeiterin der Bildungsstätte Anne Frank, dafür müsst ihr Verständnis aufbringen, weil die Palästinenser ja solange schon gelitten haben. Nun, auch andere Menschen haben gelitten, viele sogar, in vielen Teilen dieser Welt, und oft weit mehr als die Bewohnerinnen und Bewohner der Westbank und des Gazastreifens. Müsste man deswegen auch Verständnis aufbringen, wenn etwa muslimische Menschen in Kaschmir die Vernichtung Indiens herbeisehnen? Eine Frage, die rein rhetorischer Natur ist: Auch anderswo gibt es Hass und Wut – nur werden diese nicht in eine offizielle Politik verpackt, die auf die völlige Vernichtung des anderen zielt, wie dies etwa die antisemitisch durchtränkte Charta der Hamas fordert.

Herablassender Paternalismus

Kritik setzt ein Subjekt voraus, das einigermaßen selbstkontrolliert ist und sich seiner Vernunft bedienen kann. Wer Verständnis für inakzeptable Äußerungen fordert, weil sie doch bloß »nicht besonders besonnen« wären, verhält sich zu den Betroffenen wie ein Erzieher zu unmündigen Kindern, deren ungehöriges Verhalten er zu entschuldigen versucht: »Der Kleine hat das nicht so gemeint, er ist halt gerade wütend und hat sich nicht unter Kontrolle.«

Von dieser höchst herablassenden Art der Wertschätzung haben Palästinenserinnen und Palästinenser in den letzten Jahrzehnten wahrlich schon genug abbekommen – und geholfen hat sie ihnen wenig. Saba-Nur Cheema beschwert sich, man ließe in der Debatte keine palästinensischen Stimmen zu Wort kommen. In Wahrheit wiederholt sie einen Paternalismus, der die Palästinenser nicht für voll nimmt und entmündigt.

Kurzum: Palästinenserinnen und Palästinensern wird hier nur ein weiterer Bärendienst geleistet, wobei Cheema genau das tut, was sie bestreitet: Indem sie den Unterschied zwischen Kritik und Antisemitismus einebnet, rationalisiert sie Judenhass als Form ganz besonderer Betroffenheit.

Neu oder originell ist daran nichts; wer die Debatten der vergangenen Jahrzehnte verfolgt hat, hat schon unzählige solcher Beiträge gelesen. Unbeantwortet bleibt nur die Frage, warum nun ausgerechnet die Bildungsstätte Anne Frank meint, in diesen ohnehin schon furchtbar genug klingenden Chor einstimmen zu müssen.

Diese Frage stellt sich insbesondere in Zeiten, in denen die Lage vor Ort sich rasant und recht grundlegend ändert. Wer hätte etwa vor einem Jahrzehnt geglaubt, dass der Vorsitzende einer der Muslimbrüder nahestehenden Partei, nämlich Mansur Abbas von der an der israelischen Regierung beteiligten arabisch-israelischen Ra’am-Partei, öffentlich dem Amnesty-International-Bericht widerspricht, den Vorwurf der Apartheid zurückweist und kritisiert, dass derartige Etikettierungen nichts zur Lösung der realen Probleme beitragen?

Um reale Probleme und deren Lösung geht es allerdings denen gar nicht, für die im Vordergrund steht, den x-ten Versuch zu unternehmen, zu verteidigen, was schlechterdings nicht zu verteidigen ist.

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