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Algerien wirft Regierungskritiker ins Gefängnis

Proteste gegen Inhaftierung eines regimekritischen Bloggers in Algerien
Proteste gegen Inhaftierung eines regimekritischen Bloggers in Algerien (Quelle: Facebook)

Mit zum Teil gewaltsamen Protesten haben aufgebrachte Bürger der algerischen Stadt Ouargla am Sonntag, den 28. Februar ihre Empörung über das harsche Urteil gegen einen Blogger zum Ausdruck gebracht. Das berichten die französischsprachige algerische Zeitung El Watan und die französische Tageszeitung Le Monde.

Ouargla liegt 800 Kilometer südlich der Hauptstadt Algier. Der Blogger Ameur Guerrache war von einem Gericht zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Haftstrafe von zehn Jahren gefordert.

Guerrache wurde laut El Watan folgender Anklagepunkte für schuldig befunden: „Anstiftung zu Terrorakten“, „Duldung von Terrorakten“, „vorsätzliches Nachdrucken und Verbreitung von Veröffentlichungen, die Terrorakte billigen“, „Angriff auf die Person des Präsidenten der Republik“, „Veröffentlichungen, die dem nationalen Interesse schaden könnten“ sowie „Aufruf zu Versammlungen“.

Laut El Watan seien die zunächst friedlichen Demonstrationen in Ouargla am Nachmittag „eskaliert“. Die Zeitung berichtet von Straßenblockaden und brennenden Reifen. Schon in den Wochen zuvor hatte es in dem Ort Proteste und Blockaden gegeben.

Wie Le Monde berichtet, war Guerrache am 1. Juli 2020 in seinem Haus festgenommen worden. Laut dem Nationalen Komitee für die Freilassung der Gefangenen (CNLD), das sich für die Freilassung der bei den Hirak-Protesten Verhafteten einsetzt, ist er ein 31-jähriger Aktivist und Dichter und „seit mehreren Jahren einer der wichtigsten Führer der Mekhadma-Bewegung”.

Die Mekhadma-Bewegung hat ihren Namen von einem Armenviertel in Ouargla, in dem im Juni 2020 Hunderte von Menschen friedlich gegen die schlechten Lebensbedingungen protestierten.

Mena-Watch sprach über die Situation in Algerien mit Salah (Name von der Redaktion geändert) von Hirak Berlin Deutschland. Die Gruppe Hirak Berlin Deutschland, der nach Salahs Angaben 30 bis 50 Personen angehören, wurde im Februar 2019 gegründet, um die Demokratiebewegung in Algerien von Deutschland aus zu unterstützen.

Im Gefängnis wegen Kritik an der Regierung

„Ameur Guerrache ist einer der bekanntesten Organisationskader der Protestbewegungen in der Provinz Ouargla und in Südalgerien allgemein“, sagt Salah. Auf seiner Facebookseite habe Guerrache die Vernachlässigung des südlichen Landesteils durch die Regierung in Algier angeprangert und mit der „Möglichkeit einer Rebellion“ gedroht.

Laut dem algerischen Radiosender Radio M habe die Staatsanwaltschaft Guerrache Verbindungen zu Terroristen und dschihadistischer Ideologie unterstellt und behauptet, er habe eine französische Flagge verbrannt. Guerraches Anwalt Ahmed Chebouat, so Salah, habe diese Vorwürfe gegenüber dem Sender und auch vor Gericht als „frei erfunden“ bezeichnet. Auch habe sein Mandant „niemals terroristische Handlungen gebilligt oder gelobt“.

Was kann Salah über die Makhdma-Bewegung sagen, als deren Wortführer Guerrache gilt? „Die Bewegung kommt aus dem Viertel Al-Mekhadma in Ouargla. Dort gibt es oft Proteste gegen die Politik der Regierung: gegen die Vernachlässigung bei der Infrastrukturentwicklung, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung der Einheimischen bei der Jobvergabe im größten Erdölkonzern Sonatrach und gegen die hohe Arbeitslosigkeit im Süden Algeriens allgemein.“

Die Provinz Ouargla mit ihren Erdölfeldern in der Region Hassi Messaoud sei einerseits „eine der reichsten Provinzen in Algerien“, wenn man an das Öl denke, sagt Salah. „Aber gleichzeitig ist sie die ärmste Provinz in Algerien, mit der schlechtesten Infrastruktur, schlechten Lebensbedingungen und hoher Arbeitslosigkeit.“

Welche anderen Blogger oder Journalisten sitzen derzeit wegen Meinungsäußerungen im Gefängnis? Salah nennt drei Fälle:

  • Der 55-jährige Abdellah Benaoum sei seit dem 9. Dezember 2019 wegen Facebook-Posts inhaftiert, in denen er die umstrittenen algerischen Wahlen 2019 und die Unterdrückung der Reformbewegung Hirak kritisiert habe.
    Derzeit befinde er sich im Gefängnis Oran. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes sei er körperlich nicht in der Lage, seine Anwälte oder seine Familie zu treffen. „Dennoch haben Gerichte zu Unrecht mehrere Anträge seiner Anwälte auf vorläufige Freilassung abgelehnt, obwohl sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hat“, so Salah.
  • Sami Dernouni: Er sei seit Dezember 2020 im Gefängnis Kloea in der Provinz Tipaza inhaftiert, wegen „Anstiftung zu einer Menschenversammlung“, „Gefährdung der nationalen Einheit“ und „Gefährdung der nationalen Sicherheit“.
    Laut dem Nationalen Komitee für die Freilassung der Gefangenen (CNLD) haben die Anwälte von Dernouni schockierende Enthüllungen über den Fall Ihres Mandanten gemacht. Nach seiner Verhaftung sei er in die Antar-Kaserne in Algier gebracht worden, ein berüchtigtes Folterzentrum. Dort sei er ausgezogen, geschlagen und mit Stromschlägen gefoltert worden.
  • Said Boudour: Ein Journalist, Menschenrechtler und Mitglied der Algerischen Liga für Menschenrechte. „Diese ist bekannt dafür, dass sie sich des in Algerien gefährlichen Themas der Rechte von Migranten annimmt“, erklärt Salah. „2018 wurde Boudour von der Zivilpolizei festgenommen und zu seiner Menschenrechtsarbeit befragt, einschließlich seiner Artikel über einen Korruptionsskandal und anderer Aktivitäten.“
    Boudour sei der Ersten gewesen, der im Frühjahr 2018 über einen großen Kokainfund im Hafen von Oran berichtet habe, sagt Salah. Für französische und arabische Zeitungen und Rundfunksender habe er über Masseninhaftierung, Misshandlungen und Deportationen von Hunderten von Migranten aus dem Afrika südlich der Sahara berichtet. „Er wurde nicht nur festgenommen und befragt, sondern seine Familie wurde in ihrem Haus bedroht“, sagt Salah.

Inhaftiert wegen einer Kamera

Es gebe „Dutzende Blogger und Youtuber“, deren Namen nicht bekannt seien, die aber verfolgt würden, weil sie im Internet Videos gepostet oder sich kritisch über die Regierung geäußert hätten, sagt Salah.

„Manche von Ihnen wurden verurteilt, nur weil sie Kameras oder Geräte besitzen, die nicht im Inland erhältlich sind. Ihnen wurde vorgeworfen, Unterstützung aus dem Ausland zu bekommen, um die nationale Sicherheit zu gefährden.“

Welche anderen öffentlichen Proteste gab es in Algerien in letzter Zeit? „In der Provinz Bejaia, 300 Kilometer östlich von Algier, häufen sich Demonstrationen“, sagt Salah. Es gebe fast jede Woche eine Kundgebung. Gründe seien die sozialen Probleme, der Mangel an Infrastruktureinrichtungen und die Korruption der Verwaltung in der Region.

Am 19 Februar hat Präsident Abdelmadjid Tebboune 59 Häftlinge der demokratischen Opposition begnadigt. Gibt es ein Muster, wem Milde zuteil wird und wer hart bestraft wird? „Die Begnadigung durch den Präsidenten ist eine politische und keine juristische“, sagt Salah. „Das heißt, dass die Gefangenen trotz der Begnadigung immer noch juristisch verfolgt werden. Nur wer seine Haftstrafe verbüßt hat, wird nicht mehr verfolgt.“

Laut Abid Saouar, einem Anwalt, der für das CNLD arbeite, hätten Gerichte „Gefangene gezwungen, eine vorübergehende Freilassung zu beantragen, damit sie bei der Begnadigung des Präsidenten rauskommen dürfen. Aber weil die Strafverfolgung nicht abgeschlossen war, wurden sie zwei Wochen nach der Begnadigung wieder verurteilt.“

„Regime wird von der Welt verschont“

Wie bewertet Hirak Berlin Deutschland den Fall Ameur Guerrache und die allgemeine Lage in Algerien? „Wir verurteilen alle willkürlichen Urteile der algerischen Justiz gegen die friedlichen Aktivisten in Algerien, seien es Aktivisten der Hirak-Bewegung oder Aktivisten von Protestbewegungen gegen die sozialen Probleme, wie im Fall von Ameur Guerrache“, sagt Salah.

„Die algerische Verfassung garantiert das Versammlungsrecht und das Recht, friedlich zu demonstrieren, aber das Regime instrumentalisiert die Justiz und tritt die Gesetze mit Füßen. Sie verfolgt alle Regimegegner mit harten Strafen und wendet zum Teil Gewalt und Folter gegen Gefangene an, wie in den Fällen von Walid Nakiche und Sami Dernouni. Das algerische Regime respektiert keine Menschenrechtsabkommen. Trotz dieser Taten wird es leider von der Weltgemeinschaft geschont.“

Die algerische Regierung plane sogar bereits ein Gesetz, um Algeriern, die im Ausland leben und gegen das Regime aktiv sind, die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, sagt Salah. Das habe zu einer heftigen Diskussion in den sozialen Medien geführt. Diese seien die einzige Möglichkeit in Algerien, um die Politik der Regierung zu kritisieren.

„Alle öffentlichen und privaten Sender in Algerien sind vom algerischen Regime kontrolliert und verbreiten die Propaganda des Regimes gegen die Hirak Bewegung.“

Am Freitag, 5. März, nahm das Büro von Rupert Colville, dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Stellung zur Lage in Algerien. In einer Erklärung verurteilte er „Algeriens Vorgehen gegen Mitglieder der Demokratiebewegung Hirak“ und sprach von „unnötiger oder übertriebener Gewalt und willkürlichen Verhaftungen“.

Seit der Wiederaufnahme der Proteste am 13. Februar 2021 habe die Polizei „Hunderte“ verhaftet. „Vage formulierte Bestimmungen des algerischen Strafgesetzbuchs werden verwendet, um die Meinungsfreiheit unzulässig einzuschränken und Personen zu verfolgen, die abweichende Meinungen äußern“, so der Hochkommissar.

Mangelnde Berichterstattung

„Glaubwürdigen Berichten“ zufolge würden „rund 1.000 Personen wegen Teilnahme an der Hirak-Bewegung oder wegen der Veröffentlichung von regierungskritischen Social-Media-Nachrichten strafrechtlich verfolgt“. Derzeit säßen „mindestens 32 Personen wegen legitimer Ausübung ihrer Menschenrechte“ im Gefängnis, von denen einige bereits zu „langen Haftstrafen“ verurteilt worden seien, während sich andere sich noch in Untersuchungshaft befänden. Es gebe auch Vorwürfe „wegen Folter und Misshandlung in Haft erhalten, einschließlich sexueller Gewalt“.

Der UN-Hochkommissar rief die algerischen Behörden dazu auf, „ihre Gewalt gegen friedliche Demonstranten zu beenden“. Alle „willkürlich Festgenommenen“ müssten freigelassen und die gegen sie erhobenen Anklagen fallengelassen werden. Er forderte die algerischen Behörden außerdem auf, „unverzüglich, unparteiisch und wirksam Ermittlungen zu allen Vorwürfen von Folter und Misshandlung in Haft durchzuführen, alle Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und sicherzustellen, dass die Opfer Zugang zu Rechtsbehelfen haben“.

Zudem müssten die Gesetze aufgehoben werden, mit denen „Personen verfolgt werden, die ihr Recht auf Meinungs- und Meinungsfreiheit und friedliche Versammlung ausüben“.

Salah sagt gegenüber Mena-Watch, Hirak Berlin Deutschland halte seit nunmehr „106 Wochen“ jeden Sonntag von 14 bis 17 Uhr eine Kundgebung vor dem Brandenburger Tor ab. „Mittwochs demonstrieren wir vor den Studios von ARD und ZDF, um auf die mangelnde Berichterstattung des deutschen Fernsehens über die aktuellen Entwicklungen in Algerien hinzuweisen.“ Er legt Wert auf die Feststellung, dass dies „kein Protest“ sei: „Wir wollen mit den Medien ein Gespräch darüber führen.“

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