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»Ab 1939 kam ich mir vor, als säße ich auf einem Katapult – ich war ständig in Gefahr«

Infotafel über Ruth Winkelmann bei der mobilen Ausstellung »In Echt? Virtuelle Begegnung mit NS-Zeitzeugen«
Infotafel über Ruth Winkelmann bei der mobilen Ausstellung »In Echt? Virtuelle Begegnung mit NS-Zeitzeugen« (© Imago Images / Martin Müller)

Im Gespräch mit Elisa Mercier spricht die Shoah-Überlebende Ruth Winkelmann über ihr Überleben versteckt in einer Laube in Berlin und ihre Tätigkeit als Zeitzeugin.

Elisa Mercier (EM): Frau Winkelmann, Sie wurden 1928 als Ruth Jacks in eine jüdische Familie hineingeboren. Wie lebten Sie mit Ihrer Familie in der Zeit bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen?

Ruth Winkelmann (RW): Ich bin in Hohen Neuendorf bei Berlin geboren. Den Nachnamen Winkelmann habe ich 1949 mit meiner Heirat angenommen. Mein Vater Hermann war Jude, meine Mutter Elly Christin. Vor der Heirat konvertierte sie zum Judentum. Ich bin jüdisch erzogen worden; in meiner Familie haben wir Schabbat und die jüdischen Feiertage gehalten, wir gingen in die Synagoge. Ab 1934 besuchte ich die Jüdische Mädchenschule in der Auguststraße in Berlin-Mitte. Vor dem Nationalsozialismus führten wir ein ganz normales Leben.

Für alle ersichtlich

EM: Bald jährt sich der Jahrestag der Novemberpogrome. Welche Ausgrenzungen haben Sie in dieser Zeit beobachtet und erlebt?

RW: Der 9. November 1938 war der Tag, an dem jeder sehen konnte, was die Nationalsozialisten mit den Juden vorhatten. Ab diesen Tag konnte keiner mehr sagen, dass er nichts gewusst habe. Bei den Novemberpogromen wurden jüdische Geschäfte zerstört und Waren auf die Straße geworfen. Juden wurden geschlagen und durch die Straßen gejagt, teilweise nackt. Das war in ganz Deutschland so, aber in Berlin war es besonders schlimm.

Wenig später wurde ich als »Geltungsjüdin«, wie es im Nazi-Jargon hieß, gezwungen, den gelben Stern und den Beinamen Sara zu tragen. Meine Großeltern hatten ein Geschäft in Berlin-Mitte hinter dem Roten Rathaus, sie verwerteten Schrott. Die ganze Familie arbeitete dort. Es war zwischen 1938 und 1939, als die Nazis das Geschäft zumachten. Meine Großeltern bekamen dafür jeden Monat einen Betrag ausgezahlt, der aber lachhaft gering war und weit unter dem realen Wert des Geschäftes lag. Zu Kriegsbeginn wurde mein Vater zur Zwangsarbeit verpflichtet.

EM: Mussten Sie auch Zwangsarbeit leisten?

RW: Ja. Ich habe täglich zwölf Stunden an sechs Tagen in der Woche im Schichtbetrieb gearbeitet, mit vierzehn Jahren. Das war in der Frankfurter Allee auf einem Industriehof in der Uniformfabrik Michaelski. Dort habe ich mit anderen Zwangsarbeitern Uniformen toter und verwundeter Soldaten ausgebessert. Die Uniformen waren oft total dreckig, sodass ich eine Hautkrankheit und die Krätze bekam. Die Wunden an meiner Haut eiterten, vor allem an meinen Weichstellen, aber im Krieg gab es kaum Medikamente. Die letzten Narben von der Erkrankung verschwanden erst Jahre später.

EM: 1942 wurde die Ehe Ihrer Eltern zwangsweise geschieden. Wenige Monate später verhafteten die Nationalsozialisten Ihren Vater.

RW: Meine Eltern lebten nach der erzwungenen Scheidung getrennt. Das mussten sie, denn ein Zusammenleben hätte als »Rassenschande« gegolten. Meine Mutter zog mit uns Kindern aus der gemeinsamen Wohnung in eine in der Pappelallee in Prenzlauer Berg. Mein Vater lebte von da an allein, was ihn für die Nazis zum Freiwild machte. Ich besuchte meinen Vater alle vierzehn Tage, bis er im Februar 1943 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde.

Die letzten Lebenszeichen von ihm erhielt ich im Juli dieses Jahres. Danach blieben seine Postkarten aus. Bis dahin hatte ich jeden Monat eine Karte von ihm bekommen. Als die Karten ausblieben, nahm ich an, mein Vater sei nicht mehr, und so war es auch. Ich habe aber immer gehofft, dass er zurückkommt. Bei jedem Mann mit ähnlichem Haar und seiner Statur dachte ich, das sei mein Vater. Offiziell bestätigt wurde sein Tod nach dem Krieg.

EM: Sie überlebten mit Ihrer Mutter und Ihrer jüngeren Schwester Esther versteckt in einer Laube in einer Schrebergartenkolonie. Wie haben Sie dort gelebt?

RW: Von 1939 bis 1945 kam ich mir vor, als säße ich auf einem Katapult – ich hätte jederzeit abgeschossen werden können, ich war ständig in Gefahr. 1943 wurden wir von der Gestapo verhaftet und in die Große Hamburger Straße gebracht, der Sammelstelle für Berliner Juden, die deportiert werden sollten. Durch einen Zufall erhielten wir einen Passierschein und konnten aus der Sammelstelle entkommen. Es war nun unmöglich, weiter in unserer Wohnung zu leben. Noch zwei Mal bekam ich dorthin eine Vorladung der Gestapo, mich mit meiner Schwester und Gepäck bei ihnen zu melden.

Wir tauchten in Wittenau im Norden Berlins unter, in der Laube eines Bekannten meiner Mutter, Leo Lindenberg. Die Leute in der Gegend wussten nicht, wer wir waren. Sie dachten, wir seien ausgebombt worden und wohnten deshalb dort. Die Laube war mehr ein Bretterverschlag. Wenn es draußen kalt war, dann war es auch in der Laube eisig kalt. Heizen konnten wir kaum.

Wir lebten halb versteckt, denn ich ging weiterhin arbeiten und wir blieben in der Wohnung gemeldet, sodass wir Lebensmittelkarten bekamen. Aber die Karten für Juden sahen nur ein Drittel von dem vor, was man brauchte. Anfangs haben uns Verwandte meiner Mutter mit Lebensmitteln geholfen, später wurde viele von ihnen wegen des Kriegs aus Berlin evakuiert. Wir hatten kaum noch etwas zu essen und haben oft gehungert. Im Frühjahr 1945 starb meine Schwester Esther an septischer Diphtherie, sie war acht Jahre alt. Wir hatten ja keinerlei medizinische Versorgung.

EM: Sie haben die Hilfe anderer erwähnt. Was waren das für Menschen, die Ihnen geholfen haben?

RW: Leo Lindenberg überließ uns seine Laube und wurde so zu unserem Lebensretter. Er ist ein großes Risiko eingegangen, denn wäre das herausgekommen, wäre er abgeholt worden. Solidarisch mit uns waren eigentlich alle, die wir kannten und die da waren. Wenn es Möglichkeiten gab, hat jeder geholfen. Aber sie durften und konnten oft nicht. Viele gaben sich nach außen linientreu, handelten nach innen aber anders. Ohne die Hilfe anderer Menschen hätten wir nicht überlebt.

Ruth Winkelmann
Ruth Winkelmann (© Elisa Mercier)

Anfangs fiel es mir schwer

EM: Ihre Erinnerungen sind im Buch »Plötzlich hieß ich Sara« festgehalten. Ein weiteres Buch ist in Arbeit. Sie sprechen über Ihre Erinnerungen auch oft vor Schülern und Studenten und wurden 2022 für Ihre Zeitzeugenarbeit mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

RW: Direkt nach dem Krieg haben alle, auch ich, die Erinnerungen an den Nationalsozialismus und den Holocaust weggeschoben. Erst viel später habe ich angefangen, mich mit dem Holocaust zu beschäftigen und Auschwitz besucht.

2002 begann ich mit der Zeitzeugenarbeit. Ausgelöst hat diese Arbeit eine persönliche Begegnung während eines Urlaubs. Ich saß in einem Restaurant in Danzig und trug sichtbar eine Kette mit dem Magen David. Es setzte sich eine Familie zu uns an den Tisch, die Frau fragte mich nach dem Davidstern und seine Bedeutung für mich. Ich sagte ihr, dass ich eine ganz enge Beziehung zum Davidstern habe. »Wo haben Sie überlebt?«, fragte die Frau. »Halb im Untergrund in Berlin«, erwiderte ich. Die Frau bat mich, in der Schule ihrer Tochter über meine Erfahrungen zu sprechen.

Mir sind diese Vorträge anfangs sehr schwergefallen, aber mit der Zeit änderte sich das. Ich bin 97 Jahre alt und gehe, je nach Anzahl der Anfragen, bis zu vier Tage pro Woche in Universitäten und Schulen vor allem in Berlin und Brandenburg, um mit Schülern zu sprechen und ihre Fragen zu beantworten. Teils werde ich vor geplanten Schülerfahrten etwa nach Israel eingeladen. Mit manchen Schulen arbeite ich seit Jahren zusammen. Ich erzähle den Studierenden, den Kindern und Jugendlichen, was ich erlebt habe, beantworte ihre Fragen. Durch den persönlichen, intensiven Austausch lernen sie viel mehr über die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust als aus Büchern oder dem Fernsehen. Man kann Antisemitismus so viel wirksamer entgegentreten.

Nach meinen Vorträgen etwa in Schulen kommen immer einige der Schüler zu mir, bedanken sich, wollen mich umarmen und ein Foto mit mir machen. Die Zeitzeugenarbeit kostet mich Kraft, sie hat mir aber auch geholfen, meine Erlebnisse zu verarbeiten. Ich frage mich auch, ob ich heute noch so fit wäre, würde ich diese Arbeit nicht machen.

Die Deutsch-Israelische Gesellschaft Berlin und Brandenburg veranstaltet am Montag, 3. November 2025, einen Gesprächsabend mit Ruth Winkelmann in Berlin. Zu Gast ist auch Andreas Büttner, Antisemitismusbeauftragter des Landes Brandenburg. Anmeldungen unter: schalom@digberlin.de. Bitte beachten Sie: Die Zahl der Plätze ist begrenzt.

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