Alter Wein in durchsichtigen Schläuchen

Alexandria Ocasio Cortez
Für sie sind Unterstützer Israels "white supremacists": die US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez (Quelle: Dimitri Rodriguez/CC BY 2.0)

Kein anderes Land wird so flächendeckend, so fortdauernd und so substanzlos ungerecht beurteilt und mit doppelten Standards bemessen wie Israel. 

Wir hatten in der Familie eine Handbewegung, um besonders umständliches, um die Ecke oder, wenn man so will, ‚oxymoronisches’ Denken anzuzeigen. Man streckte einen Arm hoch und umschloss von oben her seinen eigenen Kopf, um das Ohr auf der gegenüberliegenden Seite zu berühren. „Das ist SO,“ sagte man, und musste dann nur noch ein „weil…“ und die Begründung anschließen. Es sparte bei unseren häufigen Debatten Unmengen an Zeit. An diese Bewegung muss ich immer wieder denken, und zwar deshalb:

Vor einigen Wochen fanden es in schöner Einhelligkeit das renommierte Wochenblatt die Zeit, die linke taz und der moderate Tagesspiegel witzig, die Damen Merkel, Kramp-Karrenbauer und von der Leyen in den Titel zu setzen mit so sinnigen Sprüchen wie: „Frauen ja, aber doch nicht DIESE!“, oder: „Das Ende des Patriarchats haben wir uns SO nicht vorgestellt“, oder: „Warum Feministen sich nicht freuen sollten“.

Was immer diese Führungskräfte tun, es wird mit ihrer Weiblichkeit in Beziehung gesetzt anstatt mit ihrer Kompetenz. Natürlich sind die langen Debatten über Kleidungsstil, Führungsrollenbefähigung und Geschlechteridentität der diversen Männer, die vorher in Amt und Würden waren, jedem im Gedächtnis … oh … Moment …

Oder: Jedes Mal, wenn eine Person mit dunkel pigmentierter Haut oder eine Frau sich darüber beklagt, dass sie nicht schnell, glatt, oder überhaupt irgendwie weiterkam im Leben, kommt jemand und sagt: „Das muss doch nicht an den Strukturen liegen, vielleicht warst du nur nicht befähigt/nicht gebildet/nicht fleißig genug!“ Damit übersieht man völlig die schieren Unmengen an nicht befähigten, nicht gebildeten und stinkfaulen weißen und männlichen Personen, die sehr wohl ständig nach oben fallen.

Die Feststellung, dass kein anderes Land der Welt jemals so flächendeckend, so fortdauernd und so substanzlos ungerecht beurteilt und mit doppelten Standards bemessen wird wie Israel, zieht wie das Amen im Gebet ein: „Ja, aber die Okkupation …“, ein: „Ja, aber die armen Palästinenser …“, oder überhaupt die direkte Umkehr, nämlich ein: „Ihr habt doch das Land gestohlen!“ nach sich.

Der Bezichtigte bezichtigt lieber zurück, als dass er (oder sie) sich mit dem Vorgeworfenen beschäftigt. Stets sind struktureller Rassismus, gewohnheitsmäßiger Antisemitismus und automatisierte Frauenfeindlichkeit nicht das Problem – dass sie erkannt und benannt werden, das ist es, was stört.

So weit, so bekannt: „don’t shoot the messenger“, sagt man auf Englisch. Aber – und hier bräuchte es eben die oben angesprochene Handbewegung – der Bote wird nicht mehr erschossen, er wird zum Ausgrenzer, zum Rassisten, zum Frauenfeind gestempelt.

Mehr Beispiele gefällig?

Die meisten Leser werden sich noch an die Soziologin erinnern, die das völlige Fehlen organisierter Vergewaltigung palästinensischer Frauen von israelischen Militärs (anders als nahezu jede andere Soldateska in Kriegszeiten) mit der Überzeugung begründete, dies könne keinesfalls aus Anstand geschehen, nein, die Ursache läge ganz bestimmt im Rassismus der Israelis.

Wenn der persisch-stämmige jüdische Autor und israelische Ex-Militär Arye Sharuz Shalicar vom muslimischen Antisemitismus berichtet, den er selbst in Berlin und anderswo am eigenen Leib erfahren hat, wird er des Rassismus geziehen, ganz gleich, ob er in seinen Erzählungen klar differenzierte und auch gegenteilige Fälle ansprach oder nicht. Er ist der Wicht, der Hasser, der Hetzer – nur, damit man sich nicht auseinander setzen muss mit der Tatsache, dass der muslimische erlernte Antisemitismus zusammen mit dem hiesigen, mindestens ebenso liebevoll gepflegten, eine unheilige Allianz eingeht, derer man sich rechtzeitig gewahr sein sollte.

2014 schrieb ein englischer sozialdemokratischer Autor Namens Charlie Winstanley einen viel diskutierten Artikel, in dem er beklagte, dass man als weißer Mann in eine Defensivposition gerückt würde, wenn man versuche, über Ausgrenzung und Rassismus zu diskutieren. Er meinte, dass unterdrückte und marginalisierte Gruppen durch das „Ausspielen“ (wirklich!) ihres persönlichen Leides zu einer Art unerreichbarer Priesterkaste mutierten, die nur noch Augen für ihre eigene Marginalsituation hätten – und daher durch die heftige Kritik am Rassismus selbst zu Rassisten, nämlich gegenüber der weißen Mehrheit würden. Erst wenn rassistisch diskriminierte Menschen auch erkennten, (und ja, das ist ein Wort), dass sie mit ihrem Protest gegen Rassismus die armen Weißen diskriminierten, könne Gleichheit erreicht werden. Weiße sollten also die Antirassismus-Arbeit federführend betreiben, weil sonst gegen sie diskriminiert würde. Die armen, armen weißen Männer, haben ja sonst auch keinerlei Machtpositionen.

Erinnert mich frappant an Deutschland, wo man ausschließlich Nichtjuden als Antisemitismusbeauftragte einsetzt (desgleichen als Leiter des Jüdischen Museums Berlin). Betroffene sind also zu betroffen um zu erkennen, wo sie betroffen sind.

Und spätestens hier reicht dann die oben angegebene Handbewegung.

Deswegen höre ich auch öfter: „Ja, klar, Du bist ja Jüdin, Du musst ja Israel verteidigen!“ (‚und Du die Nazis’, denke ich dann gern mal, Geschichte lässt sich nicht verleugnen.)

Bereits strukturelle Mechanismen der Schuldabwehr.

Dieses „Du bist schuld!“ – „nein, Du!!“ ist seit dem Kindergarten bei minderbemittelten Gegnern ein probates Mittel im Kampf. Aber das System scheint auch Erwachsenen kaum je aufzufallen, und das ist das Erstaunliche.

Wenn sich, wie jüngst geschehen, in den USA eine Demokratische Abgeordnete mit HipHop-Moderatoren gemein macht und in schöner Zweisamkeit israelische Menschen und ihre Verteidiger als „white supremacists“ (Verfechter weißer Überlegenheit) bezeichnete, um sie damit zu diskreditieren, wird sie nicht allgemein ausgelacht, obwohl es doch ganz offensichtlich und leicht belegbar ist, dass es ja im Gegenteil die palästinensische und islamistische Führerschaft ist, die den Juden das Menschliche abspricht. Aber keiner – außer den wenigen und marginalisierten „üblichen Verdächtigen“ – fühlt sich bemüßigt, lautstark zu protestieren oder gar zu belegen, dass Juden und Muslime demokratischer und gleichberechtigter im jüdischen Land leben als es jedes andere Land der gesamten Region (und in weiten Teilen der restlichen Welt) irgendwann in seiner gesamten Geschichte geschafft hätte.

Schuldumkehr ist Schubumkehr

Israel ist kriegstreiberisch, weil es sich gegen Angriffe wehrt.
Frauen sind männerfeindlich, weil sie die Hälfte – und zwar wirklich die Hälfte! – vom Kuchen wollen.
Schwarze sind rassistisch, weil sie nicht anerkennen, dass die Norm gefälligst weiß zu sein hat.
Demokraten sind gegen die Meinungsfreiheit, weil sie die Behauptungen von AfD, FPÖ &Co nicht einfach diskussionslos stehen lassen wollen.
Und Menschen, die für Israel einstehen, sind eben „white supremacists“, weil sie für jüdisches Überleben eintreten, und damit sozusagen erstens weiß und zweitens gegen alles Nichtweiße seien.

Die Absurdität ist nicht in Worte zu fassen – und auch einen Arm über den Kopf legen wird hier nicht mehr ausreichen.

Das Dumme ist: Es funktioniert!

Gefühlte Wahrheiten werden, weil sie bequemer sind, zu Gewissheiten, und dann kriegt man sie nicht mehr weg – das ist die Bedrohung.

Der Begriff „schlecht“ bedeutete einst genau das Gegenteil, (noch erkennbar an Worten wie „schlechthin“ oder „schlechterdings“), wurde aber so lange verballhornt und für sein Gegenteil verwendet, bis man das schlicht vergaß.

So hat man vieles vergessen. Etwa, was das Wort ‚Apartheid’ eigentlich bedeutet, und dass es nach wie vor jede Menge Orte gibt, wo Juden verboten sind, aber praktisch keine Plätze, die Araber nicht betreten dürften. Oder dass nur wenige Moscheen oder Kirchen polizeilichen Schutz brauchen – aber alle Synagogen.

Das anfangs noch verlachte Wort der „alternativen Fakten“ hat inzwischen eine gewisse Glaubwürdigkeit errungen, und keiner scheint’s zu merken.

Warum, bitte, soll Israel ein Gebiet, das seit Menschengedenken „Judäa“ heißt, als arabisch anerkennen, noch bevor ein Land, das „Israel“ heißt, allseits als jüdisch anerkannt wird? (Zumal das Prinzip „Land gegen Frieden“ bei den Palästinensern ja noch nie funktioniert hat.)

Und warum, bitte, sollen Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung Nichtjuden sein? Die wissen ganz sicher nicht besser, wo Antisemitismus beginnt! Aber sie wissen eben besser, ab wo eine Änderung bestehender Gewohnheiten weh täte, und greifen genau da eben nicht ein.

All das geschieht nur, weil man es sich in seinem kleinen Vorurteilskästchen bequem gemacht hat, und es tut nun mal weh, wenn eine innere Ordnung umgestoßen wird.

Ich fürchte aber, wenn man weiterhin die Gefahr dieser argumentativen Schubumkehr nicht erkennt, wird eines Tages ein Arm, um den Kopf gelegt, kein wortloses Beschreiben einer diskursiven Fehlhaltung mehr sein, sondern eine Schutzbewegung vor dem Schlag.

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