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Antisemitische Geiselnahmen und Entführungen (Teil 3)

Das Chabadhaus in Mumbai wurde 2008 Ziel einer antisemitischen Geiselnahme
Das Chabadhaus in Mumbai wurde 2008 Ziel einer antisemitischen Geiselnahme (© Imago Images / ZUMA Press)

Was wollen die antisemtisch motivierten Geiselnehmer? Was treibt sie an, Juden gefangen nehmen und töten zu wollen, bevor sie selbst als »Märtyrer« sterben?

Der erste Teil und der zweite Teil der heute ihren Abschluss findenden Reihe befasste sich mit den Flugzeugentführungen der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) und dem Angriff auf das israelische Olympia-Team in München durch Jassir Arafats Fatah/Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) oder der durch palästinensische und deutsche Geiselnehmer durchgeführten Selektion in Juden und Nichtjuden im ugandischen Entebbe.

Doch was wollen die antisemtisch motivierten Geiselnehmer? Was treibt sie an und was sind ihre Ziele, wenn sie davon träumen, Juden gefangen zu nehmen und so viele wie möglich zu töten, bevor sie selbst zur »Bombe« werden und als »Märtyrer« sterben?

2006: Die Entführung von Gilad Shalit

Am Sonntag, den 25. Juni 2006, beschießen Terroristen der Hamas und der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) das Gebiet zwischen den Grenzübergängen Kerem Shalom und Sufa mit Mörsergranaten und Panzerabwehrwaffen. Im Schutz des Granatenfeuers gelangen die Terroristen durch einen zuvor gegrabenen Tunnel nach Israel und greifen aus dem Hinterhalt eine Gruppe israelischer Soldaten an.

Sie töten die beiden 20-Jährigen Hanan Barak und Pavel Slutzker und verletzen fünf weitere Soldaten. Einen der Verletzten, den 19-jährigen Gilad Shalit, entführen sie durch den Tunnel in den Gazastreifen. Dort halten sie Gilad Shalit fünf Jahre und vier Monate in Isolation als Geisel, um die israelische Regierung zu erpressen und so zahlreiche verurteilte Terroristen aus israelischer Haft freizupressen.

2008: Geiselnahme und Mord in Mumbai

Eines der Ziele – vielleicht sogar das Hauptziel – bei den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 ist das Nariman House, ein Chabadhaus mit zahlreichen religiösen, karitativen und Bildungsangeboten, das von Reisenden aus aller Welt besucht wird, betrieben von den Besitzern Rabbi Gavriel Holtzberg und seiner zu diesem Zeitpunkt schwangeren Frau Rivka.

Zwei Terroristen der pakistanischen Terrorgruppe Lashkar-e Taiba stürmen das Gebäude und nehmen die Anwesenden als Geiseln. Schon vor der Befreiung durch die indische Polizei, bei der zahlreiche Menschen getötet werden, ermorden sie mehrere Juden, unter ihnen Gavriel Holtzberg.

Gavriels und Rivkas zweijähriger Sohn Mosche wird von seiner Kinderfrau Sandra Samuel und dem Koch, Qazi Zakir Hussain, gerettet. Hussain erinnert sich später: »Ich war gerade dabei, den Esstisch im Erdgeschoss abzuräumen, als die Terroristen hereinstürmten. Es war nach 21 Uhr.«

Die Holtzbergs hätten sich zum Beten in den zweiten Stock zurückgezogen. Samuel und er gingen zuerst hinaus, um die Quelle des Lärms zu inspizieren, suchten aber schnell Schutz, als ein Kugelhagel in ihre Richtung kam. »Wir gingen in einen Nebenraum und schlossen uns für die ganze Nacht und den nächsten Tag ein.«

Hussain sagt, er habe seine letzten Gebete gesprochen und geglaubt, dies seien seine letzten Momente. Er rief seinen älteren Bruder an, der in der Nähe arbeitete, um ihn zu informieren. »Ich erinnere mich an das Geräusch von Kugeln, von Granaten. Wir konnten die Bewegungen der Terroristen hören.«

Einen ganzen Tag später hörten Hussain, damals 21, und Samuel, damals 44, das Kleinkind Moshe vom Stockwerk darüber weinen. Als sie lautlos den zweiten Stock erreichten, saß Moshe mit blutgetränkter Hose zwischen seinen toten Eltern. »Die Tür zum Zimmer war von einer Granate gesprengt worden. An der Wand waren Einschusslöcher«, erinnert sich Hussain. »Wir haben beschlossen, das Gebäude zu verlassen. Die Polizei wartete auf der Straße.«

Neben dem Ehepaar Holtzberg werden Bentzion Kruman, Rabbi Leibish Teitelbaum, Yoheved Orpaz und Norma Shvarzblat Rabinovich getötet.

2014: Entführung von drei israelischen Teenagern

Am 12. Juni 2014 werden die drei israelischen Schüler Naftali Frenkel (16), Gilad Shaer (16) und Eyal Yifrach (19) von Terroristen der Hamas entführt, als sie per Anhalter von der Schule in der Siedlung Allon Schewut im Bezirk Gush Etzion nach Hause fahren wollen.

Gilad Shaer ruft eine Notrufnummer der Polizei an, um die Entführung zu melden. Die Aufzeichnung des Notrufs, zunächst unter Verschluss, dringt an die Öffentlichkeit. Nach der geflüsterten Nachricht von Gilad Shaer: »Sie haben mich entführt«, sind in dem aufgezeichneten Anruf auch arabische Schreie der Entführern und mehrere Salven automatischer Schüsse zu hören. Am 30. Juni werden die Leichen der Teenager gefunden.

Die Fatah und Zeitungen der Palästinensischen Autonomiebehörde feiern die Entführung. Auf der Facebookseite der Fatah ist eine Karikatur zu sehen, die drei Ratten zeigt, die Davidsterne auf dem Körper tragen und sich in die Köder einer Angel verbissen haben. Im Gazastreifen wird die »großartige Operation« durch öffentliches Verteilen von Süßigkeiten gefeiert. Zudem kommt ein neuer Gruß auf: drei gestreckte Finger als Symbol für die drei entführten jüdischen Teenager.

2015: Geiselnahme und Mord im Pariser Hypercacher

Am 9. Januar 2015 nimmt Amedy Coulibaly Geiseln im koscheren Hypercacher-Supermarkt in Porte de Vincennes mehrere Geiseln. Coulibaly hatte dem dem Islamischen Staat (IS) die Gefolgschaft geschworen und war ein enger Freund der Brüder Saïd Kouachi und Chérif Kouachi, die zwei Tage zuvor das Massaker in der Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo verübt hatten, nun auf der Flucht und von der Polizei eingekreist sind.

Bewaffnet mit einer Maschinenpistole, einem Sturmgewehr und zwei Pistolen betritt er den Supermarkt für koschere Lebensmittel und schießt. Coulibaly ermordet vier jüdische Kunden und hält fünfzehn Geiseln während einer Belagerung fest, bei der er fordert, dass den Kouachi-Brüdern kein Schaden zugefügt werde. Die Polizei beendet die Belagerung, indem sie das Geschäft stürmt und Coulibaly tötet.

Am Tag zuvor hatte Coulibaly die Polizistin Clarissa Jean-Philippe erschossen und ihren Kollegen schwer verletzt. Man nimmt an, dass das ursprüngliche Ziel nicht der Supermarkt war, sondern eine jüdische Schule.

Ein städtischer Angestellter, der vorbeikam, nachdem Coulibaly die Polizistin erschossen hatte, sagte vor Gericht als Zeuge aus, dass er nach dem Sturmgewehr gegriffen und sich ein Handgemenge mit Coulibaly geliefert habe, der dann eine Pistole aus der Tasche zog, die aber wohl klemmte. Dann rannte Coulibaly weg. In der Nähe war eine jüdische Schule.

Als die Konfrontation vorbei war, habe der Unterricht bereits begonnen und die Türen seien verschlossen gewesen, so der Zeuge. »Ich muss seinen Zeitplan durcheinandergebracht haben.« Wenige Tage nach der Tat wurde ein Bild einer Überwachungskamera öffentlich, das Coulibaly vor jener Schule zeigt. Er soll den Wachmann schon im August 2014 gefragt haben, ob es »stimmt, dass in dem Gebäude Juden sind«.

Gefangen im Gazastreifen

Seit Jahren hat die Hamas im Gazastreifen die Zivilisten Avera Mengistu und Hisham al-Sayed in ihrer Gewalt, dazu die Leichen der beiden im Krieg 2014 getöteten IDF-Soldaten Hadar Goldin und Oron Shaul.

Avraham »Avera« Mengistu, geboren 1986, ist ein israelischer Bürger, der am 7. September 2014 zu Fuß die Grenze zum Gazastreifen überquerte. Er wurde von der Hamas festgenommen und verhört und wird seitdem vermisst. Seine Familie gibt an, dass er psychisch instabil sei und in der Vergangenheit in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden sei. Er war mit Medikamenten behandelt worden, die er einige Wochen vor seinem Grenzübertritt abgesetzt habe.

Hisham al-Sayed ist ein Beduine aus dem Negev und wird seit 2015 vermisst, nachdem er ebenfalls zu Fuß die Grenze überquert hatte. Sein Vater wandte sich 2016 öffentlich an die Hamas und sagte, sein Sohn leide an mentalen Problemen und sei kein israelischer Soldat. Für die Hamas aber ist er einfach eine israelische Geisel, die sie irgendwann gegen gefangene Terroristen wie Marwan Barghouti austauschen will.

»Wir lieben den Tod, wie ihr das Leben liebt«

Wer Menschen entführt, sie als Geiseln nimmt, der will in der Regel Forderungen stellen, die erfüllt werden sollen. Insofern handelt es sich bei Entführungen meist um Erpressungen. Was bei vielen der hier zusammengestellten Fälle ins Auge fällt, sind Abweichungen von diesem Muster.

Die Täter von Mumbai und die Mörder von Ofir Rahum hatten nie vor, irgendwelche Forderungen zu stellen. Juden zu entführen und gefangen zu halten, war nur der Schritt vor dem Mord, und dieser war von Anfang an geplant. Das gilt auch für Amedy Coulibaly, der seine Tat zwar in den Zusammenhang mit dem Anschlag auf Charlie Hebdo stellte, einen Anschlag auf Juden aber schon viele Monate vorher geplant hatte.

Es scheint, als seien die »Forderungen« antisemitischer Geiselnehmer in vielen Fällen  – nicht in allen – nur dazu da, mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten, als sie bekämen, wenn sie die jüdischen Opfer einfach sofort töten würden.

Die Fatah hält die Geiselnahme von München auch heute noch für eine »Qualitätsoperation«, obwohl die damalige Forderung nach der Freilassung inhaftierter Terroristen nicht erfüllt wurde. Aber es wurden Juden getötet, darauf kommt es an.

Die Entführer der Achille Lauro hatten zwar weder die angestrebte Terroroperation im Hafen von Aschdod durchführen können noch hatte ihr – offenbar ad hoc als Ersatzplan entworfener – Katalog von Forderungen nach Freilassung von Terroristen etwas gefruchtet; sie waren zufrieden, den im Rollstuhl sitzenden Juden Leon Klinghoffer getötet zu haben.

Das zeigt auch, dass es ein Irrtum ist, dem Terrorismus der PLO politische Ziele anzudichten: Es geht einfach darum, Juden zu töten, eine Tat, die in den Augen der Antisemiten bereits die Belohnung in sich trägt.

Das gilt übrigens selbst dann, wenn tatsächlich Terroristen freigepresst werden wie beim Gefangenenaustausch mit Gilad Shalit oder der Freilassung von Samir Kuntar im Austausch gegen die Leichname von Regev und Goldwasser. Das Kalkül: Mit der Hilfe der freigepressten Terroristen kann man in Zukunft noch mehr Juden töten.

Insofern, als es darum geht, Juden zu töten, erscheinen einige der Geiselnahmen als Fortsetzung des Pogroms mit anderen Mitteln – aber mit einem großen Unterschied: Diejenigen, die sich an einem Mob beteiligen, der ein Pogrom verübt, rechnen sicherlich nicht damit, selbst dabei zu sterben. Schon gar nicht ist das ihre Absicht. Viele der antisemitisch motivierten Geiselnahmen hingegen sind Selbstmordoperationen oder können jederzeit in solche umschlagen.

Das Beispiel von Leila Khaled, die bei ihren beiden Flugzeugentführungen eine entsicherte Handgranate in der Hand hielt, zeigt das sehr gut. 1970 war es ja bloß ein Zufall, dass die Granate nicht zündete und Khaled und die über hundert Passagiere in den Tod riss. Diese Entführung eines Flugzeugs mit 125 unschuldigen Zivilisten nach Damaskus war für sie ein Höhepunkt ihres Lebens. In ihrem Buch schildert sie ihn so:

»Es war eine bedeutende Sekunde in meinem Leben, als ich meine Finger am Abzug hatte und den Feind zwang, meinem Befehl zu gehorchen.«

Khaled träumt in dem Buch gar davon, selbst zu einer »Bombe« zu werden:

»Ich werde Bomben aus den Atomen meines Körpers bauen, und ich werde ein neues Palästina aus dem Stoff meiner Seele weben. Mit meiner ganzen Macht und der Macht meiner Schwestern werden wir unsere Existenz in Bomben verwandeln und das Leben, die Küste, den Berg erlösen.

Wir werden kämpfen und kämpfen (…) Mein Volk wird gestählt durch den Kampf gegen die imperialistischen und zionistischen Feinde.«

Khaled schildert zudem ihre Bewunderung der japanischen Kamikazepiloten im Zweiten Weltkrieg. Khaleds Äußerungen zeigen, worum es vielen der hier vorgestellten Täter geht: Sie wollen Juden töten, aber sie wollen zugleich noch mehr: sich an der eigenen Macht und der Angst ihrer Opfer berauschen und, wenn nötig, in Todesverachtung selbst dabei sterben, ihre »Existenz in Bomben verwandeln«, wie Khaled schreibt.

Die Geiselnahme hat dann nur noch äußerlich etwas mit einer Geiselnahme gemein, wie sie etwa bei einem Banküberfall verübt wird. Letztere ist ein krimineller Akt, um ein zweckrationales Ziel – die Flucht des Täters – zu erreichen.

Juden als Geiseln zu nehmen, ist hingegen ein Akt des Nihilismus: Der Antisemit träumt davon, mit seiner eigenen Existenz zugleich die der Juden auszulöschen. Die Geiselnahme dient dazu, die Tat in die Länge zu ziehen – damit der Täter sie auskosten und die Welt als Zuschauer von Live-Berichterstattungen Anteil daran nehmen lassen kann.

Mohamed Merah hat seine jüdischen Opfer – drei Schüler und einen Lehrer – einfach erschossen, ohne sie vorher als Geiseln zu nehmen. Er kam am 19. März 2012 an der Ozar Hatorah-Schule in Toulouse an, erschoss sofort den 30-jährigen Lehrer und Rabbiner Jonathan Sandler, den fünfjährigen Arié und den dreijährigen Gabriel.

Dann betrat er das Gebäude, rannte der achtjährigen Myriam Monsonego nach, hielt sie an den Haaren fest und wollte sie erschießen. Die Waffe versagte. Er nahm eine Pistole zur Hand und erschoss sie damit aus nächster Nähe. Er handelte im Stil eines Amokläufers. Aber seine Mentalität war die gleiche wie die der Geiselnehmer von München oder die von Dalal Mughrabi.

Den Sinn seines Handelns zeigte er, als er sich das Osama bin-Laden zugeschriebene Zitat zu eigen machte und in einem von ihm initiierten Telefongespräch sagte: »Wir lieben den Tod, wie ihr das Leben liebt.« Wenn Juden als Geiseln genommen werden, geht es immer auch darum, der Welt diese Maxime in der Praxis vor Augen zu führen.

Im hier erschienenen ersten Teil geht es u. a. um die Flugzeugentführerin Leila Khaled von der Terrororganisation PFLP, die zu einer Ikone der Israelboykottbwegung BDS geworden ist. Der hier erschienene zweite Teil hat u. a. die Geiselnahme in Entebbe und die damit einhergehende Selektion der Flugzeugpassagiere in Juden und Nicht-Juden zum Thema.

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