Wie leben Israelis im und mit dem Raketenbeschuss der Hamas? Stefan Frank sprach darüber mit Kobi Lavy, einem Lehrer und Reiseführer aus Aschdod. Aschdod ist eine israelische Hafenstadt am Mittelmeer mit 225.000 Einwohnern, weniger als 50 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Kobi Lavy spricht fließend Deutsch, das Interview wurde am 28. Mai 2021 über Zoom geführt.
Mena Watch (MW): Auch Aschdod wurde von der Hamas mit Raketen beschossen. Wie ist es Ihnen ergangen?
Kobi Lavy (KL): Leider sind wir schon daran gewöhnt. Jedes Mal, wenn etwas im Gazastreifen passiert, dann schießen sie auch Raketen auf Aschdod, obwohl Aschdod die fünftgrößte Stadt Israels ist. Das erste Mal, dass sie auf Aschdod geschossen haben, war vor mehr als zehn Jahren [2008/2009]. Vorher lebte die Öffentlichkeit hier in dem Glauben, dass sie auf Aschdod niemals schießen würden – das wäre eine zu große Eskalation, dachte man. Anders als Sderot, das direkt neben Gaza liegt und auf das sie schon lange vorher geschossen hatten.
Aber dann haben sie auch angefangen, auf Aschdod zu schießen. Wenn etwas in Gaza passiert, dann fällt in Aschdod der Schulunterricht aus, die meisten gehen auch nicht zur Arbeit. Diesmal war die Situation etwas anders: Wir hatten lange Zeit keinen Raketenbeschuss gehabt. Darum hatte die Hamas genug Raketen gesammelt, so dass der Beschuss diesmal besonders schwer war. Es waren immer Salven von zehn bis zwanzig Raketen auf einmal. So etwas hatte es noch nie gegeben.
Wir hatten große Angst. Aber wir haben im Haus einen Schutzraum. Wir haben 40 Sekunden Zeit, um zum Schutzraum zu laufen und die Tür zu schließen. Dann warten wir, bis wir das „Bumm!“ hören. Es ist anders, seit wir das [Raketenabwehrsystem] Iron Dome haben. Jetzt wird Aschdod nicht mehr von so vielen Raketen getroffen.
Ich wohne im südlichen Aschdod, das noch näher am Gazastreifen ist als der nördliche Teil der Stadt. Die meisten Raketen kommen in meinem Viertel runter. 2010, als es Iron Dome noch nicht gab, schlugen hier sehr viele Raketen ein. Diesmal haben sie die meisten Raketen zerstört, aber es war ziemlich hart. Elf Tage lang haben wir das Haus kaum verlassen, weil es viel zu gefährlich war.
Wenn ich mit meinem Hund rausgehe, kalkuliere ich die ganze Zeit, wohin ich mit ihm gehen kann. Wie schnell kann ich in ein Gebäude rennen, um mich in Sicherheit zu bringen? Der Hund ist auch schon daran gewöhnt: Wenn er die Sirene hört, schaut er, wo er Schutz finden kann.
Das Komische mit meinem Hund ist: Wenn nicht Krieg ist, haben wir trotzdem zweimal im Jahr Sirenen, am Holocaustgedenktag und am Gedenktag für die gefallenen Soldaten. Auch dann rennt mein Hund in den Schutzraum, wenn er die Sirene hört, und erwartet, dass wir mitkommen. Er kennt den Unterschied nicht.
MW: Sind Schutzräume direkt an der Straße, so dass man sich schnell dorthin flüchten kann?
Lavy: Nein, die gibt es nur im Haus. In meinem Viertel sind die meisten Gebäude Hochhäuser mit 16 oder 18 Stockwerken. Wenn man auf der Straße ist, muss man in das Treppenhaus eines Gebäudes. Dort darf man nicht im Erdgeschoss stehen bleiben, sondern muss ins erste Stockwerk. Dann wartet man, bis man das „Bumm“ hört.
MW: Und die Haustüren sind nicht abgeschlossen, sondern immer auf?
KL: Wenn Krieg ist, kommt die Armee und klebt Schilder an die Türen, die anzeigen, dass alle Türen offen bleiben müssen, damit Leute, wenn etwas passiert, sich in den Gebäuden verstecken können. Seit dem Golfkrieg 1991 gibt es eine Vorschrift, dass alle neuen Häuser mit Schutzraum gebaut werden müssen. Ich kann Ihnen meinen Schutzraum zeigen, wenn Sie wollen.
Er nimmt die Kamera und geht damit durch den Korridor seiner Wohnung zum Schutzraum. Es ist ein kleines Zimmer mit einem schmalen Fenster aus milchigem Glas. An zwei Wänden hängt jeweils ein Poster.
KL: Der Schutzraum ist gleichzeitig das Zimmer meines Sohnes. Die Wände sind aus ganz starkem Beton. Der Raum hat eine Spezialtür und ein spezielles Fenster mit einem Eisenrahmen. Im Fall eines Alarms müssen die Tür und das Fenster geschlossen sein, damit der Raum sicher ist.
MW: Es gibt aber auch Gebäude die keinen Schutzraum haben, richtig?
KL: Ja, es gibt in Aschdod alte Viertel, dort haben die Häuser keinen Schutzraum. Meine 86-jährige Schwiegermutter etwa wohnt in einem ganz alten Gebäude. Sie hat keinen Schutzraum. Wenn die Sirene losgeht, müsste sie eigentlich ein Stockwerk nach unten gehen und dort warten. Dafür hätte sie nur 40 Sekunden. Sie ist viel zu alt, um das zu schaffen. Sie will auch nicht bei uns bleiben. Also bleibt sie in ihrer Wohnung und betet zu Gott, dass alles gut geht.
MW: Wann mussten Sie diesen Monat zum ersten Mal in den Schutzraum?
KL: Es hat angefangen mit Jerusalem. Es war das erste Mal, dass sie auf Jerusalem geschossen haben. Dann, nach zwei, drei Stunden, haben sie schon auf uns geschossen. Der erste Schlag nach Jerusalem war schon auf Aschdod, unter anderem.
MW: Wurde in Aschdod etwas getroffen, gab es Verletzte, Tote, Sachschäden?
KL: Gott sei Dank keine Toten. Ein paar Verletzte, schon in der ersten Nacht, glaube ich. Es war im Viertel neben meinem, dort hat eine Rakete ein Haus direkt getroffen. Viele der Bewohner haben dabei einen Schock erlitten. Wenn wir die Martinshörner von Feuerwehr- oder Krankenwagen hören, gucken wir alle, wohin sie fahren, dann wissen wir, wo die Raketen eingeschlagen sind.
Manchmal ist das Rausgucken aus dem Fenster aber gefährlich, eigentlich soll man den Schutzraum ja nicht verlassen. Man kann nicht nur von den Raketen verletzt werden, sondern auch vom Iron Dome. Wenn Iron Dome eine Rakete abschießt, fällt alles runter. Auf den Parkplätzen unter unserem Gebäude fanden wir viele kleine Teile, die entweder von Iron Dome oder den Raketen der Hamas stammen. Die fallen überall hin.
MW: Haben Sie gezählt, wie oft Sie in diesem Monat in den Schutzraum mussten?
KL: Während der elf Tage waren es 40- oder 50-mal. Manchmal versuchen wir abzuschätzen, wann die Angriffe wahrscheinlich sein werden. Um acht Uhr abends etwa ist die Hauptnachrichtensendung des israelischen Fernsehens. Zu dieser Zeit schießt die Hamas besonders gern Raketen. Dann sind wir schon darauf vorbereitet, und ich war dann vorher schon mit meinem Hund draußen.
Um acht Uhr müssen wir dann in der Nähe des Schutzraums sein. Manchmal auch die ganze Nacht. Wir hatten zwei oder drei Nächte, wo meine Frau so müde war, dass sie im Schutzraum geschlafen hat, um nicht jedes Mal bei Alarm geweckt zu werden und dann in den Schutzraum laufen zu müssen.
MW: Was war das für Sie Härteste während des Beschusses?
KL: Das Schlimmste war, dass meine Tochter von einem Auslandsaufenthalt zurückgekommen ist und wir sie vom Flughafen abholen mussten. Der Flughafen ist bei Tel Aviv. Dann sind wir – die ganze Familie – mit dem Auto vom Flughafen nach Aschdod gefahren. Das war nach acht Uhr abends. Auf dem Weg gab es zweimal Raketenalarm. An der Autobahn gibt es keinen Schutzraum. Man muss rechts ran fahren, schnell aus dem Auto steigen, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen und die Hände hinter dem Kopf verschränken.
Dann muss man abwarten und hoffen, dass die Raketen einen nicht treffen. Das macht viel Angst. Für eine meiner Töchter ist das ganz, ganz schwer. Sie hatte Panikattacken, hat im Auto geweint und wollte endlich zu Hause sein und diesen schrecklichen Weg hinter sich lassen. Zu Hause war dann alles okay.
MW: Wie alt ist Ihre Tochter?
KL: Eine ist 28, die andere 24 Jahre alt. Weil die eine Tochter aus dem Ausland zurückgekommen ist, hat die ganze Familie entschieden, zu uns nach Aschdod zu kommen, obwohl hier die Raketen sind. Wir wollten zusammen sein. Deswegen ereilte uns der Raketenbeschuss auf dem Weg.
MW: Wie verdienen Sie derzeit Ihren Lebensunterhalt?
KL: Weil jetzt Corona ist und ich keine Touristen habe, denen ich Israel zeigen kann, arbeite ich jetzt wieder in meinem alten Beruf als Lehrer. Während des Beschusses gab es auch keinen Schulunterricht. Wir haben alles über Zoom gemacht, wie schon zuvor wegen Corona. Der Zoom-Unterricht wurde dann immer wieder von Raketen unterbrochen. Dann gehen alle in die Schutzräume. Hinterher sieht man sich auf Zoom wieder und fragt nach Verletzten und ob es allen gut geht und die Häuser noch intakt sind und so weiter.
MW: Wenn nachts immer wieder Alarm ist, hat es dann überhaupt Sinn, nach dem Alarm sich ins Bett zu legen und zu versuchen, zu schlafen oder ist man dann tagelang ohne Schlaf?
KL: Tagelang ohne Schlaf, so ist es. Es gibt einen Punkt, wo man schon gar keine Lust mehr hat, die Fernsehnachrichten zu gucken. Man guckt nur Filme und so etwas. Man geht gar nicht Schlafen, weil man weiß, dass es vielleicht wiederkommt. Manchmal war es so, dass wir gesagt haben: „Jetzt versuchen wir, zu schlafen“ – und dann ging es wieder los.
Nach ein paar Tagen wussten wir, sie machen das in Akten: Jetzt werden sie eine halbe Stunde lang Raketen schießen. Danach, wissen wir, wird die israelische Luftwaffe die Raketenstellungen unter Beschuss nehmen, vielleicht werden wir dann eine Stunde Ruhe haben. Danach wird es wieder losgehen. So war es Tage und Nächte lang, die ganze Zeit.
MW: Wenn man tagelang nicht schläft, wird man dann nicht irgendwann einschlafen, wo immer man sich gerade befindet?
KL: Ja, im Schutzraum.
MW: Wechseln Sie sich dann mit dem Schlafen ab? So groß ist der Schutzraum ja nicht.
KL: Wir legen Matratzen auf den Boden. Als die Kinder klein waren, haben sie die ganze Zeit im Schutzraum geschlafen, wenn es Raketenbeschuss gab. Das Schlafzimmer von meiner Frau und mir ist direkt neben dem Schutzraum. Wir sind dann bei jedem Alarm rübergelaufen. Jetzt bei dem letzen Krieg waren nur meine Frau und ich hier in der Wohnung, weil unsere Kinder schon aus dem Haus sind. Wir haben dann versucht, im Schutzraum zu schlafen.
Aber wenn die Sirene losgeht, muss man aufstehen und die Eisentür schließen. Man kann sie nicht einfach die ganze Zeit geschlossen halten, weil es dann im Zimmer bald keine Luft mehr gibt. Aus diesem Grund kann man auch nicht zu lange im Schutzraum bleiben. Es gibt keine Klimaanlage und die Fenster sind geschlossen. Irgendwann hat man keine Luft zum Atmen mehr.
Es gibt Leute, die Angst davor haben, im Schutzraum zu schlafen. Nicht nur, weil sie klaustrophobisch sind; im Schutzraum hört man die Sirene nicht so gut. Das ist auch der Grund, warum wir alle auf den Handys Apps haben, die dann ebenfalls Alarm signalisieren.
Kurz gesagt: Der Raketenbeschuss bestimmt unser ganzes Leben. Dabei ist unsere Situation in Aschdod noch vergleichsweise gut. Die Hamas geht ein hohes Risiko ein, wenn sie auf uns schießt, weil wir eine große Stadt sind. Für die kleinen Städte um den Gazastreifen herum ist es viel schlimmer. Die Leute dort haben nur 15 Sekunden Zeit, um in den Schutzraum zu gehen. Sie standen während der elf Tage die ganze Zeit unter Beschuss.
Für Aschdod und Tel Aviv braucht die Hamas wegen der Entfernung sehr große Raketen. Aber für Orte, die nur fünf Kilometer vom Gazastreifen entfernt sind, reichen ihr ganz kleine Raketen. Oder Ballons mit Feuer, die schießen sie auch.
Und das geht die ganze Zeit. Die Leute dort sind also die ganze Zeit im Schutzraum. Da erscheint dann auf den Handys der Bewohner die Nachricht, dass sie ihre Häuser überhaupt nicht verlassen sollen. Also auch, wenn jemand einen Hund hat, kann er mit dem nicht vor die Tür, denn da fliegen die Raketen die ganze Zeit. Nur, wenn Krieg ist. Wenn kein Krieg ist, ist die Umgebung unvorstellbar friedlich, total anders.
MW: Wie gehen die Leute in Aschdod damit um? Gibt es nachbarschaftliche Solidarität, dass man versucht, einander Mut zu machen, man gemeinsam betet, einer dem anderen hilft?
KL: Ja. Zum Beispiel Beten: Ich selbst bin nicht religiös, aber es gibt viele religiöse Leute in meinem Viertel. Zum Gebet müssen bei den Juden immer mindestens zehn Juden versammelt sein. Die Synagoge ist etwa 500 Meter entfernt, aber das ist zu weit, und in der Synagoge gibt es keinen Schutzraum. Dann treffen sich die Leute also zum Beispiel auf den Parkplätzen unter unserem Gebäude, um zusammen zu beten.
Oder, was Einkäufe betrifft: In unserem Gebäude gibt es 63 Wohnungen. Wir haben eine WhatsApp-Gruppe und fragen dann z.B. die älteren Leute, ob sie etwas brauchen, das wir für sie einkaufen sollen. Wir machen dann eine Liste, und einer erklärt sich bereit, für alle einzukaufen, Milch, Brot und so weiter. Direkt neben dem Gebäude gibt es einen kleinen Laden, der auch einen Schutzraum hat. Wenn wir einkaufen, machen wir das ganz schnell, und wenn wir im Laden sind, können wir uns dort verstecken.
MW: Wen aus Ihrem Bekanntenkreis hat der Raketenbeschuss seelisch am Schwersten mitgenommen?
KL: Die Schwester des Mannes meiner Schwester. Ihr Haus in Aschkelon wurde total zerstört. Eine Rakete hat die Wohnung über ihr direkt getroffen und die Rakete ist vom Dach zu ihr runtergekommen. Es ist eine ganz neue Wohnung, im vierten Stock, glaube ich, sie hat sie erst vor zwei Jahren gekauft.
Jetzt hat die Armee ihr gesagt, dass sie nicht in ihre Wohnung zurückdarf, weil einige Stücke der Rakete im Hauptgebäude niedergegangen sind und die Armee fürchtet, dass das ganze Gebäude einstürzen wird. Sie darf nicht einmal etwas aus ihrer Wohnung rausholen. Sie muss alles neu kaufen. Die Regierung hat ihr gesagt, dass sie sich erst einmal eine Mietwohnung suchen muss. Die Regierung wird dafür bezahlen, aber ihr Haus hat sie verloren. Das Gebäude wird sicherlich abgerissen und neu gebaut werden.
MW: Wie verkraften die Kinder in Aschdod die Situation?
Lavy: In der Schule waren die ersten Tage nach dem Krieg nur für Gespräche da, ob alles gut geht. Auch während des Krieges haben wir über WhatsApp Kontakt zu den Kindern gehalten und gefragt, ob jemand was braucht. Die Wahrheit ist, dass die Kinder wirklich schon daran gewöhnt sind. Sie wissen genau, was sie tun müssen. Sie nehmen das nicht auf die leichte Schulter.
Während des Krieges sind die Straßen völlig leer. Niemand ist auf der Straße, alle sind zu Hause. Wir wissen, wie gefährlich das ist, wir hatten schon Tote in Aschdod. Die Stadtverwaltung von Aschdod patrouilliert die ganze Zeit die Straßen, um darauf zu achten, dass niemand unterwegs ist und um zu gucken, ob jemand Hilfe braucht.
Als das Haus einer Kollegin von mir von einer Rakete zerstört wurde, haben wir Lehrer entschieden, ihr alle zu helfen. Nicht nur mit Sachen, auch mit Geld. Ein Lehrer hat sie und ihre Familie bei sich aufgenommen. Sie kann nun dort bleiben, bis ihr Haus repariert ist. Die ganze Gemeinschaft ist um jeden Einzelnen herum, um ihm zu helfen. Das ist, was wir haben: Wir haben einander, das ist alles, was da ist.
MW: Gibt es Leute, die Aschdod verlassen, an einen Ort Israels gehen, den sie für sicherer halten?
Lavy: Ja, viele. Wenn so etwas anfängt, dann bekommen wir alle über das Internet und WhatsApp Einladungen von Leuten, die im Norden leben und uns einladen, die Zeit bei ihnen zu verbringen. In der unmittelbaren Umgebung des Gazastreifens leerten sich die Dörfer, weil die meisten Bewohner nach Norden gefahren sind. Freunde von mir haben ihr Haus in der Nähe des Gazastreifens zurückgelassen und sind nach Haifa gefahren.
An einem Tag wurden auch Raketen vom Südlibanon auf den Norden Israels geschossen, und eine Rakete schlug in der Nähe des Hauses in Haifa ein, wo sie sich gerade aufhielten. Sie haben sich gefragt: Wohin gehen wir jetzt? Im Süden wollten wir nicht sein und nun schlagen auch im Norden Raketen ein. Zum Glück war das im Norden nicht so lange wie bei uns im Süden. Also, ja: Es gibt viele Leute, die ihre Häuser verlassen und nach Norden gehen.
MW: Also Israelis aus dem Norden laden Israelis aus dem Süden zu sich nach Hause ein – Leute, die sie gar nicht kennen?
KL: Sie kennen sie überhaupt nicht. Im Fernsehen gibt es ein Laufband. Dort werden bei Raketenangriffen die ganze Zeit die Namen und Telefonnummern von Familien eingeblendet. Wer im Süden ist und wegfahren möchte, kann sich dort melden. Auch Betreiber von Hotels und Bed & Breakfast, von denen es im Norden viele gibt, bieten ihre Zimmer für Bewohner des Südens kostenlos an, bis der Krieg vorbei ist.
MW: In Aschdod gibt es viele Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Gibt es unter ihnen welche, die bedauern, Aliyah gemacht und nach Israel gekommen zu sein?
Lavy: So etwas habe ich noch nie gehört. Aschdod hat 16 Viertel. In dreien von ihnen wohnen die meisten Russen – also Israelis, die aus Russland gekommen sind. Diese Viertel waren nun ganz stark vom Raketenbeschuss betroffen. Ich habe viele russische Freunde und auch russische Kinder in der Schule, und ich habe noch nie gehört, dass sie Israel verlassen wollten oder dass ihre Freunde aus Russland oder der Ukraine sie jetzt aus Angst nicht würden besuchen wollen.
Es ist so, dass wir als Juden wissen, dass dies das einzige Land ist, wo wir in Frieden leben können. Für Nichtjuden ist das vielleicht schwer zu verstehen. Trotz all der Raketen und Kriege ist Israel der einzige Ort der Welt, wo ich mich sicher fühle. Und ich habe sechs Jahre in Europa gelebt, vier in Deutschland und zwei in Belgien. Ich fühlte mich dort nie so sicher wie hier in Israel – trotz allem, was vor sich geht.
Hier kann ich meine Sprache sprechen, hier kann ich mein jüdisches Leben im Alltag leben, ohne mich verstecken zu müssen oder Angst davor haben zu müssen, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen. Denn das ist mein Land. Und ich glaube, die aus Russland kommen, fühlen dasselbe.
MW: Hatten Sie in Deutschland und Belgien Antisemitismus selbst erlebt?
KL: Ja, viel. In Deutschland war ich als Kind, zwischen 1979 und 1983. Mein Vater hat dort in der Botschaft gearbeitet und ich war in einer amerikanischen Schule. Der Antisemitismus kam von den Amerikanern, nicht von den Deutschen. Das war ziemlich schlimm.
MW: Das war in Bonn?
Lavy: Ja. Das waren Kinder amerikanischer Navy-Soldaten, vor allem aus den Südstaaten der USA. Die haben sich uns Juden gegenüber wirklich ganz schlimm benommen. Mit den Deutschen war alles gut. Ich glaube, Westdeutschland war in den Achtziger Jahren noch ein bisschen anders. Hakenkreuze in den Straßen sah man gar nicht. Heute, wenn ich mit israelischen Gruppen nach Deutschland komme – denn ich arbeite auch als Reiseführer in Deutschland –, dann sehen wir leider manchmal Hakenkreuze an den Wänden.
Als Kind habe ich nie einen Neonazi gesehen, in Bonn bestimmt nicht. Später, als ich in Brüssel Student an der Universität war, habe ich viele Hakenkreuze und Demonstrationen von Neonazis gesehen, auch Demonstrationen gegen die jüdische Gemeinde von Brüssel. Das war sehr oft. Wenn ich heute mit israelischen Touristen nach Brüssel komme, habe ich immer Furcht. Nicht nur wegen der Neonazis, sondern auch wegen der Muslime, die dort wohnen. In Brüssel gibt es jetzt so viele Muslime, da habe ich immer Angst, dass etwas Schlimmes passiert.
MW: Haben die Bewohner von Aschdod die Hoffnung, dass es in Zukunft friedlicher wird oder haben sie resigniert und nehmen den Raketenbeschuss hin?
Lavy: Ich glaube, die meisten, die in einem Umkreis von 40 Kilometern um den Gazastreifen leben, waren sehr enttäuscht, als diese Operation zu Ende war. Elf Tage lang haben wir gesagt: Sie sollen weitermachen. Wir warten, dass die Hamas weggeht. Die meisten von uns glauben, dass es eine Lösung gibt. Man muss eine Lösung finden, mit den Palästinensern sprechen und Frieden bringen.
Solange die palästinensische Regierung nicht wieder die Macht im Gazastreifen übernimmt, wird es so bleiben, wie es ist. Wir wollten wirklich, dass dieser Krieg weitergeht und die Hamas im Gazastreifen beseitigt wird. Aber wir sind auch nicht naiv. Wir wissen auch, dass die Luftwaffe das nicht allein machen kann. Und sobald wir mit Bodentruppen in den Gazastreifen gehen, werden große Teile der israelischen Bevölkerung das nicht unterstützen.
MW: Wie könnte eine Lösung dann aussehen?
KL: Es gibt die palästinensische Regierung in der West Bank und es gibt ein anderes Land, Gaza, und dort ist die Hamas. Man muss mit beiden sprechen, um etwas Besseres zu entwickeln. Obwohl die Hamas die ganze Zeit sagt, dass wir kein Recht hätten, hier zu sein. Sie sagen die ganze Zeit, dass sie uns vernichten wollen.
Erst vor zwei Tagen haben sie das wieder gesagt, wir hätten kein Recht, hier zu sein. Ich weiß, dass die Palästinenser und die israelischen Araber hier bleiben und wir mit beiden Frieden haben müssen. Beide Seiten müssen akzeptieren, dass beide hier sind und niemand weggeht.
MW: Glauben Sie, dass die Hamas weggeht?
KL: Leider glaube ich, dass sie bleibt. Sie ist viel zu stark und hat nun angefangen, auch im Westjordanland und Jerusalem ihren Einfluss auszuweiten. Alles, was am Tempelberg passiert, hat auch mit der Hamas zu tun. Das ist leider die Realität und wir müssen auf die eine oder andere Art mit der Hamas sprechen.
MW: Aber wie Sie eben sagten, sagt die Hamas, dass sie niemals Juden in diesem Land akzeptieren wird. Glauben Sie, dass sie ihre Meinung ändert?
KL: Zuerst muss sie ihre Meinung ändern und dann können wir mit ihnen sprechen. Vorher können wir das gar nicht. Sie müssen begreifen, dass wir hier sind und bleiben.
MW: Dass die Juden nicht gehen werden, haben sie noch nicht begriffen?
KL: Das haben sie noch nicht begriffen. Es tut mir auch wirklich weh, die armen Leute in Gaza zu sehen, weil ich weiß, dass sie unter einer schrecklichen, faschistischen Regierung stehen. Sie dürfen nicht sagen, was sie wollen.
Vor vielen Jahren hatte ich ein Projekt mit palästinensischen Lehrern im Gazastreifen. Wir haben eine Brücke gebaut zwischen israelischen und palästinensischen Kindern. Wir haben gemeinsame Projekte gemacht. Im privaten Raum haben mir viele der Lehrer aus dem Gazastreifen erzählt, wie schwer es ist, unter der Hamas zu leben, dass sie nicht sagen dürfen, was sie wollen und sie, wenn sie es doch tun, erschossen werden.
Das erklärt auch, wie die Hamas Raketen von zivilen Gebäuden schießt. Die Hamas benutzt die armen palästinensischen Einwohner als Schutz für ihre Raketen, weil sie weiß, wir werden diese Gebäude nicht bombardieren, wenn dort Zivilisten sind.
MW: Wird die Hamas irgendwann in der Zukunft einsehen, dass die Juden bleiben?
KL: Ich hoffe das, obwohl ich weiß, dass es nicht möglich ist. Ich bin ein bisschen zu optimistisch, ich weiß. Aber ich glaube wirklich an Frieden. Ich glaube, dass am Ende alle Leute ihre Leben friedlich leben wollen, ohne Krieg. Und das will die arme Frau und der Mann und das Kind im Gazastreifen bestimmt auch. Nur die Regierenden machen es falsch.
Man muss eine Lösung finden, und es muss klar sein, dass zwei Völker zusammen wohnen, nebeneinander, es gibt keine andere Lösung. Israel will Gaza gar nicht. Deswegen haben wir Gaza verlassen. Wir wollen gar nicht dort sein. Wir hatten sechs oder sieben Siedlungen im Gazastreifen, ich war immer dagegen. Man sollte nicht im Gazastreifen wohnen.
Als Soldat musste ich diese Dörfer schützen. Ich habe das nie verstanden: Warum muss ich – ich bin dagegen – nach Gaza fahren und diese Dörfer schützen? Diese Juden sollen da raus, dieses Land gehört uns gar nicht. Man soll es den Palästinensern zurückgeben. Deswegen war ich sehr froh, als wir 2005 aus dem Gazastreifen rausgekommen sind. Und ich habe wirklich geglaubt: Jetzt werden wir vielleicht Frieden haben. Und dann ging alles bergab, als die Hamas die Regierung übernommen hat.