Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz fanden zwei gigantische Veranstaltungen statt, die eine in Jerusalem in der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem, die andere in Auschwitz, am Ort des Grauens. Die Veranstaltungen selbst waren in ihrer Konzeption verschieden, trotzdem gab es Gemeinsamkeiten. Beide waren international und hochkarätig besetzt, logistisch komplex und ungeheuer budgetintensiv. Beobachter fragen nun nach dem Sinn dieser aufwandreichen Zeremonien.
Den Anfang im Veranstaltungsduo machte das World Holocaust Forum in Yad Vashem. Könige und Staatsoberhäupter aus 46 Ländern kamen nach Jerusalem. Es gab ergreifende Reden, bei denen gelobt wurde, die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten und dem wachsenden Antisemitismus mit aller Macht entgegenzutreten.
Besonderes Augenmerk galt dem deutschen Staatspräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der als einziger Staatsmann außer seinem israelischen Pendant und Vertretern der alliierten Streitkräfte eine Ansprache halten durfte. Applaus bekam er dafür, dass er sich zur historischen Schuld Deutschlands bekannte und eindringlich vor dem wiederaufkeimenden Antisemitismus in seinem Land warnte.
Zuseher reagierten auch gerührt auf den Auftakt seiner Rede, weil er auf Hebraïsch das „Schehechejanu“ deklamierte. Mit diesem Segensspruch wird Dankbarkeit dafür bekundet, dass man einen bestimmten Moment erleben darf. Was Steinmeier damit zum Ausdruck bringen wollte? Neben der allgemeinen Freude über den Triumph über das Böse wohl auch die eigene Erleichterung über das Wohlwollen, das ihm nun an diesem Ort entgegenwehte.
Vergeben und vergessen?
Wenig Erleichterung gewährte indes Israels Oberrabbiner Emeritus Israel Meir Lau, der das Konzentrationslager Buchenwald im Alter von acht Jahren auf wundersame Weise überlebt hat. Man mahne ihn immer wieder, so Rabbiner Lau, doch endlich zu vergeben und zu vergessen.
Er könne nicht vergeben, dazu fehle ihm das Mandat. Und vergessen? Wie könne er jemals vergessen? Als er seine Mutter zum letzten Mal gesehen hatte, da habe sie ihn nicht gebeten, zu vergessen. Im Gegenteil, sie habe ihn gemahnt, sich stets seiner Ursprünge zu besinnen und die jüdische Ahnenkette ungebrochen fortzusetzen.
Relativ wenig Aufmerksamkeit erhielt die Ansprache von Moshe Kantor. Dabei war sie geradezu akribisch strukturiert. Drei Punkte nur, so erklärte der Veranstaltungsorganisator und Chef des European Jewish Congress, wolle er ansprechen: Erstens, dass der Antisemitismus eine Bedrohung für die gesamte Menschheit und nicht nur für Juden darstelle; zweitens, dass er sich in diversen Formen ausbreite, und drittens, dass praktische Schritte gesetzt werden müssten, um dieser Bedrohung entgegenzuwirken.
Kantor gab denn auch gleich drei Lösungsansätze vor. Erstens ginge es darum, Kinder bereits frühzeitig über den Holocaust und die Gefahren von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass aufzuklären. Zweitens müsse man wirksame Gesetze gegen Antisemitismus einführen. Und drittens müsse man diese auch konsequent vollstrecken.
Zwei Konkurrenzveranstaltungen?
Waren bei dem World Holocaust Forum in Yad Vashem nur sehr wenige Überlebende geladen – was der Veranstaltung auch einige Kritik einbrachte – so standen die Überlebenden bei der Zeremonie in Auschwitz, die am vergangenen Montag stattfand, im Mittelpunkt.
Hier sprachen außer dem Veranstalter, dem Präsidenten des World Jewish Congress Ronald Lauder, ausschließlich Überlebende. Und während in Jerusalem führende Persönlichkeiten mit ernsthaften Auftritten an den Verstand der Zuhörer appellierten, trafen die Worte der Betroffenen das Publikum in Auschwitz mitten ins Herz.
Ganz unterschiedlich war denn auch das Ambiente – bang, still und vergangenheitserfüllt in Auschwitz; entschlossen und zukunftsorientiert in der Hauptstadt des jüdischen Staates.
Überhaupt schienen die beiden Veranstaltungen, die ja dem gleichen Zweck dienten, in einem gewissen Konkurrenzverhältnis zueinander zu stehen. Eine Tatsache, die auch dadurch zum Ausdruck kam, dass die beiden Initiatoren, Moshe Kantor und Ronald Lauder nicht an der Zeremonie des jeweils anderen teilnahmen.
Die Frage nach dem Sinn
Kritische Beobachter fragen, welchen Sinn gleich zwei Mega-Veranstaltungen machen. Manche werfen den Veranstaltern und einigen prominenten Teilnehmern vor, den Holocaust für eigene Zwecke zynisch instrumentalisiert zu haben. Andere wenden ein, es wäre angemessener den Löwenanteil dieses Geld- und Arbeitsaufwands den Überlebenden zukommen zu lassen, die teilweise in schwierigsten finanziellen Verhältnissen leben.
Wieder andere sind überzeugt, dass die kolossalen Veranstaltungen erforderlich sind, um die Erinnerung, die mit der schrumpfenden Anzahl an Zeitzeugen zu verblassen droht, wachzuhalten, führende Persönlichkeiten in den Kampf gegen den Antisemitismus einzuspannen, und bedeutungsvolle Maßnahmen zu setzen.
Erste Anzeichen, die letzteren Gedankengang bestätigen, scheint es bereits zu geben: Letzten Montag etwa stimmte das US-Repräsentantenhaus für die Verabschiedung der „Never Again Education“-Gesetzesvorlage zur Förderung der Holocaust-Erziehung in Amerika. Sie sieht die Gründung eines umfangreichen Programms zur Vergabe von Holocaust-Bildungsstipendien vor. „Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz-Birkenau wollen wir uns erneut dem Versprechen von ‚Never Again’ verpflichten“, erklärt dazu Carolyn Maloney, Abgeordnete aus New York.
„In die Welt hinausschreien“
Was aber denken die unmittelbar Betroffenen? Meine Mutter, die selbst als junges Mädchen Auschwitz überlebt hat, begrüßt die Veranstaltungen. „Als wir befreit wurden“, erklärte sie mir, „haben wir uns das gewünscht – dass man in die Welt hinausschreit, was man uns angetan hat.“ In diesem Jahr wurde ihr dieser Wunsch erfüllt.