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Die irakische Protestbewegung droht in einem Meer von Blut ertränkt zu werden

Demonstrantinnen im Irak
Demonstrantinnen im Irak (Quelle: Ziyad Matti, Rudaw)

Mit irgendeiner Form von internationaler Solidarität können die Demonstranten im Irak nicht rechnen.

Nachdem der schiitische Kleriker Muqtada al Sadr am Freitag zu einem Millionen-Mann-Marsch gegen die USA aufgerufen hatte, der bei der Protestbewegung gar nicht gut ankam, dafür aber die volle Unterstützung aller anderen Milizen und schiitischen Parteien hatte, entzog er heute den Demonstranten seine Unterstützung.

Dieser Schritt – offenbar abgesprochen mit der „Schutzmacht“ Iran und dem regierenden Establishment – war wohl Auslöser einer konzertierten Aktion irakischer Sicherheitskräfte, die sowohl in Bagdad als auch in den südirakischen Städten Basra und Nassiriyah brutal gegen die Protestierenden vorgingen und versuchten, seit Monaten besetze Plätze zu räumen:

Die irakischen Sicherheitskräfte gingen bei Razzien am Samstag mit Tränengas und scharfer Munitionen gegen Protestcamps in Bagdad und in Städten im Süden des Landes vor. Dabei wurden vier Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt, wie Polizei und medizinische Quellen mitteilten. Der erneute Vorstoß zur Beendigung der Sitzstreiks und zur Wiederherstellung der Ordnung erfolgte Stunden nachdem der populistische Kleriker Muqtada al-Sadr, der Millionen von Anhängern in Bagdad und im Süden hat, seine Unterstüzung der regierungsfeindlichen Unruhen zurückgezogen hatte.

Sadrs Anhänger, die die Protestierenden unterstützen und sie zuweilen vor Angriffen durch Sicherheitskräfte und nicht identifizierte Bewaffnete schützen, begannen nach seiner Ankündigung am frühen Samstag mit dem Rückzug aus den Protestlagern. Im Laufe des Tages kam es dann zu Zusammenstößen, als die Behörden Betonbarrieren auf mindestens einer Hauptbrücke über den Tigris und in der Nähe des Tahrir-Platzes in Bagdad entfernten, wo die Demonstranten seit Monaten ihr Lager aufgeschlagen haben, berichteten Reporter von Reuters.

Zwar gelang es den Demonstranten vorerst, den symbolträchtigen Tahrir Platz in Bagdad zu verteidigen, aber trotzdem wird der 25. Januar als wichtiger Tag in die irakische Geschichte eingehen, denn Sadr hatte sich bislang als irakischer Patriot inszeniert und versucht, eine gewisse Distanz zum Iran zu wahre, und war ein Wahlbündnis mit den Kommunisten eingegangen.

Eigentlich wollte er die Stimme der unzufriedenen Jugend im Irak sein und hielt deshalb immer eine deutliche Distanz zu vom Iran gesteuerten Milizen und Parteien. Dies scheint sich nun geändert zu haben, jedenfalls aus Sicht der Protestierenden, für die er seit heute Teil jenes Systems ist, gegen das sie auf die Straße gehen. Kein Zufall also, dass heute auf dem Tahrir-Platz erstmalig auch Parolen gegen Sadr skandiert wurden.

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Entsetzt und enttäuscht über die Kehrtwende Sadrs, die ihnen als Verrat erscheint, zeigten sich viele junge Demonstranten. Das irakisch-kurdische Nachrichtenportal Rudaw lässt einige zu Wort kommen:

„Sadr ist damit beschäftigt, sich dafür einzusetzen, dass durch die Vertreibung der US-Truppen iranische Interessen im Irak durchgesetzt werden. Er hat nicht die Absicht, die Proteste im Irak zu schützen, wenn sie eine Bedrohung für den Iran darstellen.“

Aber auch Anhänger des Predigers, die sich mit der Protestbewegung solidarisieren, gaben ihrem Unmut Ausdruck:

„Ich bedauere, dass ich den ganzen Weg nach Bagdad auf mich genommen habe, um an Sadrs Demonstration gegen die US-Truppen teilzunehmen, da er uns eindeutig für seine eigenen Interessen benutzt hat“, sagte Luay am Samstag zu Rudaw English. „Sadr hat alle verraten, und jetzt dient er nur noch den iranischen Interessen im Irak“. (…)

„Es ist seltsam zu sehen, dass Sadr jetzt für den Iran ist, während er der Mann war, der 2018, in der Amtszeit [des ehemaligen Premierministers Haider al-] Abadi, den Slogan ‚Iran raus, raus‘ erfand.“

Mit dem Schwenk Sadrs verschwindet der letzte wichtige irakische Akteur, der noch zwischen dem Establishment und der Protestbewegung hätte vermitteln können. Nun stehen die Demonstranten fast alleine da, bislang noch stützt sie halbherzig der Klerus in Najaf und Kerbala.

Sollte sich Teheran allerdings entschieden haben, die Protestbewegung niederzuwalzen, sind blutige Tage im Irak zu erwarten. Denn ohne massive Gegenwehr wird die Protestbewegung die Straßen irakischer Städte nicht räumen.

Und was ihnen blüht, sollten die Milizen gewaltsam die Macht übernehmen, wissen sie ohnehin – nicht nur weil es schon jetzt fast täglich zu Verhaftungen kommt, und es neben hunderten von Toten bisher auch über Zehntausend Verletzte gibt, sondern weil ihnen klar ist, dass die Führer und Anhänger dieser Milizen Vergeltung üben werden. Ganz im Jargon des alten Nahen Ostens, der gerade überall um sein Überleben kämpft, äußerte sich jüngst Ali Al-Husseini, Sprecher der so genannten Volksmobilisierungskräfte sehr deutlich:

„Jeden Tag höre ich euch [die Demonstranten] sagen, dass bestimmte Menschen widerlich sind. [Aber] ihr seid diejenigen, die widerlich sind! Eure Familien sind widerlich – widerlich; Ihr seid die Widerlichen! Eure Familien sind widerlich. Ihr wurdet im Schmutz erzogen.“ „Ihr wurdet von der Baath-Partei, von ihren weiblichen Kameraden und von den schmutzigen und verfluchten Saddam-Baathisten auf den Straßen erzogen“, fuhr Husseini fort. „Inshallah [so Gott will], wenn Millionen von uns auf die Plätze gehen, um zu demonstrieren, werden wir all dies beenden.“

So Gott es will, werden wir die Plätze [der Anti-Regierungs-Proteste] für Prostitution, Demütigung, Joker, Spione, Skandal und Erniedrigung schließen. Unser Platz ist der Platz des Widerstands, der Helden, der Mudschaheddin [Dschihadisten] und der Ablehnung der Besatzer. Inshallah, wir werden sie beseitigen und aus dem Irak vertreiben, durch die Kraft Gottes, der Familie des Propheten, der Mudschaheddin und der Achse des Widerstands.“

Fast wie eine Antwort des „neuen Nahen Ostens“ klang dagegen, was samstags eine junge Irakerin dem Sender Al Jazeera sagte:

„Ich bin gerade mit meinen Freunden auf dem Tahrir-Platz angekommen, und alle sagen uns, dass wir zurückgehen sollen, weil die Situation gefährlich wird“, sagte Qamar Imad, ein 17-jähriges Mädchen, gegenüber Al Jazeera. „Aber wir werden Tahrir nicht verlassen, weil er uns gehört. Das Pfeifen der Kugeln wird unsere Entschlossenheit nur noch verstärken.“

Sicher scheint also: Die Demonstranten werden die Plätze im Irak, die sie besetzt halten, nicht ohne Gegenwehr räumen. Es wird blutig werden. Und sie stehen alleine da. Zumindest mit irgendwelcher namhaften internationalen Solidarität brauchen sie nicht zu rechnen.

Artikel zuerst erschienen auf Jungleblog.

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