Noch besteht die vage Hoffnung, dass Washington, sich angesichts der Gefahren eines Besseren besinnt. Von den Europäern irgendetwas zu erwarten, wäre nur Ausdruck von Naivität oder grenzenloser Dummheit.
Gerade, es ist der Abend des Tages, an dem der türkische Präsident den militärischen Einmarsch in Nordostsyrien befahl, melden lokale Quellen die ersten Toten aus der Stadt Quamishli. Sie sollen entweder türkischen Bomben oder Artilleriebeschuss zum Opfer gefallen sein. Von vielen Menschen sowohl auf syrischer als auch türkischer Seite, die versuchen zu fliehen ist ebenfalls die Rede. Und das ist nur der erste Tag einer Invasion, die bis vergangenen Sonntag, als der US-Präsident in einem Telefonat mit seinem türkischen Kollegen völlig überraschend mehr oder weniger grünes Licht gab, in dieser Form kaum vorstellbar war.
Kritik von Demokraten und Republikanern
Zu Recht wird Donald Trump deshalb nicht nur von der Opposition in den USA, sondern auch aus den Reihen der Republikaner scharf kritisiert. Die Entscheidung käme nicht nur einem Verrat an den engen Verbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat gleich, sie sei zugleich eine außen- und sicherheitspolitische Torheit, die ihresgleichen suche und verspiele zugleich auf Jahre jedwede Glaubwürdigkeit der USA.
Es sind scharfe Worte, die selbst von ansonsten engen Verbündeten des Präsidenten kommen und jedes möchte man sofort unterschreiben. Ob Senator Lindsey Graham, die ehemalige UN-Botschafterin Nikki Haley oder der Ex-Koordinator der Anti-IS Koalition Bratt McGurck. Ihren Twitter-Accounts war förmlich das Entsetzen abzulesen, mit dem sie die Meldungen aus dem Weißen Haus aufgenommen haben müssen. Egal allerdings ob aus Politik oder Presse, dieses Entsetzen war kein Ausdruck hilfloser Ohnmacht, sondern Kritik an einer falschen, vermutlich im Affekt getätigten Entscheidung des US-Präsidenten, die auch hätte anders ausfallen können.
Kritisiererei aus Europa
Und damit unterscheidet sie sich fundamental von der weitgehend völlig zahnlosen Kritisirerei, die zeitgleich in Deutschland und anderen europäischen Ländern zu hören war. Denn anders als die USA haben längst die Europäer jedwede Fähigkeit aufgegeben oder eingebüßt in Syrien und anderswo im Nahen Osten noch irgendetwas zu bewirken. Sicher, einige französische, britische und andere Truppen sind im Norden Syriens stationiert, aber ansonsten spielt Europa in der Region kaum noch eine Rolle, außer als Waffenlieferant und Handelspartner.
Etwas hohl wirkt deshalb die Pose der Trump-Kritiker, die jetzt dem US-Präsidenten Verrat an den Kurden vorwerfen oder vor einer neuen Eskalation warnen. Tage bevor der türkische Präsident den Marschbefehl gab, weilte etwa noch der deutsche Innenminister Horst Seehofer in Ankara und lobte die Türkei als Partner in der Flüchtlingspolitik. Worum es dabei ging war nur allzu offensichtlich: Erdogan möge bitte alles unternehmen, damit nicht weitere zehntausend Flüchtlinge in das nahe gelegene Griechenland übersetzen.
Es geht um den Flüchtlingspakt
Denn darum geht es vor allem und zuallererst. Möge sich ja kein 2015 wiederholen. So besessen von den damaligen Bildern ist die deutsche Politik, dass einem Vertreter der FDP zum türkischen Einmarsch nur einfiel, der sei gefährlich, weil er einen „neuen Flüchtlingsansturm“ auslösen könnte. Die Angst scheint so lähmend zu sein, dass selbst einfache Tatsachen nicht mehr zu ihnen vordringen, zum Beispiel, dass – befragt man Neuankömmlinge in griechischen Auffanglagern – die Mehrheit berichtet, sie seien jetzt übergesetzt, weil sie Angst hätten, von der Türkei nach Syrien und Afghanistan abgeschoben zu werden. Würde die Türkei nicht in großem Maße Flüchtlinge zwangsweise rückführen, es gäbe nicht derart viele, die nun nach Europa kämen.
Kritik an der Türkei fällt in Europa ohnehin fast so zaghaft aus, wie ansonsten nur gegenüber dem Iran. Man „warnt“, „zeigt sich besorgt“, ruft alle Seite zu irgendwas auf, und das war es dann in etwa auch schon. Selbst der Versuch, eine gemeinsame, zaghafte Verurteilung der Türkei, die doch ohne Konsequenzen geblieben wäre, auf den Weg zu bringen, scheiterte in Brüssel und zwar ausgerechnet an Ungarn, das sein Veto gegen sie einlegte. Die Orban-Regierung schien sich treu bleiben zu wollen: Muslime bedrohen das Abendland nur wenn sie als Flüchtlinge kommen, mit autokratischen Regimes im Nahen Osten dagegen unterhält Budapest enge und lukrative Beziehungen.
Derweil erklärte die Regierung in London, man wolle die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Ankara nach dem Brexit weiter ausbauen und vertiefen.
Niemand nimmt Europa noch ernst
So haben die Europäer schon am ersten Tag verdeutlicht, dass sie einmal mehr mahnend und warnend zusehen werden, wie ein weiterer Teil Syriens in den Sog des Krieges gezogen wird. In ihrer Hilflosigkeit fast absurd wirken deshalb auch die Appelle an EU und Bundesregierung, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um dem Einmarsch Einhalt zu gebieten. Sie wollen es nicht einmal und selbst wenn, könnten sie es nicht, denn seit Jahren – spätestens aber seit Europa sich in Syrien als völlig unfähig erwiesen hat, irgendwie auf das blutige Geschehen Einfluss zu nehmen – nimmt die EU in der Region ohnehin niemand mehr ernst. Ob in Teheran, Damaskus oder jetzt Ankara, alle wissen genau, wie man mit den Europäern umzuspringen hat.
So berechtigt und richtig also Kritik an Trumps katastrophaler Entscheidung ist – dass das Schicksal Nordsyriens überhaupt derart von der Laune eines launenhaften US-Präsidenten abhängt, ist zuallererst dem völligen Versagen europäischer Außenpolitik zu verdanken. Man mag von Trump halten, was man will, ihm ist leider an einem Punkt zuzustimmen: Europa überlässt es völlig den USA (und auf der anderen Seite Russland und dem Iran) das Geschick einer Region zu bestimmen, die gerade einmal vier Flugstunden von vielen europäischen Hauptstädten entfernt liegt.
Ob der gefürchtete Flüchtlingsansturm, der ihnen schlaflose Nächte bereitet oder islamistischer Terrorismus: Europa ist davon viel unmittelbarer betroffen als die USA es je sein werden. Vergisst man also das Geschwätz von „menschenrechtsorientierter Außenpolitik“ und Verantwortung, an das eh niemand mehr glaubt, vergisst man, dass die EU immerhin Friedensnobelpreisträger ist und sich gerne Werteunion nennt, und blickt nur auf unmittelbare Sicherheitsinteressen, stellt sich die Frage, wie man es erneut soweit hat kommen lassen. Eine Antwort wird es wohl nicht geben, stattdessen lauwarme Erklärungen und die notorischen Warnungen, die niemand mehr hören kann und möchte.
Neuer Aufschwung für den Islamischen Staat?
Derweil scheint es im berüchtigten Al-Hol Lager für gefangene IS-Kämpfer und ihre Angehörigen, in dem tausende Europäer einsitzen, und das von Einheiten der kurdischen YPG bewacht wird, zum Aufstand gekommen zu sein. Die Bewacher werden vermutlich bald an die Front verlegt, das Lager sich selbst überlassen. Und es könnte, fürchten schon jetzt Sicherheitsexperten, zur Keimzelle eines neuen IS-Kalifates in der Region werden. Denn der IS ist keineswegs militärisch besiegt, nur das Kalifat wurde zerschlagen, Abertausende von Kämpfern, die überlebt haben, warten, dass ihre Stunde erneut schlägt.
Anders als die Bewohner Nordostsyriens oder Rojavas, die in diesen Stunden vor der vorrückenden türkischen Armee fliehen und zu Unrecht gehofft hatten, dass der Bürgerkrieg in Syrien sie verschone, haben diese IS-Milizionäre allen Grund, neuerdings wieder voller Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Nur Narren nämlich werden sich wundern, wenn die Jihadisten in einigen Monaten wieder Teile Syriens und des Irak kontrollieren. Dieselben Leute also, die sich jetzt überrascht auch zeigen, dass der Syrienkrieg keineswegs beendet ist, und sie es stattdessen sogar mit einer neuen „Flüchtlingskatastrophe“ zu tun haben.
Noch besteht, wenn auch die vage, vermutlich verzweifelte Hoffnung, dass in Washington irgendein Umdenken einsetzen möge, der Druck auf Trump wächst, noch irgendetwas zu tun, um dem sich abzeichnenden blutigen Desaster Einhalt zu gebieten. Von den Europäern dagegen irgendetwas zu erwarten, wäre nur Ausdruck von Naivität oder grenzenloser Dummheit.