Antisemitismus in Deutschland – nicht nur eine Frage der Kriminalstatistik

Von Alex Feuerherdt

Die ARD-Produktion Der Antisemitismus-Report ist um Längen besser als die öffentlich-rechtlichen Dokumentationen, die unlängst zu dieser Thematik ausgestrahlt worden sind. Nicht zuletzt deshalb, weil er den israelbezogenen Antisemitismus deutlich als dominierende Spielart des Hasses gegen Juden benennt. Schwerer tut er sich dagegen beim Umgang mit dem Antisemitismus von Muslimen.

Antisemitismus in Deutschland – nicht nur eine Frage der KriminalstatistikDas jüdische Restaurant in Chemnitz, das von Neonazis überfallen und dessen Eigentümer verletzt wird. Die jüdische Familie, deren junger Sohn berichtet, dass er den Davidstern an seinem Halskettchen nur unter dem T-Shirt trägt. Der Mann mit Kippa, auf den ein muslimischer Flüchtling mit einem Gürtel einschlägt. Die jungen Sportler der Makkabi-Vereine, die ihre Wettkämpfe teilweise unter Polizeischutz austragen müssen. Die AfD-Politiker, die im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen provozieren. Die BDS-Aktivisten, die zum Boykott des großen Musikfestivals Pop-Kultur aufrufen, weil die israelische Botschaft die Reisekosten einer Künstlerin übernommen hat. Der Al-Quds-Marsch, dessen Teilnehmer in Berlin hasserfüllte Parolen gegen den jüdischen Staat brüllen. Die 40 Prozent der Deutschen, die Verständnis dafür äußern, dass man Juden wegen der Politik Israels ablehnt.

Der Hass gegen Juden in Deutschland hat unterschiedliche Erscheinungsformen und Gesichter, und die knapp 45-minütige Dokumentation von Adrian Oeser mit dem nüchternen Titel Der Antisemitismus-Report, die der Hessische Rundfunk vor wenigen Tagen ausgestrahlt hat, zeigt viele davon. Oeser wirft einen Blick auf und in die verschiedenen Milieus, in denen der Antisemitismus ein Zuhause hat, er spricht mit denjenigen, die immer wieder mit Antisemitismus konfrontiert werden; er lässt Experten wie Samuel Salzborn, Monika Schwarz-Friesel und Andreas Zick zu Wort kommen und präsentiert bedrückende Umfrageergebnisse. Mehr als die Hälfte der Deutschen ist nicht der Ansicht, dass sich der Antisemitismus ausbreitet, wohingegen 78 Prozent der in Deutschland lebenden Juden sagen, dass er stärker wird. In jedem Fall werde er öffentlich deutlich wahrnehmbarer und gewalttätiger, sagt der Antisemitismusforscher Salzborn.

Eine Erklärung, die sich der Film zu eigen macht: Die Antisemiten seien zahlenmäßig nicht mehr geworden, aber lauter. Dabei spielt sich der Antisemitismus vielfach unterhalb der Strafbarkeitsgrenze ab, weshalb Kriminalstatistiken seine Dimension längst nicht zu erfassen vermögen. Das ständige Raunen, die unzähligen Andeutungen, die permanenten Belästigungen, die hasserfüllten Blicke, die dummen Witze – all dies beeinträchtigt und belastet das Leben von Juden in Deutschland, ohne dass es sich in offiziellen Zahlen und Daten niederschlägt. Ein jüdisches Mädchen etwa berichtet im Film von einer Mitschülerin, die glaubte, Juden müssten in Deutschland keine Steuern zahlen. Auf Schulhöfen wird „Jude“ als Schimpfwort verwendet, Juden sehen sich in die Rolle von Repräsentanten des Staates Israel gedrängt und werden für dessen Politik verantwortlich gemacht. Viele Juden verzichten auf das Zeigen jüdischer Symbole in der Öffentlichkeit, aus Angst vor Drohungen, Beleidigungen und Angriffen.

 

Der Film tut sich schwer mit dem muslimischen Antisemitismus

Antisemitismus in Deutschland – nicht nur eine Frage der Kriminalstatistik
Al-Quds-Demonstration in Berlin

Schwerpunkte legt der Film auf den muslimischen Antisemitismus, den Antisemitismus von Rechtsextremen und den israelbezogenen Antisemitismus. Eine Mehrheit der Juden, die in Deutschland leben, nimmt den Antisemitismus von Muslimen als besonders stark wahr. Er äußere sich vor allem in Beleidigungen und Belästigungen, seltener in körperlichen Angriffen. Der Offenbacher Rabbiner Mendel Gurewitz sagt, seit zwanzig Jahren hätten antisemitische Taten ganz überwiegend einen islamischen Hintergrund. Der Film tut sich schwer mit diesem Befund, man merkt ihm die Furcht davor an, in das falsche politische Fahrwasser zu geraten. Zwar hält er fest, dass der Antisemitismus unter Muslimen weit verbreitet ist, doch seien antisemitisch motivierte Taten in der Kriminalstatistik kaum sichtbar, es handle sich lediglich um Einzelfälle. Nachdem zuvor deutlich gemacht worden ist, dass diese Statistik nur einen begrenzten Aussagewert hat, nimmt der Film diese Erkenntnis nun teilweise wieder zurück. Das ist bedauerlich und falsch.

Zur Sprache kommt auch nicht, dass es bei den offiziellen Zahlen ein Kategorisierungsproblem gibt: Vorfälle mit einem NS-Bezug werden statistisch fast immer dem Bereich Rechtsextremismus zugeordnet, selbst Hitlergrüße von Hisbollah-Anhängern auf der islamistischen Al-Quds-Demonstration in Berlin. Dadurch entsteht zwangsläufig ein schiefes Bild. Dafür bemüht sich der Film, Ansätze aufzuzeigen, wie dem islamischen Hass gegen Juden beizukommen ist: Adrian Oeser und sein Team lassen den arabisch-israelischen Psychologen Ahmad Mansour zu Wort kommen, der den Antisemitismus unter jungen Muslimen bekämpft, und sie begleiten junge muslimische Migranten beim Besuch der Synagoge in Offenbach, denen anzumerken ist, wie sehr sie diese Erfahrung ins Nachdenken bringt.

 

Israelbezogener Antisemitismus als dominierende Spielart

Mit der Kritik des rechten und rechtsextremistischen Antisemitismus tut sich der Antisemitismus-Report leichter. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, konstatiert eine Verschiebung roter Linien, ein Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte in Sachsenhausen berichtet vom provokativen Auftritt einer AfD-Delegation im Rahmen einer Führung. Die Aussage von Alice Weidel, die AfD sei „die einzige Schutzmacht für jüdisches Leben in Deutschland“, wird kontrastiert mit einem Umfrageergebnis, nach dem 55 Prozent der AfD-Anhänger der Ansicht sind, dass Juden auf der Welt zu viel Einfluss haben, während der Wert bei anderen Parteien bei 16 bis 20 Prozent liegt. „Unter Rechtsextremisten ist der Antisemitismus besonders ausgeprägt, durch die AfD wird er auch in bürgerlichen Kreisen lauter“, resümiert der Film. Undenkbares werde sagbar, Hemmungen fielen zunehmend.

Antisemitismus in Deutschland – nicht nur eine Frage der Kriminalstatistik
Stand der BDS-Kampagne am 9. November 2018 in Berlin/Potsdamer Platz (Quelle: JFDA e.V.)

Eine Stärke des Films ist, dass er sich auch dem israelbezogenen Antisemitismus widmet. Während fast drei Viertel der Deutschen meinen, Kritik an Israel sei nicht oder allenfalls gelegentlich antisemitisch, hält die Sprachwissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel fest, dass der israelbezogene Antisemitismus mittlerweile die dominierende Erscheinungsform des Hasses gegen Juden ist. Samuel Salzborn bezeichnet ihn als „Bindeglied und Bindeideologie“ zwischen verschiedenen politischen Strömungen.

Der Film thematisiert die üblen Boykottaktivitäten der BDS-Bewegung und problematisiert die Forderung von linken „Israelkritikern“ nach einem Recht für sämtliche Nachkommen der palästinensischen Flüchtlinge von 1948/49, nach Israel „zurückzukehren“ und auf diese Weise das Ende Israels als jüdischer Staat herbeizuführen. In Deutschland lebende Juden würden für Israel haftbar gemacht, und der Antisemitismus komme vor allem im Gewand der Kritik an Israel daher, konstatiert der Film, dem es allerdings gut getan hätte, wenn er den projektiven Gehalt der „Israelkritik“ deutlicher herausgearbeitet hätte. Sie hat genauso wenig etwas mit konkreten Handlungen des jüdischen Staates zu tun wie der klassische und der sekundäre Antisemitismus etwas mit dem realen Verhalten von Juden.

Dennoch hebt sich der Antisemitismus-Report positiv von anderen öffentlich-rechtlichen Dokumentationen zu dieser Thematik ab, wie sie unlängst gezeigt wurden. Er macht deutlich, wie virulent der Hass gegen Juden in Deutschland weiterhin ist, dass er längst nicht nur ganz rechts vorkommt, wie seine Spielarten aussehen, wie er sich äußert und welche ungeheuerlichen Auswirkungen auf das jüdische Leben hat. Noch dächten die meisten Juden nicht über eine Auswanderung nach, aber sicher lebten sie in Deutschland auch nicht, bilanziert der Film am Schluss. Das ist ein so berechtigter wie alarmierender Befund – zumal sich immer wieder zeigt, welche lagerübergreifende gesellschaftliche Bindungskraft der Antisemitismus zu entfalten vermag.

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