Wochenbericht, 30.4. bis 6.5.2012

Die Nahostberichterstattung österreichischer Tageszeitungen wies in der vergangenen Woche gleich mehrere Besonderheiten auf. Einerseits war ungewöhnlicher Weise der Kurier die Zeitung mit den meisten relevanten Beiträgen. Andererseits, und nicht weniger ungewöhnlich, war dieses Mal Libyen das Land, über das am meisten zu lesen war. Aufschlussreich war schließlich auch noch, worüber so gut wie nichts berichtet wurde.

Allgemeiner Überblick

Seit MENA im letzten November damit begann, die Nahostberichterstattung österreichischer Tageszeiten systematisch auszuwerten, fanden sich die meisten relevanten Artikel stets im Standard oder in der Presse. In der vergangenen Woche war dies zum ersten Mal anders, denn diesen Spitzenplatz belegte der Kurier:

Wochenbericht, 30.4. bis 6.5.2012

Interessant ist der Blick darauf, welche Länder im Fokus des medialen Interesses standen, und welche nicht:

Wochenbericht Tabellen - Wochenbericht - 7Mai12 - Tab2

Bevor wir uns den drei Ländern widmen, über die am meisten berichtet wurde, sollten wir uns zumindest noch kurz mit zwei anderen Ländern beschäftigen.

Der UN-Sondergesandte für Syrien, Kofi Annan, wusste zuletzt von „Fortschritten bei der Umsetzung seines Friedensplanes“ zu berichten (Standard, 5./6. Mai 2012) – und blieb mit dieser Einschätzung allein auf weiter Flur. Sollte der von Annan ausgehandelte Waffenstillstand überhaupt je existiert haben, so ist er längst zusammengebrochen. Während das Blutvergießen in Syrien also weitergeht, scheint die blamable politische Ratlosigkeit des Auslands zu medialem Desinteresse zu führen. In den fünf von MENA ausgewerteten Tageszeitungen wurde Syrien in der gesamten letzten Woche in gerade einmal zehn Beiträgen erwähnt. Im Standard erschien ein einziger längerer Bericht. Abgesehen davon herrschte weitestgehend Schweigen – fünf Kurzmeldungen im Kurier, eine in der Kleinen Zeitung, eine in der Krone, gar nichts (!) in der Presse.

Während über Syrien also so gut wie nicht berichtet wurde, sorgte Saudi-Arabien für Schlagzeilen. Verantwortlich dafür war weniger die Meldung, dass die saudische Religionspolizei scharf gegen Kindervorführungen der Schlümpfe vorgeht, weil darin „unerlaubte“ Musik gespielt werde (Kurier, 1. Mai 2012), als vielmehr eine Stellungnahme des saudischen Großmuftis, wonach Mädchen im Alter von zehn Jahren nach islamischem Gesetz schon reif für die Ehe und bereit „für alle ehelichen Pflichten“ seien. (Kleine Zeitung, 4. Mai 2012) Der gleiche Großmufti hatte erst im März dazu aufgerufen, alle Kirchen auf der Arabischen Halbinsel zu zerstören. (Presse, 20. März 2012) Für Österreichs Außenamt sind das alles aber offenbar keine Gründe, die Errichtung des ausgerechnet unter saudischer Patronanz stehenden „Internationalen Zentrums für interreligiösen und interkulturellen Dialog“ in Wien noch einmal zu überdenken. Denn wie am Donnerstag bekannt wurde, hat Außenminister Spindelegger gerade Ex-Justizministerin Claudia Bandion-Ortner zur Vize-Generalsekretärin dieser Institution berufen. Für Kritik an einem Zentrum des „interreligiösen Dialogs“, das von einem Land finanziert wird, dessen Großmufti Kirchen niederreißen möchte und in dem für „Gotteslästerung“ die Todesstrafe droht, hat Bandion-Ortner kein Verständnis: „Das ist ein Dialogzentrum, das hat mit Politik nichts zu tun“ (Presse, 3. Mai 2012), sagt sie mit einer Naivität, die deutlich macht, warum sie für diesen Versorgungsposten bestens geeignet ist.

Libyen

Warum Libyen in dieser Woche die meiste Aufmerksamkeit erregte, ist nicht schwer zu erklären. Zum einen gab es erneut Meldungen darüber, dass Gaddafi vor fünf Jahren Geld für den Präsidentschaftswahlkampf von Nicolas Sarkozy locker gemacht habe. Dabei handelte es sich zwar nicht gerade um Neuigkeiten, aber so wenige Tage vor der entscheidenden Stichwahl um die französische Präsidentschaft sorgten die Gerüchte selbstverständlich für einiges Aufsehen. (Presse, 30. Apr. 2012; Kurier, 30. Apr. 12; Kronen Zeitung, 30. Apr. sowie 1. Mai 2012)

Die meisten Schlagzeilen galten jedoch einer anderen Geschichte: Ein ehemals hochrangiger Vertreter einer Diktatur, der sich spät aber doch zu einem Seitenwechsel durchringen konnte und dann eines schönen Morgens im Exilland seiner Wahl tot im Wasser treibend aufgefunden wird (Standard, 30. Apr. 2012; Kurier, 30. Apr. 2012, Kronen Zeitung, 30. Apr. 2012) – das ist genau die Mischung aus Politik, Spannung und (vielleicht) Kriminalität, die bei den Medien hektische Betriebsamkeit auslöst.

Ob Shukri Ghanem, libyscher Ex-Premier, Ölminister sowie Vertreter seines Landes bei der OPEC in Wien, Opfer eines Verbrechens wurde oder nicht, ist bis heute nicht geklärt. Die zunächst von seinen Angehörigen verbreitete Theorie, dass Ghanem wahrscheinlich einem Herzinfarkt erlegen sei, war jedenfalls nach der Obduktion widerlegt, in der eindeutig Ertrinken als Todesursache festgestellt wurde. (Kurier, 3. Mai 2012) „Was bleibt, ist ein im Islam verpönter Selbstmord, ein plötzlicher Schwächeanfall oder gar ein vertuschter Mordanschlag durch einen ausländischen Geheimdienst“, wusste die Krone zu berichten (1. Mai 2012), ganz als ob es sich bei Selbstmordverbot um eine Besonderheit des Islam handeln würde. Doch wie nicht anders zu erwarten war, regte vor allem die These vom vertuschten Mordanschlag die Phantasie der Journalisten an. „Warf jemand den 69-Jährigen absichtlich in die Donau – vollgepumpt mit Drogen oder Medikamenten“, fragte die Krone, um in Klammer hinzuzufügen: „die toxikologische Untersuchung steht noch aus“. (Ebd.) „Toter Libyer wusste alles über die Milliarden Gaddafis“, titelte der Kurier in großen Lettern und führte dann im Blattinneren aus: „Motive für einen Mord muss man nicht lange suchen – Shukri Ghanem hatte viele Feinde“. Zu diesen Feinden zählte der Kurier die übrig gebliebenen Anhänger Gaddafis, die Ghanem „mit der Flucht nach Wien vor den Kopf gestoßen“ habe, ebenso wie „die neuen Herren in Libyen“, für die er „zu tief in die Machenschaften des alten Regimes verwickelt“ war. (Kurier, 3. Mai 2012) Aber auch seine geschäftlichen Tätigkeiten in Wien könnten mit dem Tod Ghanems in Zusammenhang stehen. (Kurier, 4. Mai 2012) Und wie immer, wenn hierzulande die Verschwörungstheorien ins Kraut schießen, durfte auch in diesem Fall der übliche Verdächtige schlechthin nicht fehlen: „Die zurückhaltende Informationspolitik der heimischen Justiz kurbelte international die Spekulationen an. Sogar der israelische Geheimdienst Mossad wird ins Spiel gebracht. ‚Wenn es ein Mord war, dann sicher ein ganz heimtückischer und gut geplanter‘, heißt es aus Polizeikreisen“ (Kurier, 3. Mai 2012.) – wenn Morde nicht nur „gut geplant“, sondern darüber hinaus auch noch „ganz heimtückisch“ sind, dann sind traditionell eben die Juden schuld.

Türkei

Die Türkei war das in österreichischen Zeitungen am zweithäufigsten genannte Land. Dafür verantwortlich war einerseits die fast übliche Türken-Hetze der Kronen Zeitung. Diesmal wusste sie über aufeinander losgehende „Horden“ von Serben und Türken (Kronen Zeitung, 30. Apr. 2012), „Serben- und Türkenrowdys“ (Kronen Zeitung, 1. Mai 2012) und die „Grillsaison für Multikulti“ bei der „Türkenkolonie“ auf der Wiener Donauinsel (Kronen Zeitung, 4. Mai 2012) zu berichten.

Andererseits bot der internationale Tag der Pressefreiheit am 3. Mai die Gelegenheit, auf die Besorgnis erregende Situation von Journalisten in der Türkei hinzuweisen, in der sich im Augenblick rund 100 Journalisten in Haft befinden. (Presse, 2. Mai 2012) Die renommierte, mittlerweile im Exil in Tunesien lebende Journalistin Ece Temelkuran spricht in diesem Zusammenhang von einer „Dubaiisierung“ der Türkei: „Kritik von Minderheiten oder Opponenten soll – wie im Golfemirat – zum Verstummen gebracht werden.“ Die Selbstwahrnehmung der Türkei als Regionalmacht habe zur Folge, dass „die EU-Annäherung als Zukunftsperspektive für das Land an Relevanz verloren hat.“ Das würden als erstes die Minderheiten zu spüren bekommen: „Kurden und Armenier fühlen sich im Stich gelassen. Der Druck von außen auf die Regierung hat leider nachgelassen.“ (Presse, 3. Mai 2012)

Im Kurier wurde Temelkuran noch deutlicher: Es gebe Tausende politische Gefangene, die mit obskuren Begründungen inhaftiert worden seien. Für Europa scheint in der Türkei unter der Herrschaft der „moderaten Islamisten die Demokratie zu blühen“. Doch die Realität sehe anders aus: Das Land bewege sich nicht in Richtung Demokratie. „Demokratie in der Türkei ist eine große Lüge!“, so das Urteil Temelkurans. (Kurier, 3. Mai 2012)

Ägypten

Nachdem sich das Chaos rund um die Disqualifizierung von zehn Kandidaten für die Präsidentschaftswahl, darunter die aussichtreichsten Bewerber der Muslimbruderschaft und der Salafisten, kaum gelegt hat, kam es zu Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes in Kairo über mehrere Tage hinweg zu schweren Ausschreitungen mit etlichen Toten. (Standard, 5./6. Mai 2012) Allein bei einem Angriff bewaffneter Schläger auf eine Demonstration von Salafisten kamen über zwanzig Menschen ums Leben. (Presse, 3. Mai 2012, Kurier, 3. Mai 2012)

Während der Demonstrationen zu Beginn des letzten Jahres wurden die Salafisten in westlichen Medien zwar oftmals als religiöse Eiferer und Anhänger eines „Steinzeit-Islam“ präsentiert, doch wurden ihnen politische Ambitionen abgesprochen. Mittlerweile hat sich das Bild zumindest mancherorten ein weinig der Realität angepasst. So schrieb Martin Gehlen zuletzt über die „rauflustigen Hardliner“: „Seit der Revolution machten sie dann plötzlich durch radikale politische Forderungen und Gewalttaten von sich reden.“ (Kleine Zeitung, 6. Mai 2012)

Nach dem Gewinn von einem Viertel der Stimmen bei den Parlamentswahlen stellte die Disqualifizierung des salafistischen Präsidentschaftskandidaten Hazem Abu Ismail einen ersten Rückschlag dar. War zunächst unklar, wie sie darauf reagieren würden, überraschten die Salafisten der al-Nour-Partei mit der Ankündigung, bei den Präsidentschaftswahlen nun nicht den Kandidaten der Muslimbrüder zu unterstützen, sondern den als „moderat“ geltenden Ex-Muslimbruder Abdel-Moneim Abul-Futtuh. Mit dieser taktischen Entscheidung wollen sie der starken Dominanz der Muslimbrüder entgegenwirken. (Presse, 30. Apr. 2012)

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