Mit dem Vorwurf, sie hätten „Familienwerte“ verletzt, geht in Ägypten der Staat gegen Missbrauchs- und Vergewaltigungsopfer vor.
Mona El-Naggar, The New York Times
Es war eine Party, die Aya Khamees mit allen Mitteln zu vergessen versucht hat.
Eines Abends im Mai traf sich die 18-jährige Frau mit einigen Freunden und ein paar von deren Freunde in einem schäbigen Hotel außerhalb von Kairo, nicht weit von den majestätischen Pyramiden von Gizeh entfernt. Sie brachten Hühnchen und Reis, Bier und Haschisch mit und mieteten ein paar Zimmer zum Abhängen, wobei sie die strengen gesellschaftlichen Regeln Ägyptens missachteten, die unverheirateten Männern und Frauen verbieten, sich privat zu treffen.
Gegen 1 Uhr morgens brach ein Streit aus. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft ging ein junger Mann, der vorgab, Frau Khamees zu beruhigen, mit ihr in einen Raum, hielt ihr ein Rasiermesser ins Gesicht und vergewaltigte sie.
Sie ging zu einer Polizeistation, und wurde, geschlagen und verletzt wie sie war, weggeschickt und aufgefordert, zu einer anderen Station zu gehen. Da sie keine Familie hatte, von der sie Unterstützung hätte bekommen können, fühlte sie sich verlassen und allein.
Also wandte sie sich ihrer virtuellen Welt zu. Sie schaute mit ihren von Blutergüssen schwarz gezeichneten Augen und ihrem zerschnittenen Gesicht direkt in ein Telefon und postete einen Bericht über den Angriff auf sie auf TikTok, wo sie Hunderttausende Follower hatte.
„Wenn die Regierung zuschaut, will ich, dass sie aufsteht und meine Rechte sichert“, forderte sie.
Das Video verbreitete sich viral, und innerhalb weniger Tage hatte die Polizei die gesamte Gruppe festgenommen: den angeklagten Vergewaltiger, die anderen Parteigäste – und Frau Khamees. Sie wurde der Prostitution, des Drogenkonsums und eines Verbrechens angeklagt, das erst vor kurzem in das ägyptische Strafgesetzbuch aufgenommen wurde: Verletzung der Familienwerte.
Dem Opfer die Schuld für ein Sexualverbrechen zu geben, ist in Ägypten nicht ungewöhnlich. (…) „Zuerst wollte mir die Regierung nicht helfen“, sagte Frau Khamees in einem Interview. „Aber als viele Leute sich zu Wort meldeten, als meine Geschichte zu einem öffentlichen Fall wurde, änderte sich das.“
Auch wenn das Fallenlassen der Anklage gegen das Opfer wie ein dürftiger Fortschritt erscheinen mag, war der Fall ein Vorbote großer Veränderungen, die die traditionelle männlich dominierte Kultur Ägyptens erschüttert haben. Eine Generation junger Frauen, die online neue Freiheiten und eine Stimme in den sozialen Medien gefunden hat, fordert die alte Garde eines sozial konservativen, patriarchalischen Staates heraus, der die Moral der Frauen kontrollierte und gleichzeitig zuließ, dass Verbrechen gegen sie ungestraft bleiben.
Im Juli gingen Dutzende von Frauen mit Anschuldigungen gegen einen Serienvergewaltiger an die Öffentlichkeit, was zu einer Verhaftung und strafrechtlicher Verfolgung führte. In einem anderen hochkarätigen Fall sagte eine Frau gegen eine Gruppe wohlhabender junger Männer aus und beschuldigte sie, sie vor Jahren in einem Fünf-Sterne-Hotel mehrfach vergewaltigt zu haben. Und hunderte von Berichten mit Übergriffvorwürfen langten beim Nationalen Frauenrat ein. (…)
Jetztversucht der Staat das zurückzudrängen, was nach Ansicht mancher auf die Auflösung der Grundwerte des Landes hinausläuft. Ein vor zwei Jahren verabschiedetes Gesetz zur Cyberkriminalität, dessen Zweck zum Teil darin besteht, die sozialen Medien zu regulieren, schuf das Verbrechen der Verletzung „ägyptischer Familienwerte“. Die Werte wurden nicht definiert, so dass die Entscheidung darüber, was eine solche Verletzung darstellt, den Richtern und Staatsanwälten überlassen bleibt, von denen die allermeisten Männer sind. (…)
Ägyptische Staatsanwälte verurteilten in diesem Jahr mindestens neun TikTok-Stars, allesamt Frauen, wegen Verletzung der Familienwerte zu mindestens zwei Jahren Gefängnis. (…)
Es gibt keine offiziellen Zahlen für die Häufigkeit sexueller Übergriffe in Ägypten, aber Experten sagen, dass die gemeldeten Fälle nur einen Bruchteil der begangenen Übergriffe ausmachen. Frauen haben Angst davor, die Verbrechen zu melden, weil sie fürchten müssen, beschuldigt zu werden und im Gefängnis zu landen.
Bei Ermittlungen wird in der Regel die sexuelle Vorgeschichte des Opfers untersucht, wobei der Schwerpunkt auf dem Jungfrauenstatus des Opfers liegt. Wenn sie keine Jungfrau war, so Frauenrechtlerinnen, kommen Polizei und Staatsanwaltschaft zu dem Schluss, dass sie es verdient hätte.
(Aus dem Bericht „Egyptian Teen Seeks Justice in Rape Case, and a Battle Erupts Over Women’s Rights“, der in der New York Times erschienen ist. Übersetzung von Florian Markl.)