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Genozidvorwurf: Amnesty International verkennt den Gaza-Krieg (Teil 2)

Darf bei kaum einer antiisraelischen Demonstration fehlen: Amnesty International und sein Genozid-Vorwurf
Darf bei kaum einer antiisraelischen Demonstration fehlen: Amnesty International und sein Genozid-Vorwurf (Imago Images / NurPhoto)

Der Amnesty-International-Bericht, der Israel einen Genozid im Gazastreifen vorwirft, ist von einer völligen Fehlinterpretation des Kriegsvölkerrechts geprägt.

Im zweiten Teil einer mehrteiligen Reihe über den Amnesty-International-Bericht, der Israel vorwirft, Völkermord im Gazastreifen begangen zu haben, werden die zentralen Argumente in Bezug auf das Völkermordmerkmal der vorsätzlichen Auferlegung von Lebensbedingungen untersucht, die darauf abzielen, die körperliche Zerstörung der Palästinenser ganz oder teilweise herbeizuführen. (Der erste Teil der Reihe, der sich mit Vorwürfen zu Tötungen und schweren Verletzungen befasst, ist hier zu finden.)

Um zu belegen, dass Israel vorsätzlich menschenunwürdige Lebensbedingungen im Gazastreifen herbeigeführt hat, greift der Bericht von Amnesty International (AI) drei Aspekte des Konflikts heraus:

  • das Ausmaß der Zerstörung lebensnotwendiger Infrastruktur,
  • Evakuierungen bzw. »Vertreibung«, wie AI das nennt,
  • Einschränkungen bei der Einfuhr von Gütern und humanitärer Hilfe.

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Militärexperten und historische Präzedenzfälle – nicht zuletzt die von den USA geführten Kampagnen gegen den Islamischen Staat in Raqqa und Mossul –weitgehend nicht die These stützen, das Ausmaß der Zerstörung sei unverhältnismäßig angesichts des urbanen Umfelds und der Hamas-Strategie, sich hinter Zivilisten zu verstecken. 

Außerdem erscheint als besonders abwegig, Evakuierungen, die dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen und zu denen Konfliktparteien gemäß dem humanitären Völkerrecht (IHL) verpflichtet sind, als Beleg einer Vernichtungsabsicht zu nennen. Nachfolgend soll der Schwerpunkt auf dem Vorwurf der Einschränkung humanitärer Hilfe liegen: 

Herstellung menschenunwürdiger Bedingungen?

Am 9. Oktober 2023 verkündete Israels damaliger Verteidigungsminister Yoav Gallant eine vollständige Belagerung des Gazastreifens, im Zuge derer »Strom, Nahrung, Wasser und Treibstoff« abgeschnitten werde. Es ist unklar, ob Gallants Ausführungen bedeuten sollten, dass gar keine Lieferungen in den Gazastreifen gelangen durften oder nur nicht aus israelischem Staatsgebiet, denn der Grenzübergang in Rafah zu Ägypten kam erst im Mai 2024 unter die Kontrolle der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF), wäre für Lieferungen aus Ägypten also offen gewesen.

Ebenso unklar ist – und das ist in diesem Zusammenhang sogar noch bedeutsamer –, ob die israelische Ankündigung überhaupt jemals umgesetzt wurde, da fast unmittelbar danach erste Hilfslieferungen in den Gazastreifen gelangten.

Am 15. Oktober wurde die Wasserversorgung zum südlichen Teil der Küstenenklave teilweise wiederhergestellt. Innerhalb weniger Tage nach Kriegsbeginn nahmen die zuständigen israelischen Behörden (COGAT) Kontakt mit Palästinensern im Gazastreifen auf, um unter schwerem IDF-Geleit Reparaturen an den Wasserleitungen zu koordinieren, die durch den Hamas-Angriff am 7. Oktober und die darauffolgenden Gefechte im Grenzgebiet beschädigt worden waren. Ende Oktober wurde die zweite von drei israelischen Wasserleitungen wieder geöffnet. Im Verlauf des Kriegs kam es zur stetigen Verbesserung in der Wasserversorgung.

Am 21. Oktober wurde der erste humanitäre Hilfskonvoi mit Lebensmitteln und medizinischen Gütern über Rafah in den Gazastreifen eingelassen. Strom und Treibstoff blieben vorerst zwar noch eingeschränkt, doch ab November 2023 konnte Treibstoff dann auch wieder für Krankenhäuser und Entsalzungsanlagen eingeführt werden.

Durch IGH nicht gedeckt

Trotz der raschen Abkehr von einer vollständigen Belagerungsstrategie beruht die Anschuldigung im AI-Bericht auf der Ansicht, »die Verpflichtung [Israels] als Besatzungsmacht, der Einfuhr und Verteilung humanitärer Hilfe im besetzten Gebiet zuzustimmen, sei bedingungslos« (S. 75). Alle Einschränkungen wären demnach rechtswidrig. Dabei lastet die gesamte Argumentationskraft auf dem Wort »Besatzungsmacht«. Die Frage allerdings, ob der Gazastreifen vor dem Krieg besetzt war, ist jedoch bestenfalls umstritten.

Verschiedene internationale Organisationen und Juristen betrachteten die Situation des Küstenstreifens tatsächlich als die erste und einzige Besatzung der Menschheitsgeschichte ohne jegliche Militärpräsenz der angeblichen Besatzungsmacht. Allerdings beruht diese Ansicht auf keiner konkreten Rechtsprechung, selbst, wenn Amnesty in seinem Bericht (S. 50) das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Juli 2024 so darstellen will. Darin wurde in Paragraf 94 festgehalten:

»Der Abzug vom Gazastreifen hat Israel nicht vollständig von seinen Verpflichtungen gemäß dem Besatzungsrecht entbunden. Israels Verpflichtungen bleiben proportional zum Ausmaß seiner effektiven Kontrolle über den Gazastreifen bestehen.« [Hervorhebung durch den Autor]

Zunächst muss festgehalten werden, dass der IGH eine politisierte Institution ist. Seine Mitglieder werden von der UN-Generalversammlung gewählt, die eine geradezu obsessive Besessenheit mit Israel pflegt. Sein bisheriger Präsident, Nawaf Salam, wurde unlängst zum libanesischen Premierminister ernannt und bezeichnet Israel als »Feind«. In den relevanten Passagen des IGH-Gutachtens (§§ 88–94) stützt sich der IGH auf Erkenntnisse der Untersuchungskommission unter Leitung von Navi Pillay, die es in der Vergangenheit widerholt ablehnte, ihre Kollegen wegen antisemitischer Vorfälle zurechtzuweisen – etwa den UN-Sonderberichterstatter Richard Falk für das Teilen einer antisemitischen Karikatur im Jahr 2011 oder das Kommissionsmitglied Miloon Kothari für seine Äußerungen im Jahr 2022, wonach eine »jüdische Lobby« die soziale Medien kontrolliere.

Dennoch hütete sich selbst dieses Gericht, den Gazastreifen für besetzt zu erklären. Über ein Dutzend separater Meinungen der fünfzehn IGH-Richter wurden zu dem Gutachten veröffentlicht, die meisten äußern sich nicht zur Frage des Besatzungsstatus der Küstenenklave oder zu Israels Verpflichtungen. Diejenigen, die das Thema ansprechen, betonen aber, dass das Gericht keine klare Position eingenommen habe (Yuji Iwasawa, Sarah Cleveland) oder kritisieren dezidiert, dass der Gazastreifen überhaupt in die Analyse und das Urteil einbezogen wurde (Peter Ronny Tomka, Abraham und Bogdan Aurescu). 

Amnestys Behauptung, der IGH habe den Besatzungsstatus des Gazastreifens positiv beschieden und Israel sei daher an sämtliche Verpflichtungen als Besatzungsmacht gebunden, ist somit laut allen IGH-Richtern, die sich konkret dazu geäußert haben, unwahr. Es handelt sich hier weniger um eine Tatsachenfeststellung als vielmehr um ein Bekenntnis zur eigenen anti-israelischen Voreingenommenheit.

Aberwitzige Interpretation

Unter der Annahme der Besatzungstheorie beruft sich Amnesty Internation auf Artikel 59 der Vierten Genfer Konvention:

»Wenn die Bevölkerung eines besetzten Gebietes oder ein Teil derselben ungenügend versorgt wird, soll die Besetzungsmacht Hilfsaktionen zugunsten dieser Bevölkerung gestatten und sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln erleichtern.«

Die begleitenden Kommentare des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) stellen klar, dass der Artikel die Rechte und Pflichten einander gegenüberstehender Konfliktparteien regeln soll. Und tatsächlich offenbart der restliche Text den Widersinn der AI-Position, denn es heißt weiter:

»Eine Macht, welche die freie Durchfuhr von Sendungen gewährt, die für ein von einer feindlichen Partei besetztes Gebiet bestimmt sind, hat jedoch das Recht, die Sendungen zu prüfen, ihre Durchfuhr nach vorgeschriebenen Zeiten und Wegen zu regeln und […] Zusicherungen zu verlangen, dass diese Sendungen zur Hilfeleistung an die notleidende Bevölkerung bestimmt sind und nicht zum Vorteil der Besetzungsmacht verwendet werden.«

Nach der Amnesty-Lesart wäre Israel sowohl die »Macht, die freie Durchfuhr von Sendungen gewährt« als auch die das Gebiet besetzende »feindliche Partei«. Israel hätte demnach das Recht, Lieferungen zu durchsuchen, um sicherzustellen, dass sie nicht der »Besatzungsmacht«, also sich selbst, zugutekämen – eine völlig aberwitzige Interpretation.

Recht zu Blockade

In Abwesenheit einer Besatzung besteht das anzuwendende rechtliche Rahmenwerk aus dem Völkergewohnheitsrecht, welches das Aushungern der Zivilbevölkerung als Mittel der Kriegsführung verbietet, sowie aus Artikel 23 der Vierten Genfer Konvention, der Konfliktparteien zum Durchlass von Hilfslieferungen verpflichtet, außer dort, wo berechtigte Bedenken bestehen, dass diese ihrer Bestimmung entfremdet werden könnten oder die feindliche Partei einen offensichtlichen militärischen oder wirtschaftlichen Vorteil aus solchen Lieferungen ziehen könnte.

An Belegen für die Umleitung von Hilfsgütern seitens der Hamas gab es keinen Mangel, wie der Amnesty Bericht selbst einräumt:

»Humanitäre Hilfsarbeiter, die mit Amnesty International sprachen, bestätigten Umleitungen und Plünderungen von Hilfslieferungen als zwei der vielen Hindernisse, denen sie bei dem Versuch begegneten, Güter und Dienstleistungen innerhalb des Gazastreifens bereitzustellen.« (S. 162)

Folglich hatte Israel selbstverständlich das Recht, Einschränkungen auf Hilfslieferungen zu verhängen, insbesondere für Dual-Use-Güter wie Treibstoff und Strom, die der Hamas militärisch nutzen könnten.

Weder Belagerungen noch das Aushungern als Mittel der Kriegsführung sind verboten, solange sie nicht gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind. So heißt es beispielsweise im Handbuch zum Kriegsrecht des amerikanischen Verteidigungsministeriums:

»Es ist rechtskonform, feindliche Streitkräfte zu belagern, d. h. sie zu umzingeln, um ihre Kapitulation zu erzwingen, indem sie von Verstärkung, Nachschub und Kommunikation mit der Außenwelt abgeschnitten werden. Insbesondere ist es zulässig, feindliche Streitkräfte durch Aushungern zur Unterwerfung zu zwingen. […]

Ein Befehlshaber einer umzingelnden Streitmacht ist nicht verpflichtet, der Durchfuhr von medizinischem oder religiösem Personal, Vorräten und Ausrüstung zuzustimmen, wenn er oder sie legitime militärische Gründe für die Ablehnung solcher Anfragen hat (z. B., wenn die Verweigerung der Durchfuhr die Wahrscheinlichkeit der Kapitulation der feindlichen Kräfte im eingeschlossenen Gebiet erhöhen könnte).« (§ 5.19)

Auch das das britische Handbuch zum Thema stellt klar:

»Belagerung ist eine legitime Methode der Kriegsführung, solange sie sich gegen feindliche Streitkräfte richtet. […] Die militärischen Behörden des belagerten Gebiets könnten sich entscheiden, einer Evakuierung der Zivilbevölkerung nicht zuzustimmen, oder die Zivilisten selbst könnten sich entscheiden, an ihrem Aufenthaltsort zu bleiben. In diesen Fällen wäre der belagernde Kommandant berechtigt, jegliche Versorgung des Gebiets zu verhindern, solange er Zivilisten sowie Verwundeten und Kranken ermöglicht, das belagerte Gebiet zu verlassen.« (§ 5.34)

Folglich hätte Israel das Recht gehabt, die Einfuhr sämtlicher Lieferungen zu verbieten. Das gilt insbesondere, wenn dieses Recht gezielt in Gebieten angewandt würde, aus denen Zivilisten evakuiert werden konnten, wie es die längste Zeit im nördlichen Gazastreifen und im Herbst 2024 in Dschbaliya der Fall war. 

Zu Kriegsbeginn fiel womöglich sogar der gesamte Gazastreifen unter diese Interpretation, als noch erwogen wurde, eine vorübergehende Evakuierung nach Ägypten durchzuführen. Diese Option wurde schnell verworfen, nachdem Ägypten klargemacht hatte, keine nennenswerte Anzahl an Flüchtlingen aufzunehmen. 

Vor allem aber diente das Verbot der Einfuhr von Hilfsgütern als vorübergehende Drohgebärde, um Druck auf die Hamas auszuüben, die in den Gazastreifen verschleppten israelischen Geiseln freizulassen. Man wird wohl nie erfahren, ob eine vollständige Bodenoffensive notwendig gewesen wäre und wie viele palästinensische Leben möglicherweise verschont geblieben wären, hätte die damalige US-Administration dieser rechtskonformen Strategie nicht sofort den Riegel vorgeschoben.

Trotz der Rechtmäßigkeit dieser Strategie ermöglichte Israel die Einfuhr von fast 800.000 Tonnen an Hilfsgütern im untersuchten Zeitraum zwischen Oktober 2023 und Juni 2024, wie aus den Daten der israelischen Koordinierungsbehörde COGAT hervorgeht. Besonders heftig wurde die Debatte über die Einfuhr von Nahrungsmitteln geführt – nicht zuletzt, weil israelische Regierungsmitglieder vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt wurden, Zivilisten durch Aushungern gezielt getötet zu haben.

Verwirrung statt Aufklärung

Der Beitrag von Amnesty International zu dieser Debatte zielt offensichtlich darauf ab, für Verwirrung statt für Aufklärung zu sorgen. So enthält der AI-Bericht eine langatmige Diskussion (S. 166–177) gegensätzlicher Behauptungen zur Anzahl der Lastwagen, die in die Küstenenklave gelangt sein sollen, und der Frage, wie viele Lastwagen notwendig wären, um den Grundbedarf zu decken, nachdem die lokale Nahrungsmittelproduktion durch den Konflikt großteils zum Erliegen gekommen war. Doch ist diese Lkw-Debatte irrelevant, weil COGAT eine viel präzisere Messgröße veröffentlicht: das Gesamtgewicht der gelieferten Güter.

Eine kürzlich im Israel Journal of Health Policy Research (IJHPR) publizierte wissenschaftliche Studie ermittelte die durchschnittliche Kaloriendichte der in den Gazastreifen zwischen Januar und Juli 2024 eingeführten Nahrungsmittel mit etwa 315 Kilokalorien (kcal) pro 100 Gramm. Bei einem täglichen Bedarf von 2.100 kcal pro Person und einer Bevölkerung von 2,3 Millionen Menschen ergibt sich ein täglicher Bedarf von 1.500 Tonnen Nahrung oder rund 45.000 Tonnen pro Monat; eine Zahl, die problemlos mit den COGAT-Zahlen verglichen werden kann.

Nach dem ersten Geiselabkommen im November 2023 öffnete Israel den Grenzübergang Kerem Schalom wieder und erreichte die errechnete Anforderung an Lebensmitteln fast gänzlich im Dezember. Im Februar gab es eine leichte Unterversorgung, nachdem humanitäre Organisationen wegen der unsicheren Lage ihre Aktivitäten eingeschränkt hatten; allerdings wäre zu erwarten, dass der Überschuss aus dem Januar einen Puffer bot. Im Oktober und November 2024 fiel die Lebensmittelversorgung erneut unter den errechneten Bedarf. Berichten zufolge hatte die Hamas Gewinne der Händler abgeschöpft, wonach Israel kommerzielle Importe aussetzte. Auch in diesem Fall folgte die Unterversorgung auf mehrere Monate erheblicher Überversorgung. Ansonsten wurden die Anforderungen seit Januar 2024 problemlos erfüllt.

Lebensmittelversorgung in Gaza (exkl. gemischte Hilfslieferungen) in Tausend Tonnen
Lebensmittelversorgung in Gaza (exkl. gemischte Hilfslieferungen) in Tausend Tonnen (Quelle: COGAT)

Klarerweise handelt es sich hierbei nur um eine grobe Schätzung. Es gibt gute Argumente dafür, dass 45.000 Tonnen pro Monat zu wenig sein könnten, etwa aufgrund von Einbußen bei der Verteilung. Umgekehrt gibt es jedoch auch gute Argumente dafür, dass es sich um eine Überschätzung handeln könnte, etwa durch das niedrige Durchschnittsalter der Bevölkerung, das einen niedrigeren täglichen Kalorienbedarf nahelegt. Außerdem gibt es andere Maßstäbe als den Energiegehalt, auf die bei hinreichender Ernährung geachtet werden muss. So schätzt die IJHPR-Studie etwa, dass die Versorgung mit Makronährstoffen (Proteine und Fett) ausreichte, es aber möglicherweise an Mikronährstoffen (z. B. Eisen) mangelte.

Aber insbesondere ab März kam die Nahrungsmittelversorgung nicht in einmal in die Nähe der ermittelten Untergrenze und der Bedarf wurde in den meisten Monaten fast um das Doppelte und am Höhepunkt fast um das Dreifache übertroffen. Aus derartigen Zahlen lässt sich unmöglich eine Vernichtungsabsicht schließen, vielmehr beweisen sie exakt das Gegenteil.

Dass dieser Umstand im AI-Bericht nicht berücksichtigt wird, lässt sich kaum mit Unwissenheit oder Inkompetenz erklären, legen die Autoren bei der Ermittlung der Lkw-Anforderungen doch ein differenziertes Verständnis für numerische Daten aus unterschiedlichsten Quellen an den Tag. Außerdem werden sowohl die COGAT-Daten als auch eine Entwurfsversion vom Mai 2024 der später im IJHPR veröffentlichten Studie im AI-Bericht zitiert. Dessen Autoren müssten sich also der Implikationen bewusst gewesen sein, dennoch werden sie dem Leser vorenthalten.

Israel ist an allem schuld

Der AI-Bericht konzentriert sich lieber auf die Schilderung der Ernährungsunsicherheit vor Ort. Die Lage dort war zweifellos ernst: Zwar gab es wenige robuste Indizien für eine große Zahl an Hungertoten, wohl aber Hinweise auf eine erhöhte Prävalenz akuter Mangelernährung bei Kindern im Vergleich zum Vorkriegsniveau. Trotzdem sind die unmittelbaren Ursachen für eine etwaige Unterversorgung mit Nahrungsmitteln von entscheidender Bedeutung, um einschätzen zu können, ob solch eine Unterversorgung von einer der Kriegsparteien vorsätzlich herbeigeführt wurde.

Eine ausreichende Zufuhr bedeutet nicht automatisch, dass die Nahrungsmittel bei den Bedürftigen ankommen. Die von der Hamas gehorteten Hilfsgüter könnten zu künstlichen Engpässen beigetragen haben – eine abgefangene Tonaufnahme vom September zum Beispiel deutete auf übervolle Hamas-Lagerhäuser hin. Auch die erwartbaren Schwierigkeiten, Hilfsgüter inmitten des Chaos und der Gefahren eines Kriegsgebiets zu verteilen, könnte zu Versorgungsengpässen beigetragen haben. Der AI-Bericht selbst nennt Sicherheitsbedenken als den »zentralen einschränkenden Faktor« (S. 160) für die humanitären Aktionen, macht aber allein Israel dafür verantwortlich:

»Der wahre Maßstab dafür, ob Israel als Besatzungsmacht und Konfliktpartei genug unternommen hat, um die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen zu adressieren, ist, ob Palästinenser Zugang zu ausreichenden Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten, Gesundheitsdiensten und anderen lebensnotwendigen Dingen hatten.« (S. 177)

Mit anderen Worten: Die Hamas ist für Amnesty International, wenn überhaupt, eine Nebenfigur. Unabhängig von den schwierigen Umständen infolge des von der Hamas angezettelten Kriegs und egal, wie viele Hilfsgüter von ihr gestohlen werden: Kommt zu wenig bei der Bevölkerung an, soll allein Israel die Verantwortung dafür tragen.

Erneut widerspricht Amnesty hier klar der internationalen Auslegung des Kriegsvölkerrechts. Zum Beispiel heißt es im bereits zitierten Britischen Handbuch:

»Ein Verstoß [gegen das Verbot des Aushungerns von Zivilisten] liegt nicht vor, wenn Militäroperationen nicht darauf abzielen, Zivilisten auszuhungern, aber dies dennoch als beiläufigen Effekt zur Folge haben, beispielsweise, weil Versorgungswege feindlicher Truppen abgeschnitten werden, die auch für den Transport von Nahrung verwendet werden, oder wenn Zivilisten wegen Angst vor Militäroperationen Ackerland verlassen oder nicht bereit sind, das Risiko auf sich zu nehmen, Nahrungsmittel in Gebiete zu bringen, wo Kampfhandlungen vonstattengehen.« (§ 5.27.2, Hervorhebung durch den Autor.)

Der Auslegung, wie hier vorgenommen wird, liegt die Erkenntnis zugrunde, dass das humanitäre Völkerrecht zwei gegensätzliche Interessen ausbalancieren muss. Einerseits sind Kriegsparteien dazu verpflichtet, zivile Schäden zu minimieren, aber andererseits immer unter der Voraussetzung, ihre Kriegsziele erreichen zu können.

Genau das scheint zu sein, was Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International partout nicht anerkennen wollen. Sie sind fest entschlossen, das Wohlergehen der Zivilbevölkerung zur einzigen höchsten Priorität zu erklären, was sich mit dem Recht auf Kriegsführung grundsätzlich nicht vereinbaren lässt, denn Krieg ohne ziviles Leid ist – nicht nur, aber gerade in einem dermaßen dicht besiedelten Gebiet wie dem Gazastreifen – undenkbar. Und so bleibt zwangsläufig nur ein Schluss, der aus der völligen Fehlinterpretation des Kriegsvölkerrechts durch Amnesty International zu ziehen wäre: Krieg an sich müsste verboten werden.

Grundsätzlich ist dieses Ziel durchaus verständlich, vielleicht sogar sympathisch. Aber solange islamistische Extremisten wie die Hamas Zugang zu Schusswaffen, Sprengstoff und Raketen haben, bleibt es ein ziemlich kindischer Wunschtraum und angesichts des Eifers, mit dem er verfolgt wird – keine Lüge zu schändlich, keine Verleumdung zu ungeheuerlich –, ein gefährlicher obendrein. Dass er angesichts der Vielzahl von Kriegen weltweit zugleich allein gegen den Krieg des jüdischen Staates geträumt wird, erklärt, warum so viele Kritiker dem Amnesty-Bericht vorwerfen, antisemitische Ressentiments zu bedienen.

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