Nach den amerikanischen Militärschlägen auf iranische Atomanlagen berufen sich viele auf Völkerrecht, das es so nicht gibt.
Seit rund einer Woche haben Behauptungen über das Völkerrecht Hochkonjunktur. So auch jetzt wieder, nachdem die USA in der Nacht von Samstag auf Sonntag in den Krieg gegen das iranische Atomprogramm eingetreten sind und einige iranische Atomanlagen bombardiert haben. Solche Angriffe auf nukleare Anlagen seien laut Völkerrecht prinzipiell verboten, ist oft zu hören.
Doch wie so oft, haben Behauptungen über das Völkerrecht mit dem, was darin tatsächlich festgeschrieben steht, wenig zu tun. Was sagt also »das Völkerrecht« wirklich über Angriffe auf Atomanlagen?
Zusatzprotokoll
Kritiker der israelischen und amerikanischen Militäroperationen erwecken den Eindruck, als sei die Sachlage vollkommen klar: Laut dem internationalen Recht dürften Nuklearanlagen nicht angegriffen werden. Dabei wird auf Art. 56 des ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen verwiesen. Darin ist in Absatz 1 zu lesen:
»Anlagen oder Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten, nämlich Staudämme, Deiche und Kernkraftwerke, dürfen auch dann nicht angegriffen werden, wenn sie militärische Zwecke darstellen, sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann.«
Schon auf den ersten Blick wird klar, dass von einem prinzipiellen Verbot von Angriffen auf Nukleareinrichtungen hier nicht die Rede ist. Verboten sind solche Attacken nämlich nur, wenn dadurch »schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung« verursacht würden.
Um beim aktuellen Beispiel zu bleiben: Die iranische Anlage Fordo, die offenbar von den Amerikanern bombardiert wurde, liegt weit von Wohnorten entfernt und tief in einen Berg eingegraben. Selbst wenn infolge eines Angriffs auf Fordo Radioaktivität freigesetzt würde (was aufgrund der konkreten Gegebenheiten unwahrscheinlich ist), wäre praktisch ausgeschlossen, dass dadurch »schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung« entstehen könnten. Schon unter diesem Gesichtspunkt ist ein Angriff auf Fordo keineswegs grundsätzlich verboten.
Und mehr noch: in Absatz 2(b) von Art. 56 ist zu lesen, dass der potentielle Schutz von Kernkraftwerken erlischt,
»wenn sie elektrischen Strom zur regelmäßigen, bedeutenden und unmittelbaren Unterstützung von Kriegshandlungen liefern, und wenn ein solcher Angriff das einzige praktisch mögliche Mittel ist, um diese Unterstützung zu beenden«.
Damit wird der grundsätzliche Schutz von Kernkraftwerken noch weiter eingeschränkt.
Keine Kraftwerke
Und auch das ist noch nicht alles, wenn wir auf die Anlagen blicken, die von den US-Streitkräften in der vergangenen Nacht angegriffen worden sein sollen. Denn in Art. 56 ist ausschließlich von Kernkraftwerken beziehungsweise von Kraftwerken die Rede, die elektrischen Strom liefern. US-Präsident Donald Trump erwähnte in seiner Stellungnahme die Namen von drei Anlagen, die von den Amerikanern ins Visier genommen worden seien: Isfahan, Natanz und Fordo.
In Isfahan bindet sich ein Nuklearzentrum, in dem unter anderem Uranzentrifugen hergestellt werden, bei Natanz und Fordo handelt es sich um Anlagen zur Urananreicherung. Keine der drei Anlagen ist ein Kernkraftwerk, in keiner dieser Einrichtungen wird elektrischer Strom produziert. Keine dieser Einrichtungen fällt somit unter den Schutz gemäß Art. 56 des ersten Zusatzprotokolls.
Wer also behauptet, Angriffe auf Nuklearanlagen seien gemäß »dem Völkerrecht« prinzipiell verboten, sagt glatt die Unwahrheit.
Keine Geltung
Und selbst wenn Angriffe auf diese Einrichtungen gemäß dem Zusatzprotokoll verboten wären, hätten diese Bestimmungen im aktuellen Fall kaum Relevanz, denn das erste Zusatzprotokoll ist nicht allgemein verbindliches Völkerrecht: Die USA haben es unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, Israel hat es nicht einmal unterzeichnet.
Auch der Iran hat das erste Zusatzprotokoll übrigens nicht ratifiziert. Und das ist nicht der einzige Grund, weshalb die iranischen Beschwerden über die angebliche Illegalität der amerikanischen Angriffe auf Nuklearanlagen einigermaßen heuchlerisch sind.
Schließlich war es niemand anderer als just die Islamische Republik Iran, die den ersten Angriff auf eine nukleare Einrichtung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unternommen hat: Im Zuge des Iran-Irak-Krieges bombardierten iranische Kampfflugzeuge am 30. September 1980 südlich von Bagdad die irakische Nuklearanlage von Tuweitha. Damals jedenfalls bereiteten rechtliche Bedenken der Mullah-Diktatur kein Kopfzerbrechen.