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Antisemitische Verschwörungstheorie gegen Polio-Impfung in Gaza

Polio-Impfung in Khan Yunis im Gazastreifen
Polio-Impfung in Khan Yunis im Gazastreifen (© Imago Images / NurPhoto)

Eine antisemitische Verschwörungstheorie gefährdet den Erfolg der Impfkampagne gegen Polio im Gazastreifen und damit die Gesundheit unzähliger Menschen.

In die Welt gesetzt wurde das Gerücht von Bisan Owda, einer bekannten Videobloggerin, die dieses Jahr trotz ihrer belegten Verbindungen zur Terrororganisation PFLP für einen Emmy Award nominiert wurde.

Die Polio-Impfung gilt als eine der wichtigsten und erfolgreichsten Impfkampagnen der Geschichte. Sie hat die Zahl der Poliofälle um 99,9 Prozent verringert und schätzungsweise zwanzig Millionen Fälle von Kinderlähmung verhindert. Die Krankheit trifft nicht nur Kinder ­– den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt traf die Krankheit erst im Alter von 39 Jahren.

Der Hintergrund des aktuellen Polio-Ausbruchs im Gazastreifen wird nun untersucht. Es gibt drei Typen natürlich vorkommender oder Wild-Polioviren (WPV). Typ 1 kommt nur in Afghanistan und Pakistan vor. Typ 2 wurde zuletzt 1999 gemeldet und im September 2015 für ausgerottet erklärt. Typ 3 wurde im Oktober 2019 ausgerottet. Verhängnisvollerweise wurde der Impfstoff im Jahr 2016 geändert, weil man WPV 2 für ausgerottet hielt. Aus einem aktuellen Artikel der New York Times:

»Vor 2016 enthielt der Schluckimpfstoff lebende, aber abgeschwächte Viren aller drei Typen, die den Körper zu einer breiten Immunreaktion anregen sollten. Kinder, die den oralen Impfstoff erhielten, schieden die abgeschwächten Viren mit dem Stuhl aus, was zu erwarten war. Aber als einige dieser aus dem Impfstoff stammenden Typ-2-Viren unter Gruppen von Kindern zirkulierten, die nicht geimpft worden waren, verwandelten sich die Erreger gelegentlich langsam in eine Form, die Lähmungen verursachte.

Die Wahrscheinlichkeit war sehr gering: Eine durch den Impfstoff verursachte Lähmung tritt etwa einmal bei 2,7 Millionen verabreichten Dosen auf. Aufgrund dieser seltenen Möglichkeit hat die Global Polio Eradication Initiative – eine Partnerschaft mehrerer Gruppen, darunter die Weltgesundheitsorganisation, Rotary International und die Bill & Melinda Gates Foundation – dennoch beschlossen, das Typ-2-Virus aus dem Impfstoff zu entfernen, nachdem das Wildtyp-Virus ausgerottet worden war.«

Doch die Erfolgsmeldung über die Ausrottung von WPV 2 war verfrüht, denn es kehrte zurück: »Das Virus entstand höchstwahrscheinlich in Nigeria und gelangte nach Tschad, wo es genetischen Analysen zufolge 2019 erstmals nachgewiesen wurde. 2020 tauchte es im Sudan auf und fand dann in Ägypten Fuß, in ungeimpften Gegenden in Luxor und Nord-Sinai – direkt neben Gaza.« Aufgrund der genetischen Veränderungen, die das Virus durchlaufen hat, nehmen Wissenschaftler an, dass Polio schon im September 2023 in den Gazastreifen kam, ohne aber zu einem symptomatischen Krankheitsausbruch zu führen.

Trau keinem Israeli

In die erfolgreich verlaufende Impfkampagne von WHO und UNICEF platzt nun Bisan Owda mit ihren 4,7 Millionen Followern auf Instagram. In einem auf dem Beifahrersitz eines Autos aufgenommenen Video warnt sie Eltern im Gazastreifen davor, ihren Kinder die Schluckimpfung verabreichen zu lassen. Der Anlass ihrer Warnung ist eine E-Mail, die sie erhalten habe, jedoch »anonym, ich weiß nicht, wer dieser Typ ist«. Unverlangt zugesandte anonyme Mitteilungen sind für sie offenbar eine wichtige Nachrichtenquelle. Den Text blendete sie auf Englisch als Screenshot ein:

»Hi Bisan, bitte warne so viele Menschen wie du kannst. Jemand, der euch alle tot sehen will, wird niemals ein Virus davon abhalten, die schmutzige Arbeit für ihn zu machen. LASS NICHT KINDER DEN IMPFSTOFF NEHMEN. Man weiß, dass es schlecht ist, wenn Israel beim Töten von Zivilisten einen Tag Pause machen will, um einen ›Impfstoff‹ zu geben, der Zivilisten, die es töten will, vor Seuchen schützen soll.«

Diese Nachricht habe sie veranlasst, »viele Fragen zu stellen«. Nun will sie die Öffentlichkeit von ihren Reflexionen profitieren lassen: Die »kriminelle«, »genozidale« »Besatzungsarmee« Israels habe im Gazastreifen angeblich »17.000 Kinder getötet« und lasse andere »an Unterernährung sterben«. Dann fragt sie: »Und jetzt kümmern sie sich um den Impfstoff, den Polio-Virus-Impfstoff. Warum?«

Die anonyme E-Mail habe ihr »die Augen geöffnet«: »Wer waren die ersten Leute, die über das Poliovirus im Gazastreifen gesprochen haben?« Hier blendete Owda einen arabischer Text mit englischer Übersetzung ein. Demnach sei das Polio-Virus »absichtlich« in den Gazastreifen gebracht worden.

Anschließend dozierte sie, dass »Kolonisatoren« in der Geschichte oft Impfstoffe »missbraucht« hätten, um »andere Dinge zu tun«. Beispiele nennt sie keine. Die Logik aber ist klar:

  1. »Kolonisatoren haben in der Geschichte Impfkampagnen für böse Absichten missbraucht.«
  2. »Israel ist ein Kolonisator.«
  3. »Also dient die Polio-Impfkampagne bösen Absichten.«

Wen das noch nicht überzeugt, an den appelliert Owda, ihrem eigenen Beispiel zu folgen: Sie habe »kein Vertrauen« zu wem auch immer – nicht zu humanitären Institutionen und schon gar nicht zur »Besatzung«. Sie vertraue nur »dem Gedächtnis meines Volkes und meinem Gedächtnis«. »Ich erinnere mich genau, was die israelische Besatzung unseren Kindern angetan hat. Die israelische Armee hat absichtlich eine ganze Generation getötet. … Wie kann ich diesen Leuten vertrauen?« Israel geriere sich als »humanitärer Engel«, in Wahrheit töte es Kinder.

Scharfe Kritik

Bisan Owda politisiert die Impfkampagne und macht sie zu einer pervertierten Gewissensentscheidung nach dem Motto: Wer gegen Israel ist, lässt seine Kinder nicht impfen. Oder im Umkehrschluss: Wer seine Kinder impfen lässt, kollaboriert mit dem Feind. Das sagt die Bloggerin nicht ausdrücklich, sondern behauptet sogar noch, lediglich »Fragen« zu stellen und niemandem sagen zu wollen, welche Entscheidung er treffen solle. Doch der Appell gegen das Impfen ist nicht sehr subtil.

Entsprechend groß ist der Zorn unter jenen, die die Bedrohung durch Polio zu Recht so ernst nehmen, dass sie dieses Thema – ausnahmsweise – nicht zu einem weiteren Vehikel der Propaganda gegen Israel machen wollen. Darunter sind Menschen, die sich sonst auf derselben Seite befinden wie Owda wie etwa Hind Khoudary, die wir an dieser Stelle einmal die »Hamas-Journalistin der New York Times« genannt haben. Sie schreibt in den sozialen Medien:

»Wir haben wochenlang unermüdlich an der Polio-Impfkampagne gearbeitet und uns dabei besonders darauf konzentriert, das Bewusstsein der Eltern für die Wichtigkeit der Impfung ihrer Kinder zu schärfen. Jetzt hat eine Filmemacherin mit Millionen von Followern ein Video veröffentlicht, in dem sie Eltern auffordert, ihre Kinder nicht impfen zu lassen. Damit verbreitet sie Verschwörungstheorien und untergräbt alles, wofür wir gearbeitet haben. Unzählige Menschen bei UNICEF, der WHO und dem Gesundheitsministerium [der Hamas; Anm. Mena-Watch] haben ihren Schlaf geopfert und rund um die Uhr an dieser Kampagne gearbeitet. Diese Art von Fehlinformation droht all diese harte Arbeit zunichte zu machen.«

Nour Alsaqa, Videobloggerin aus Gaza, fragt, ob es nötig sei, dass die WHO und UNICEF Bisan Owda »bezahlen, um Werbung für den Impfstoff zu machen«. Die sarkastische Frage impliziert, dass Owda mit ihren Gaza-Videoreportagen in den sozialen Medien (»It’s Bisan from Gaza«) nach Einschätzung der Fragestellerin gutes Geld verdient. Weiters fragt sie: »Warum auf Englisch, wenn die Bevölkerung in Gaza Arabisch spricht? Will sie wirklich die Menschen vor dem angeblich so gefährlichen Impfstoff warnen oder lediglich Beachtung im Internet finden?« Alsaqa fordert: »Miss Kontroverse, such dir ein Thema, das nicht kleine Kinder lähmt.«

»Jedes Kind, das nicht geimpft wird und aufgrund ihres Videos Polio entwickelt, liegt in Ihrer Verantwortung« sagt auch Sara Al-Saqqa, eine von der israelischen Tageszeitung Haaretz zitierte Chirurgin in Gaza. Bisan Owda aber zählt weiterhin zu den fünf Emmy-Anwärtern in der Kategorie »Herausragende Hard-News-Feature-Story: Kurze Form« und wurde zudem gerade für den Friedensnobelpreis nominiert.

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