Von Thomas von der Osten-Sacken
Für Jesiden, die 2014 vor dem Islamischen Staat (IS) aus dem Sinjar fliehen mussten, oder besser: denen damals die Flucht gelang, denn Zehntausende wurden von den Jihadisten vor Ort ermordet oder verschleppt, ist es der fünfte Winter, den sie im Nordirak in Lagern verbringen müssen. Nach heftigen Regenfällen Angang Dezember sind die Straßen verschlammt, Menschen klagen über Kälte und Feuchtigkeit, die in ihre schlecht beheizbaren Zelte dringt und vor allem fehlt ihnen immer noch eines: Irgend eine Perspektive. Ihre ehemalige Heimat ist zerstört und von Sicherheit kann dort keine Rede sein. Verschiedene Milizen kontrollieren das Gebiet, erst kürzlich wieder bombardierten türkische Kampfjets dort Stellungen der PKK. Also harren sie in den Lagern aus, wer irgendwie kann, versucht die Flucht nach Europa. Nur hat sich inzwischen auch hier herumgesprochen, dass die Grenzen de facto dicht sind, ja in Deutschland sogar einzelne Asylanträge von Jesiden neuerdings negativ beschieden werden.
In einer der Schulen im Khanke Camp bei Dohuk versuchen acht Lehrer, den Betrieb irgendwie Aufrecht zu erhalten. Neue Bücher und Hefte, die eigentlich die UNICEF zur Verfügung stellen sollte, haben sie seit Monaten nicht erhalten. Über sechshundert Schüler unterrichten sie täglich, in jeder Container-Klasse sitzen mehr als sechzig , wenn es regnet tropft es durch die Decken aus Wellblech. Welche Probleme sie hätten? Ein bitteres Lachen als Antwort. „Alle, die man sich so vorstellen kann und ein paar mehr“, meint einer. Besonders habe man es in letzter Zeit mit Selbstmorden zu tun, viele der Schülerinnen und Schüler seien traumatisiert und schwer depressiv. Immer mehr würden versuchen, sich das Leben zu nehmen. „Kann man es ihnen in dieser Situation verdenken?“, kommentiert einer der Lehrer, der dann erzählt, dass er 2014 selbst dem IS nur knapp entkommen sei. Und wie ibei fast allen, sind auch bei ihm Teile der Familie bis heute verschollen. Vielelicht sind sie tot, die Schwestern, Töchter oder Mütter noch verschleppt und in Sklaverei gehalten.
Besuch bei einer 15-Jährigen, die vor ein paar Monaten aus der IS-Gefangenschaft frei kam und sich nun um ihre schwerkranke Mutter kümmert. Sie leben in einem Zelt am anderen Ende des Lagers, nicht mal einen Teppich haben sie, der die feuchte Kälte des nackten Betonbodens etwas abhalten könnte. Eine jesidische Gruppe in Stuttgart hat etwas Geld gesammelt, damit nun für sie ein einige andere ein paar Winterkleider und eben ein Teppich gekauft werden kann.
Es ist der Tag, an dem an die Nadia Murad der Nobelpreis verliehen wurde. Medien berichten live, in einem Billiardcafe, das aus ein paar Brettern zusammengezimmer wurde, sitzen ein paar Jugendliche vor dem Fernseher und verfolgen die Zeremonie. Sie sitzen hier den ganzen Tag, denn zu tun gibt es wenig in so einem Lager. Eindringlich appelliert Murad an die so genannte internationale Staatengemeinschaft:
„Ich bitte Sie, besiegen Sie den IS. Ich bin wegen der Terroristen durch die Hölle gegangen, ich habe gesehen, was sie kleinen Mädchen und Jungen angetan haben. Alle, die diese Verbrechen, den Völkermord begangen haben, müssen vor Gericht gestellt werden, damit Frauen und Kinder in Syrien und im Irak sicher leben können. Diese Verbrechen müssen aufhören.“
Leider wird dieser Appell allerdings wohl so ungehört verklingen, wie unzählige zuvor. Zwar befreien gerade Truppen der Syrian Democratic Forces (SDF) ein paar hundert Kilometer entfernt die Stadt Hajin von der Kontrolle des IS, der allerdings regruppiert sich längst neu und stellt sich auf eine Guerillataktik um. Nicht nur Terrorexperten warnen davor zu glauben, die Jihadisten seien besiegt. Mit wem man auch spricht in Khanke, sie alle sehen die Zukunft in düsteren Farben. „Die werden wiederkommen“, hört man immer wieder. Auch deshalb wollen sie nicht zurück, nicht solange irgend jemand auch nur in Ansätzen so etwas wie Sicherheit im Sinjar garantieren kann.
Ein paar Kilomter weiter nördlich befindet sich ein weiteres Lager, es ist, anders als Khanke keines für internal displaces, sondern für syrische Flüchtlinge. Auch sie sind leben seit Jahren hier, ähnlich perspektivlos. Die Hälfte aller Syrerinnen und Syrer sind entweder Binnenvertriebene oder Flüchtlinge. 5,6 Millionen leben inzwischen laut Angaben der UNO in den der Türkei, dem Libanon, Jordanien, dem Irak und Ägypten. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges sind eine Million Kindern in Lagern geboren worden.
Auch für sie besteht kaum Hoffnung, selbst wenn der Krieg in Syrien abflaut und das Regime in Damaskus und sein russischer Verbündeter so tun, als stünde einer Rückkehr nichts mehr im Wege. Das betonte erst jüngst Amin Awad, Direktor des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR für den Nahen Osten. Man rechne bestenfalls mit 250.000 Rückkehrern im nächsten Jahr. Auch seien dieses Jahr erst 37.000 Menschen von der UNO registriert worden, die aus den Nachbarländern nach Syrien zurückgekommen seien, weit weniger als die syrische Staatspropaganda das Ausland Glauben machen will.
Nicht nur will das Assad-Regime die meisten Geflüchteten, in ihrer Mehrheit sunnitische Araber, gar nicht zurückhaben, wo auch sollen diese Menschen hin? Ganze Stadtviertel liegen in Trümmern, an einen Wiederaufbau ist nicht zu denken, solange das Regime an der Macht bleibt. So werden sich wohl überall große syrische Diasporen bilden. Schon jetzt prägen die Syrer vielerorts in der Südosttürkei das Stadtbild.
Vor Jahren meinte eine israelisch-arabische Bekannte einmal zu mir, dass wenn in den Flüchtlingslagern die Straßen Namen erhalten und die Leute Blumen vor ihre Zelte stellen, dann sei der Augenblick gekommen, wo sie sich in ihr Schicksal ergeben und die Hoffnung auf Rückkehr aufgegeben hätten. Das sei in den palästinensichen Flüchtlingslagern in Jordanien und dem Libanon so gewesen. Noch haben die Schlammgassen in Khanke keine Namen, aber es wird wohl nicht mehr lange dauern. Blumen und kleine Bäumchen haben einige der Bewohner nämlich schon gepflanzt.