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Antisemitische Demonstration in London: Ein Rührstück der ARD

ARD-Berichterstattung versagte: Antisemitische Demonstration zum Armistice Day in London
ARD-Berichterstattung versagte: Antisemitische Demonstration zum Armistice Day in London (Imago Images / ZUMA Wire)

Zum wiederholten Mal bot die ARD Tagesschau für Legitimationsstrategien des Antisemitismus die in Deutschland größtmögliche Plattform.

Thomas Stern

Die große »pro-palästinensische« Demonstration in London am britischen Armistice Day war, wie bereits im Vorfeld abzusehen gewesen war, geprägt von antisemitischen Plakaten und genozidalen antisemitischen Sprechgesängen. Deutsche Fernsehzuschauer, die an diesem Tag die 20-Uhr-Ausgabe der ARD Tagesschau sahen, erfuhren davon nur »am Rande«.

In einem mehr als anderthalbminütigen Beitrag wurden knapp zehn Sekunden aufgewendet, um darüber zu informieren, dass es »am Rande« der Demonstration (was auch immer das konkret bedeuten soll) den Ruf »From the River to the Sea« gegeben habe, »den viele als Aufruf zur Zerstörung Israels sehen«. Diese Relativierung wurde anscheinend für nötig gehalten, um die gebührende Objektivität zu wahren.

Der Großteil des Beitrags dagegen war eine kaum verbrämte Apologie der Demonstration. Nachdem zunächst der gescheiterte Versuch von (zu diesem Zeitpunkt noch) Innenministerin Suella Braverman, den Marsch zu verbieten, mit einem kurzen Einspieler, bestehend aus einem Satz, in dem sie ihn als »hate march« bezeichnete, angeführt worden war, wurde in breitem Umfang den Teilnehmern der Demonstration eine Plattform gegeben, auf der sie diese Kritik empört von sich weisen und betonen durften, wie friedfertig die Veranstaltung sei und wie fern ihnen Antisemitismus läge.

Gleich vier Originaltöne dieser Art wurden hintereinander abgespielt. Besonders bemerkenswert sind die beiden letzten Beiträge. »Hier sind doch auch Juden, die mit uns marschieren, die gegen diesen Völkermord sind«, äußerte sich ein Demonstrant. Daraufhin meldete sich sogleich ein solcher aus dem Off und wird von diesem begeistert als Bestätigung präsentiert. 

Missbrauch jüdischer Identität

Die Macher des Beitrags scheinen ähnlich begeistert gewesen zu sein, denn dem sich meldenden jüdischen Demonstranten wird jetzt der vierte und letzte O-Ton zur Verfügung gestellt. Die abstruse antisemitische Verleumdung, Israel beginge einen »Völkermord«, wird von ihm wiederholt, »reingewaschen« durch seine Identität. Und er geht mit einer besonders perfiden Argumentation noch einen Schritt weiter, indem er die jüdische Genoziderfahrung als Ausweis seiner Expertise beim Erkennen eines »Völkermords« in Gaza benutzen will: »Wir als Juden wissen, was es heißt, unterdrückt zu werden und was ein Völkermord ist.«

Jüdische Identität wird hier missbraucht, um den antisemitischen Vorwurf zu legitimieren und ihm einen Anschein von Autorität zu verleihen, indem eine Stimme vom absoluten Rand der jüdischen Gemeinde als repräsentativ jüdische verkauft wird. Der Demonstrant bleibt die einzige jüdische Stimme in diesem Beitrag, seine groteske Anmaßung, für die jüdische Erfahrung zu sprechen, bleibt unwidersprochen. Auch sonst findet keinerlei Kontextualisierung der O-Töne statt. 

In einer Cinéma-Vérité-Dokumentation könnte man eine solche Szene so stehen und die Zuschauer ihre eigenen Schlüsse darüber ziehen lassen, wie die Teilnehmer sich hier selbst entlarven. In der Tagesschau, wo alles gleichsam pädagogisch eingeordnet wird, kann sich eine solche Wirkung aber nicht entfalten. 

Bezeichnend auch, dass der vorletzte und der letzte O-Ton durch einen Schnitt getrennt sind. Durch die neue Einstellung fällt es dem Zuschauer schwerer, die Alibifunktion des Sprechers zu durchschauen. Was als Hilfestellung für einen anderen Interviewten begann, wird zum eigenständigen (Rede-)Beitrag gemacht und damit der Eindruck von »Unabhängigkeit« der Position des Redners verstärkt. Hier zeigt uns die Inszenierung, dass nicht bloß ein nützlicher Idiot spricht, sondern jemand, der ernst zu nehmen ist. Statt den Mechanismus einzufangen, in dem sich ein Jude von Antisemiten als Entlastungszeuge einspannen lässt, wird dieser Aspekt durch die Präsentation minimiert und letzten Endes affirmativ mitgetragen. 

Die Macher des Beitrags scheinen so erfreut über den »gefundenen« Juden gewesen zu sein, dass sie sicherstellen wollten, ihm auch genug Zeit zu geben, um seine Worte mit Bedacht zu wählen und sich möglichst überzeugend präsentieren zu können (mit dem obigen perfiden Ergebnis).

Danach, um dem peinlichen Theater die Krone aufzusetzen, ist noch zu sehen, wie der jüdische und der nicht-jüdische Demonstrant einander umarmen, wobei der Blick des Nicht-Juden bezeichnenderweise nicht auf sein Gegenüber, sondern auf den Reporter gerichtet ist, nach dem Motto: »Haben Sie das auch im Kasten?« Die Ersteller des Beitrags schienen in diesem kitschigen Moment, denn das ist es immer, wenn Propaganda als »menschliche« Emotionalität verkauft wird, so viel Signifikanz zu sehen, dass sie ihn dem Tagesschau-Publikum nicht vorenthalten wollten.

Skrupel wie weggeblasen

Beim abschließenden Wortbeitrag der ARD-London-Korrespondentin und für den Beitrag verantwortlichen Autorin Annette Dittert selbst ist dann all die skrupulöse Objektivität, die es vorher noch nötig gemacht hatte, die Intention des Slogans »From the River to the Sea« mit einem »sehen viele als« zu relativieren, wie weggeblasen. 

Innenministerin Suella Braverman habe, so sagt Dittert nun, »versucht, die Briten gegeneinander auszuspielen«. Hier ist anscheinend keinerlei Relativierung mehr nötig. Dass Braverman die Briten gegeneinander ausspielen wollte, sehen nicht bloß »viele« so, das sieht Dittert so – und demzufolge ist es so.

Dass der Marsch »friedlich« blieb, sei »auch ein Erfolg für die Londoner Polizei, die sich Bravermans Versuchen, diesen Marsch zu verbieten, trotz massiven Drucks klar entgegengestellt hat«, meinte die Korrespondentin abschließend und lächelte dabei; so wenig konnte sie sich die Freude darüber verkneifen, dass Menschen an diesem Tag die Gelegenheit hatten, auf den Straßen Londons ungestört genozidalen Antisemitismus zu verbreiten.

In der Gesamtheit könnte die Aussage kaum klarer sein: Auf der einen Seite die böse Konservative Braverman, die Zwietracht sät, auf der anderen Muslime und Juden, die sich in einem Triumph der Brüderlichkeit beim gemeinsamen Demonstrieren gegen den Völkermörder Israel in den Armen liegen. Andere, repräsentativere Juden, die über den Marsch zutiefst verstört waren, kommen im Beitrag glücklicherweise nicht vor und können so die Harmonie nicht stören.

Mit diesem Beitrag versagte der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht nur zum wiederholten Mal bei der Berichterstattung über antisemitische Vorkommnisse, sondern bot darüber hinaus für Legitimationsstrategien des Antisemitismus die in Deutschland größtmögliche Plattform. Nichts davon ist vereinbar mit der besonderen Verantwortung, die einer Sendung wie der Tagesschau aufgrund ihrer Reichweite, ihres Charakters als journalistische Institution, ihres politischen Bildungsauftrags sowie ihres besonderen Finanzierungsmodells zufällt.

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